62. Connor

Das ändert alles.

Connors erste Begeisterung bei Risas Anblick wurde rasch von der Realität eingeholt. Nicht der Realität Cams, sondern der Realität ihrer Situation. Nun, da Risa bei ihnen ist, ist sie nicht mehr in Sicherheit. Connor hat sich nach ihr gesehnt, das steht völlig außer Frage. All die Monate hat er sich danach verzehrt, ihre Stimme zu hören, von ihren Worten getröstet zu werden. Er hat sich gewünscht, ihr die Beine zu massieren, obwohl sie nicht mehr gelähmt war. Seine Gefühle zu ihr waren unverändert. Sogar als er vermuten musste, dass sie ihre Sache verraten hatte und sich als öffentliche Stimme für die Umwandlung missbrauchen ließ, wusste er tief in seinem Innern, dass sie zu so etwas von sich aus nie fähig gewesen wäre.

Dann, als sie live im Fernsehen erklärte, es sei alles nur gespielt gewesen, und damit dem Proaktiven Bürgerforum eine schallende Ohrfeige versetzte, liebte er sie noch mehr. Anschließend verschwand sie ebenso vollständig von der Bildfläche wie Connor, und das war durchaus tröstlich. Wenn er hinaussah in die Nacht, wusste er, dass sie irgendwo da draußen ihren wachen Verstand dazu nutzte, sich in Sicherheit zu bringen.

Sicherheit aber kann Connor ihr nicht bieten. Angesichts dessen, was sie über das Proaktive Bürgerforum in Erfahrung bringen wollen – und was sie möglicherweise noch von Sonia erfahren –, ist sie mit Connor stärker gefährdet als ohne ihn. Seine Reise führt ihn jetzt mitten hinein in die Flammen, und sie wird ihn begleiten wollen.

Auch Cams Worte hallen in seinem Kopf wider. »Ich bin der Bessere von uns beiden, weil ich dafür gemacht wurde.«

Doch ungeachtet seiner ach so außerordentlichen Intelligenz ist Cam einfach nur ein Idiot, wenn er meint, hier ginge es nur um Eifersucht. Ja, natürlich vernebelt die Eifersucht alles ein wenig, doch der Wettstreit um Risas Zuneigung kommt Connor kleinlich vor verglichen mit der Notwendigkeit, sie vor ihnen beiden zu schützen.

Während Connor mit Dierdre auf dem Wohnzimmerboden spielt, bemüht er sich, seine Wut abzukühlen. Wut hilft jetzt nicht. Eifersucht würde ihn nur ablenken.

Dierdre legt sich auf den Boden und strampelt mit den Füßchen vor seiner Nase herum.

»Ringel – Ringel – Rooosen, söne Apri-kooosen!«

Nach Aprikosen riechen ihre Füße nicht gerade, sondern eher nach dem Babybrei, in den sie getreten sein muss und der in Form orangefarbener Klumpen die schwimmenden Entchen auf ihren Socken verzieren.

»Hübsche Socken«, sagt Connor, der kaum glauben kann, dass das Kind vor ihm dasselbe ist, das Risa und er von der Türschwelle der dicken Frau mit den Knopfaugen und ihrem dicken Sohn mitgenommen haben.

»Ente!«, sagt Dierdre fröhlich. »Fis!« Mit ihrem klebrigen Zeigefinger berührt sie den Hai auf seinem Arm. »Fis! Arm! Armfis!« Dann kichert sie. Das Kichern öffnet bei Connor ein Ventil und befreit ihn von seinem Frust.

»Das ist ein Hai«, erklärt er Dierdre.

»Hai!«, wiederholt das Kind. »Hai, Hai, Hai!« Dierdre setzt den Kopf einer Spielzeugfrau auf den kleinen Körper eines Feuerwehrmanns.

