6. Connor

Am selben Morgen bringt Argent einen Fernsehapparat mit und schließt ihn in der Steckdose an, die mit der einzigen Hängelampe verbunden ist.

»Alle Annehmlichkeiten, die du auch zu Hause hast«, sagt er vergnügt zu Connor.

Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht schlechte Serien und Dauerwerbesendungen angeschaut und war erst aufgewacht, nachdem Grace ihre Nachricht an Lev überbracht hatte und wieder zurück war. »Kein Wort darüber«, hatte sie gesagt.

Als sie jetzt hinter Argent hereinkommt, legt sie verschwörerisch den Finger auf die Lippen.

Der kleine Fernsehapparat bekommt nur ein schwaches drahtloses Signal vom Haus, so dass das Zuschauen sehr mühsam ist.

»Ich finde heraus, wie man hinkriegt, dass er besser läuft«, sagt Grace zu Connor.

»Danke, Grace. Das ist nett von dir.« Connor hat zwar keinerlei Interesse daran, fernzusehen, aber entscheidend ist, Grace gegenüber mehr Wertschätzung zu zeigen als Argent.

»Keine Sorge«, sagt Argent. »Wir brauchen kein Signal und kein Kabel, um Videos anzuschauen.«

Connor schätzt, dass er inzwischen ungefähr vierundzwanzig Stunden in Gefangenschaft ist. Lev ist hoffentlich ohne ihn weitergezogen. Ein Antiquitätengeschäft in der Nähe der Highschool in Akron, wo sie zum ersten Mal getrennt wurden. Diese Information sollte Lev genügen, um dorthin zu finden.

Argent hat sich im Supermarkt krankgemeldet und verbringt den Vormittag damit, Connor seine Lieblingsvideos und seine Lieblingsmusik und überhaupt alles, was er mag, vorzuführen.

»Du warst eine Weile aus dem Verkehr gezogen«, erklärt Argent ihm. »Muss dich wieder auf den Stand bringen, was gerade in ist auf der Welt.« Als ob Connor sich zwei Jahre lang buchstäblich in einer Höhle versteckt hätte.

Argents Filmgeschmack neigt zu Gewalt, sein Musikgeschmack zu Missklängen. Connor hat so viel echte Gewalt gesehen, dass er sie nicht mehr besonders unterhaltsam findet. Und was die Musik betrifft, hat seine Bekanntschaft mit Risa seinen Horizont erweitert.

»Wenn du mich aus diesem Keller lässt«, sagt Connor zu Argent, »nehme ich dich mit zu Bands, die dich umhauen.«

Argent antwortet nicht direkt. Seit gestern erwähnt Connor Dinge, die sie vielleicht zusammen unternehmen könnten. Als Kumpel. Aber egal, welchen zeitlichen Rahmen Argent für Connors Bekehrung auch im Kopf hat – Connor vermutet, dass der Wendepunkt noch nicht erreicht ist. Und bis es so weit ist, ist alles, was Connor sagt, verdächtig.

Argent lässt ihn allein mit Grace zurück, um ein paar Besorgungen zu machen. Rasch zieht sie ein Schachbrett aus Plastik hervor und stellt die Figuren auf. »Du kannst doch Schach spielen, oder? Sag mir einfach deine Züge, und ich mach sie für dich.«

Connor kennt das Spiel, hatte aber niemals die Geduld, die Strategie zu lernen. Doch er will Grace das Spiel nicht abschlagen, deshalb macht er mit.

»Klassische Eröffnung von Kasparow«, sagt sie nach vier Zügen und klingt auf einmal gar nicht mehr minderbegabt. »Hilft aber nicht gegen eine Sizilianische Verteidigung.«

Connor seufzt. »Sag mir nicht, dass du NeuroWeave bekommen hast.«

»Um Himmels willen, nein!«, erwidert Grace stolz. »Das Gehirn gehört ganz allein mir, so wie es ist. Ich bin einfach gut im Spielen.« Dann spielt sie weiter und fügt Connor beschämend schnell eine vernichtende Niederlage zu.

»’tschuldigung«, sagt Grace, während sie die Figuren zum zweiten Spiel aufstellt.

»Entschuldige dich niemals dafür, dass du gewonnen hast.«

»’tschuldigung«, sagt Grace noch einmal. »Nicht weil ich gewonnen habe, sondern weil ich mich fürs Gewinnen entschuldigt habe.«

Das nächste Spiel analysiert Grace von Anfang bis Ende ganz genau und weist auf alle Züge hin, die Connor hätte machen sollen, und warum.

»Keine Sorge«, sagt Grace, als sie Connors Königin mit einem Läufer schlägt, der in voller Sicht gelauert hat. »Morphy hat diesen Fehler gegen Anderssen gemacht, aber das verdammte Spiel trotzdem gewonnen.«

Connor hat nicht so viel Glück. Grace macht ihn wieder fertig. Eigentlich wäre Connor auch enttäuscht gewesen, wenn es anders gewesen wäre.

