51. Una
Una müsste erleichtert sein, nun, da ihre Verpflichtung gegenüber Pivane vorüber ist und ihre ungeladenen Hausgäste sie verlassen. Doch es belastet sie, allein zu sein mit dem Wissen, was mit Wils Händen geschehen und wo seine Begabung geblieben ist – ein Wissen, das sie mit niemandem teilen kann. In ihrem Alltag wird sich wieder die Normalität einstellen, aber für Una wird es nie wieder sein, wie es war.
Sie wünschte, ihre Eltern wären hier oder die Alte Lenna, ihre Mentorin, die ihr die Gitarrenwerkstatt überlassen hat. Doch sie haben sich wie alle Rentner aus dem Glücksvolk nach Puerto Peñasco zurückgezogen, einer Stadt an der Cortés-See. Vielleicht könnte Una trotz ihrer neunzehn Jahre ebenfalls ihre Sachen packen, sich dorthin zurückziehen und ihre Tage wie eine alte Witwe verbringen, die in Wahrheit nie die Gelegenheit hatte, zu heiraten.
Die Tashi’nes wollen ihre Gäste bei Einbruch der Dunkelheit abholen. Dann wird Una wieder ganz allein sein. Cam geht nun auch mit. Una dachte, dass sie ihn noch eine Weile hier behalten würde, ehe sie ihn in die Welt hinausschickt, aber er wird die anderen begleiten.
An diesem Nachmittag ist sie mit der Herstellung einer neuen Gitarre aus Atlasholz beschäftigt, deren Zargen sie von Hand biegt und einspannt. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hört sie Musik aus dem Keller.
Es kann nur Cam sein, und sosehr sie es auch versucht, sie kann es nicht einfach ignorieren. Sie öffnet das Schloss und geht langsam nach unten.
Cam sitzt auf einem Stuhl und spielt auf einer alten Flamenco-Gitarre, die er in einer Ecke des Kellers gefunden und gestimmt haben muss. Die Klänge des alten Instruments scheinen allen Sauerstoff aus dem Raum zu ziehen. Una bleibt die Luft weg. Die Melodie ist voller Energie, Zorn und Bedauern, doch auch friedliche Entschlossenheit schwingt mit. Wil hat sie in seinem Leben nie gespielt, doch die Komposition trägt eindeutig seine Handschrift.
Cam ist vertieft in die Musik und blickt nicht auf, doch er weiß, dass Una da ist. Er muss es wissen. Sie sagt nichts, denn Worte würden den Bann brechen, den Wils Finger auf die Saiten zaubern. Cam lässt die Musik anschwellen, hält den vorletzten Akkord und lässt das Lied mit dem letzten ausklingen, der in jedem Hohlraum des Kellers widerhallt, der selbst in dem tiefen Loch nachschwingt, das in Una klafft. Die Stille, die folgt, ist so wichtig wie die Musik, die ihr voranging, ist Teil des Stücks. Una mag diese Stille nicht durchbrechen.
Schließlich sieht Cam sie an. »Das habe ich für dich geschrieben«, sagt er. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ist schwer zu deuten. Wie Una ist er von den Gefühlen erfüllt, die in dem Lied mitschwangen.
Auf unerklärliche Weise ist Una verletzt. Wie kann er es wagen, mit seiner Musik so tief in sie einzudringen? Seine Musik, denn Cam hat seine Seele über Wils gelegt. Etwas Neues ist entstanden, geschaffen auf einem von Monstern errichteten Fundament.
»Hat es dir gefallen?«, fragt er.
Was soll sie darauf antworten? Die Musik war nicht nur für Una, sie war Una, jede Faser ihres Seins, destilliert in Harmonie und Dissonanz. Genauso gut hätte er fragen können, ob sie sich gefällt, eine Frage, die mittlerweile genauso kompliziert ist.
Statt zu antworten, sagt sie mit erstickter Stimme: »Versprich mir, dass du das nie wieder spielst.«
Cam ist von ihrer Bitte überrascht. Er überlegt und sagt dann: »Ich verspreche, dass ich es für niemanden spiele außer für dich.« Dann legt er die Gitarre hin und steht auf. »Auf Wiedersehen, Una. Dich kennenzulernen, war …« Er zögert, sucht nach dem richtigen Wort. »Notwendig. Wahrscheinlich für uns beide.«
Una fühlt sich gegen ihren Willen angezogen von seinem Kraftfeld wie schon vor Tagen, als er erstmals in ihrem Laden auftauchte. Jetzt kann sie dem Sog nicht widerstehen. Sie tritt näher an ihn heran. Den Blick fest auf seine linke Hand gerichtet, ergreift und streichelt sie sie. Dann wandert ihr Blick zu seiner rechten Hand, und sie nimmt auch diese. Ohne aufzublicken, verflicht sie ihre Finger mit den seinen.
»Du wirst mich doch nicht wieder mit einem Stein niederschlagen, oder?«, fragt er.
Sie schließt die Augen, verinnerlicht die Berührung mit den Händen, die sie noch immer so liebt. Sie führt seine Hand zu ihrem Gesicht, und er streichelt ihr die Wange. Wieder spürt sie das wohlige Schaudern, und diesmal lässt sie das Gefühl zu, obwohl sie sich gleichzeitig dafür hasst.
Als sie ihm schließlich in die Augen sieht, ist sie wider Erwarten erschrocken, dass es die Augen eines Fremden sind. Und als sie ihn küsst, weiß sie auch, dass sie die Lippen eines Fremden küsst. Wie kann seine Musik so eng mit ihrer Seele verwoben sein, obwohl der Rest von ihm abgekoppelt ist? Abgetrennt. Sie dürfte das hier nie zulassen, kann aber die unrechtmäßig erworbenen Hände nicht loslassen. Und fast genauso schwer fällt es ihr, sich von seinem Kuss zu lösen.
»Wenn du gehst«, sagt sie, »komm nie zurück.« Und dann flüstert sie ihm voller Verzweiflung ins Ohr: »Ich hasse dich, Camus Comprix.«