»Deine Mami Hai sehen?«

Connor seufzt. Kleine Kinder sind wie Katzen, die immer am liebsten den Katzenallergikern auf den Schoß springen. Dierdre hat sicher nicht die leiseste Ahnung, dass sie mit ihren Worten eine ausgemachte Nesselsucht bei ihm auslösen kann.

»Nein« erwidert er. »Meine Mami weiß nichts von dem Hai.«

»Mami simpft?«

»Keine Sorge«, sagt Connor.

»Keine Sorge«, wiederholt Dierdre und drückt einen Reifen auf den Kopf der kleinen Plastikfigur, so dass er aussieht wie ein übergroßer Sombrero.

Dierdre kann nicht wissen, dass in dem Koffer in Sonias Hinterzimmer ein Brief liegt. Es sind sogar Hunderte von Briefen. Alle wurden von flüchtigen Wandlern geschrieben, an die Eltern, die sie zur Umwandlung freigaben. Seit Connor den Koffer heute gesehen hat, stellt er sich vor, dass er diesen Brief bei seinen Eltern einwirft und von einem Versteck aus beobachtet, wie sie ihn lesen. Schon beim Gedanken daran macht Rolands Arm eine Faust. Connor stellt sich vor, er zertrümmerte damit ein Fenster und schnappte sich den Brief, ehe sie ihn lesen könnten – doch dann verscheucht er den Gedanken, löst die Faust und stellt sich innerlich wieder auf Kinderspiele ein.

Rolands Hand kann ebenso gut wie Connors Hand Legosteine zusammenbauen. Sie kann nicht nur zerstören, sondern auch Neues erschaffen.

 

Sonias Überzeugungskraft muss übermenschlich sein, denn Hannah willigt ein, ihnen Asyl zu gewähren.

»Grace kann bei Risa schlafen. Ihr Jungs müsst mit meinem Nähzimmer vorliebnehmen. Es steht eine Liege drin, die teilt ihr euch oder prügelt euch darum«, erklärt ihnen Hannah. »Damit ihr mich richtig versteht: Dieses Haus ist kein Geheimversteck. Ich mache das, weil es das Richtige ist, aber nutzt meine Gutmütigkeit nicht aus.« Sie weist sie an, sich von den Fenstern fernzuhalten und sich zu verstecken, wenn jemand an der Tür ist.

»Wir sind in der Übung«, erwidert Connor rasch. »Das ist ja alles nichts Neues für uns.«

»Für manche von uns schon.« Cam deutet auf Grace. »Wenn ich es richtig verstehe, hast du sie da mit reingezogen.«

»Ich hab mich selbst reingezogen«, erklärt Grace und erspart Connor damit eine weitere Auseinandersetzung mit Cam. »Und ich kann mich gerade so gut verstecken wie ihr.«

Sonia geht, beruhigt, weil alles geregelt ist. »Muss noch die Gremlins im Keller füttern, ehe sie auf dumme Gedanken kommen«, sagt sie. Connor weiß aus Erfahrung, dass sie das auch so tun werden.

Zwanzig Minuten später bricht ein Gewitter los, ein anhaltender, starker Regen und entfernte Blitze, die aber nicht näher zu kommen scheinen. Hannah bestellt Pizza zum Abendessen, was angesichts ihrer Situation schon fast absurd normal wirkt.

Das winzige Nähzimmer liegt im ersten Stock neben den Schlafzimmern. Die mit Rüschen besetzte Tagesdecke ist eine Beleidigung für jeden echten Mann.

»Ich schlafe auf dem Boden«, bietet Cam an, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass Risa seine selbstlose Großzügigkeit mitbekommt.

Risa grinst Connor an. »Er hat dich geschlagen.«

»Stimmt«, sagt Connor. »Das nächste Mal muss ich schneller sein.«

Cam, noch tief im Kampfmodus, findet das gar nicht lustig. Den Rest des Tages vermeidet Risa es, mit beiden gleichzeitig in einem Raum zu sein, und da Cam Connor nicht aus den Augen lässt, bekommen sie Risa nur zu sehen, als sie ihnen Decken, Handtücher und Toilettenartikel in ihr Zimmerchen bringt. »Wir haben eine ganze Sammlung davon in Sonias Keller«, sagt sie und reicht Connor die Zahnpasta und Cam eine Zahnbürste.