»Wer hat dir das beigebracht?«

Grace zuckt die Achseln. »Habe gegen mein Handy und so gespielt.« Dann fügte sie hinzu: »Mit Argent kann ich nicht spielen. Er wird wütend, wenn ich gewinne, und noch wütender, wenn er gewinnt, weil er weiß, dass ich ihn gewinnen lasse.«

»Klar«, sagt Connor. »Lass mich nicht gewinnen.«

Grace lächelt. »Niemals.«

Grace verlässt den Raum und kommt mit einem altmodischen Backgammonbrett zurück. Dieses Spiel muss sie Connor erst beibringen. Erklären kann sie nicht besonders gut, aber Connor erfasst das Wesentliche.

Während des zweiten Spiels kommt Argent zurück. Mit einem Finger kippt er das Brett. Braune und weiße Steine verteilen sich über den Boden.

»Vergeude nicht seine Zeit«, fährt Argent seine Schwester an. »Er hat dazu keine Lust.«

»Vielleicht doch.« Connor zwingt sich bei diesen Worten zu einem Lächeln.

»Nein, hast du nicht. Grace will nur, dass du dümmer aussiehst als sie. Außerdem ist sie zu nichts zu gebrauchen. In Las Vegas hat sie ihr Spiel kein einziges Mal durchgebracht.«

»Ich zähle keine Karten«, murmelt Grace mürrisch. »Ich mache nur Spiele.«

»Egal, ich habe hier was viel besseres als Brettspiele.« Damit zeigt er Connor eine alte Pfeife aus Glas.

»Argie!«, sagt Grace ein bisschen atemlos. »Du sollst doch Urgroßvaters Wasserpfeife nicht benutzen!«

»Warum nicht? Sie gehört jetzt mir, oder?«

»Sie ist ein Erbstück!«

»Ja, ja. Form folgt Funktion«, sagt Argent und verfehlt schon wieder total die tatsächliche Bedeutung dieser Redewendung. Diesmal hält Connor sich nicht damit auf, ihn zu belehren.

»Sollen wir ein bisschen Betäubungsmittel rauchen? Etwas Tranq?«, fragt Argent.

»Ich bin oft genug betäubt worden«, antwortet Connor. »Ich muss das Zeug nicht auch noch rauchen.«

»Nein, wenn du es rauchst, ist es ganz anders. Du wirst nicht bewusstlos. Es haut dich einfach bloß um.« Er zieht eine rote und eine gelbe Kapsel hervor, das schwächste Betäubungsmittel, das in Betäubungspfeilen benutzt wird, und legt sie zusammen mit ein bisschen Cannabis in den Pfeifenkopf. »Komm schon, es gefällt dir bestimmt.« Damit zündet er die Pfeife an.

Connor hatte solche Sachen schon oft genug ausprobiert, bevor seine Umwandlungsverfügung unterzeichnet worden war. Auf der Abschussliste zu stehen, hat sein Interesse daran restlos abgetötet.

»Ich passe.«

Argent seufzt. »Okay, ich muss dir was beichten. Ich habe immer davon geträumt, mit dem Flüchtling aus Akron eine Pfeife zu rauchen und dann über irgendeinen tiefsinnigen spirituellen Mist zu diskutieren. Und da du jetzt wirklich hier bist, müssen wir es auch tun.«

»Ich glaube nicht, dass er Betäubungsmittel rauchen möchte, Argie.«

»Halt dich da raus«, blafft Argent, ohne Grace auch nur eines Blickes zu würdigen. Er nimmt einen Zug aus der Pfeife und hält sie Connor an den Mund. Dann drückt er ihm mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, so dass er gar nicht anders kann, als an der Pfeife zu ziehen.

Die Wirkung kommt schnell. Nach kaum einer Minute fühlen sich Connors Ohren an, als würden sie schrumpfen. In seinem Kopf dreht sich alles, und die Erdanziehung scheint ihre Richtung mehrfach zu wechseln.

»Spürst du es?«

Connor antwortet nicht. Stattdessen schaut er Grace an, die hilflos auf einem Sack Kartoffeln sitzt. Argent nimmt noch einen Zug und zwingt Connor, es ihm nachzumachen.

Während Connors Gehirn sich verflüssigt, stürzen Erinnerungen an sein Leben vor der Umwandlung auf ihn ein. Er hört, wie seine Eltern ihn anschreien und wie er zurückschreit. Er erinnert sich an all die gesetzlichen und ungesetzlichen Dinge, die er tat, um das Wissen darum zu betäuben, dass er nur in einem langweiligen Stadtviertel irgendwo in Ohio entweder in Schwierigkeiten steckte oder selbst welche machte.