»Sollen wir uns die teilen?«, fragt Cam mit einem grauenhaft aufreizenden Lächeln.

Risa entschuldigt sich verlegen. »Ich suche noch eine.«

Connor hat Risa noch nie verlegen gesehen. Er würde Cam noch mehr hassen, wenn er allein daran schuld wäre, aber Connor begreift, dass es nicht nur Cam ist, sondern die Kombination aus ihnen beiden. Connor fragt sich, wie Risa sich ihm gegenüber verhalten würde, wenn Camus Comprix kein Thema wäre.

Eine Antwort erhält er nach dem Abendessen, als Cam eine Dusche nimmt.

Grace hat Spaß daran gefunden, sich mit Dierdre zu beschäftigen. Das Kichern aus dem Kinderzimmer belegt ihren Erfolg. Connor fällt es schwer, auf der staubigen Liege eine bequeme Position zu finden. Da taucht Risa in der Tür auf, bleibt aber auf der Schwelle stehen. An dem Geräusch der Dusche ein paar Türen weiter ist zu erkennen, dass Cam zumindest in den nächsten Minuten nicht stören wird.

»Kann ich reinkommen?«, fragt sie zögernd.

Connor richtet sich auf und bemüht sich, seine Nervosität zu verbergen. »Klar.«

Sie setzt sich auf den einzigen Stuhl im Raum und lächelt. »Ich habe dich vermisst, Connor.«

Das ist der Moment, nach dem Connor sich gesehnt hat. Ein Moment, den er immer im Kopf hatte, der ihm Kraft gegeben hat. Doch sosehr er ihre Zuneigung auch erwidern will, weiß er doch, dass es nicht geht. Sie können nicht zusammen sein. Er kann sie nicht mit in diese Schlacht nehmen, jetzt, wo sie endlich in Sicherheit ist. Aber er will sie auch nicht Cam in die Arme treiben.

Daher nimmt er ihre Hand, ohne sie zu drücken. »Ja«, sagt er. »Ich dich auch.« Aber seinen Worten fehlt die Überzeugung, die er in Wahrheit verspürt.

Sie betrachtet ihn eingehend, und er hofft, dass sie seine coole Fassade nicht durchschaut. »Alles, was ich gesagt habe, die Anzeigen, die Werbespots für die Umwandlung – du weißt doch, dass man mich dazu erpresst hat, oder? Sie haben gesagt, sie überfallen den Friedhof, wenn ich es nicht tue.«

»Das haben sie trotzdem gemacht«, erwidert Connor.

Nun wird sie unruhig. »Connor, du glaubst doch nicht …«

»Nein, ich glaube nicht, dass du uns verraten hast«, sagt er. So gemein kann er sie nicht in die Irre führen. »Aber in der Nacht sind eine Menge Yolos gestorben.« Am liebsten würde er sie in den Arm nehmen und ganz fest halten. Er will ihr sagen, dass nur der Gedanke an sie ihn angetrieben hat. Stattdessen fügt er an: »Sie sind gestorben. Lassen wir es dabei.«

»Als Nächstes gibst du mir auch noch die Schuld für Starkey.«

»Nein«, erklärt Connor. »Das war meine Schuld.«

Risa blickt zu Boden. Einen Augenblick sieht er, wie sich ihre Augen mit Tränen füllen, doch als sie ihn wieder anblickt, ist ihr Gesicht hart. Wieder einmal hat sie sich mit einem Panzer geschützt. »Tja, ich bin jedenfalls froh, dass du lebst«, sagt sie und zieht ihre Hand weg. »Ich bin froh, dass du in Sicherheit bist.«

»So sicher es eben geht«, sagt Connor, »wenn man bedenkt, dass ein fieser Teilepirat, das Proaktive Bürgerforum und die Jugendbehörde hinter mir her sind.«

Risa seufzt. »Wahrscheinlich werden wir nie in Sicherheit sein.«

»Du bist in Sicherheit.« Connor kann sich diese Bemerkung nicht verkneifen. »Tu mir einen Gefallen, und ändere nichts daran.«

Nun sieht sie ihn misstrauisch an. »Was soll das denn heißen?«

»Es heißt, dass du dich bei Hannah und Didi eingelebt hast. Warum solltest du das wegwerfen?«

»Eingelebt? Ich bin seit zwei Wochen hier! Da kann man wohl kaum von Einleben sprechen … und jetzt, wo du hier bist …«

Connor war nie ein großartiger Schauspieler, aber nun gibt er den Zornigen, was das Zeug hält. »Was ist jetzt, wo ich hier bin? Glaubst du, du kannst mit mir gegen Drachen kämpfen? Wie kommst du darauf, dass ich das will?«

Risa ist sprachlos. Wie beabsichtigt. Nach dem erfolgreichen Schlag gegen ihre Gefühle lässt Connor gleich den nächsten folgen: »Es ist jetzt alles anders, Risa. Und was auf dem Friedhof war …«

»Da war nichts.« Risa erspart ihm den Schmerz einer weiteren Lüge. »Wir standen uns nur gegenseitig im Weg.« Dann steht sie auf, gerade als Cam in der Tür auftaucht. »Aber jetzt nicht mehr.«

Cam hat ein Badehandtuch um den Unterleib geschlungen, doch sein Oberkörper kann von jedermann bewundert werden. Die perfekte Kombination aus einem Sixpack in der Bauchregion und wohlgeformten Brustmuskeln. Wahrscheinlich, denkt Connor, ist er absichtlich so hereingekommen. Weil er gehofft hat, dass Risa hier ist.

»Habe ich etwas verpasst?«

Risa legt ihre Hand ungeniert auf seine Brust und fährt die Linien nach, dort, wo die verschiedenen Hauttöne aufeinandertreffen. »Die hatten schon recht, Cam«, sagt sie sanft. »Die Nähte sind phantastisch verheilt. Überhaupt keine Narben.« Sie lächelt ihn an und gibt ihm noch einen kurzen Kuss auf die Wange, ehe sie aus dem Zimmer geht.

Connor hofft, dass ihre plötzliche Zärtlichkeit Cam gegenüber nur ein Seitenhieb gegen ihn ist, doch sicher kann er sich nicht sein. Statt darüber nachzudenken, fixiert Connor den transplantierten Arm und konzentriert sich darauf, die Hand nicht zur Faust zu ballen. Manche Menschen tragen ihre Gefühle auf einem Silbertablett vor sich her. Connor trägt sie in der gespannten Haut seiner Knöchel, die seine Angriffslust oder Verteidigungshaltung verrät. Er nimmt den Hai ins Visier, seine unnatürlich leuchtenden Augen, seine übergroßen Zähne, den muskulös geschwungenen Körper. So ein hässliches Ding und trotzdem so verstörend anmutig. Er hasst ihn, ja, mittlerweile gefällt es ihm sogar, wie sehr er ihn hasst.

Cam schließt die Tür und präsentiert beim Ankleiden unbescheiden den Rest seines Körpers. Als ob Connor das interessierte! Die Blicke der beiden begegnen sich, und Cam grinst über das ganze Gesicht, als wüsste er etwas, das Connor nicht weiß.

»Überrascht mich nicht, woher der Wind weht. In Sachen Risa, meine ich«, sagt er.

»Der Wind weht dir nur Sand in die Augen, wenn du nicht aufpasst«, erwidert Connor.

»Ist das eine Drohung?«

»Weißt du was? Du bist nicht halb so klug, wie du glaubst.« Dann geht Connor ins Bad. Nach einer kalten Dusche hat er hoffentlich wieder einen klaren Kopf.