Er erkennt ein bisschen von seinem alten Ich in Argent. War Connor wirklich mal so ein widerlicher Typ? Nein, unmöglich. Außerdem hat er es überwunden, Argent dagegen nicht. Obwohl Argent wahrscheinlich schon zwanzig ist, suhlt er sich immer noch in seinem Loser-Schlammloch und lässt zu, dass es sich unter seinen Füßen in eine Teergrube verwandelt. Der Zorn, den Connor gegenüber Argent empfindet, löst sich in seinen flüssigen Gedanken auf und zerfließt zu einer dünnen Schicht aus Mitleid.

Argent nimmt noch einen Zug und taumelt. »Boah, Mann, ist das guter Stoff.« Er schaut Connor aus trüben Augen an. Die Mischung aus Tranq und Gras hat Connor sehr gefühlsduselig gemacht. Wegen seiner Vergangenheit. Argent aber meint, es wäre eine Verbindung zwischen ihnen.

»Wir sind uns ähnlich, Connor«, sagt er. »Das denkst du doch gerade, oder? Ich hätte du sein können. Ich kann immer noch du sein.« Er fängt an zu kichern. »Wir können beide zusammen du sein.«

Das Kichern ist ansteckend. Connor merkt, dass er selbst unkontrolliert kichert, während Argent ihn zwingt, einen weiteren Zug zu nehmen.

»Ich muss dir was zeigen«, sagt Argent. »Du wirst bestimmt wütend, aber ich muss es trotzdem tun.« Argent zieht sein Smartphone heraus und zeigt Connor eines der Fotos, die er gestern von ihnen beiden gemacht hat.

»Gut, was? Ich hab es auf Facelink gepostet.«

»Du hast … was?«

»Keine große Sache. Nur für meine Freunde und so.« Argent kichert wieder. Connor auch. Dann lacht Argent, und Connor merkt, dass auch er hysterisch lacht.

»Weißt du, wie schlimm das ist, Argent?«

»Ich weiß schon, oder?«

»Nein, du weißt es nicht. Die Behörden. Die Jugendbehörde. Sie haben Programme für Gesichtserkennung im Netz.«

»So, so, Programme.«

»Sie werden dieses Haus stürmen. Ich werde verhaftet, und ihr beide bekommt fünf bis zehn Jahre«, Connor kann sich vor Lachen nicht halten, »für Beihilfe.«

»O je, das ist wirklich übel, Argie«, sagt Grace aus der Ecke.

»Hat dich jemand gefragt?« Dass er total high ist, ändert nichts daran, wie er seine Schwester behandelt.

»Wir müssen hier weg, Argent«, sagt Connor, »und zwar sofort. Wir sind jetzt beide Flüchtlinge.«

»Was?« Argent kapiert immer noch nicht ganz.

»Wir werden beide auf der Flucht sein, du und ich.«

»Genau. Die ganze Welt verarschen.«

»Es war Schicksal, wie du gesagt hast.«

»Schicksal.«

»Argent und der Flüchtling aus Akron.«

»Fast ein Triple A.«

»Aber du musst mich losbinden, bevor sie kommen und uns holen!«

»Dich losbinden …«

»Wir haben keine Zeit zu verlieren. Bitte, Argent.«

»Ich kann dir wirklich trauen?«

»Haben wir gerade zusammen geraucht oder nicht?«

Das genügt, um die Sache fix zu machen. Argent stellt die Pfeife ab und bindet Connors Hände los. Connor bewegt die Finger und lässt seine schmerzenden Schultern kreisen. Er hat keine Ahnung, ob das taube Gefühl in seinen Armen von den Fesseln kommt oder vom Betäubungsmittel.

»Wohin gehen wir?«, fragt Argent.

Als Antwort schleudert Connor die Glaspfeife gegen seinen Kopf. Sie trifft Argent direkt über dem Kiefer und hinterlässt beim Zersplittern mindestens drei Schnittwunden in seiner linken Gesichtshälfte. Argent sacken die Beine weg, und er schlägt stöhnend auf dem Boden auf. Er ist immer noch halb bei Bewusstsein, kann aber nicht aufstehen. Von seinem Gesicht tropft Blut.

Grace schaut Connor entgeistert an: »Du hast Urgroßvaters Pfeife kaputtgemacht.«

»Ja, ich weiß.«

Sie geht nicht zu Argent und hilft ihm. Stattdessen schaut sie Connor an, unsicher, ob sie gerade eben betrogen wurde oder befreit.

»Stimmt es, was du gerade gesagt hast? Dass die Polizei hinter uns her ist?«, fragt sie.

Connor muss nicht antworten, denn von draußen sind Autos zu hören, die mit quietschenden Reifen zum Stehen kommen, und das stetige Schrapp-Schrapp eines Hubschraubers.