55. Starkey

Es war Wahnsinn, zu glauben, dass er unantastbar ist. Das weiß er jetzt. Das Versteck der Storche war gut gewählt, doch die JuPos haben Übung darin, selbst die gewieftesten Flüchtlinge aufzuspüren. Starkey wehrt sich, doch es nützt nichts. Seine kaputte Hand schmerzt vom eisernen Griff seiner Angreifer so sehr, dass sämtliche Kraft aus seinem Körper weicht, genau wie zuvor, als Bam ihn gepackt hat.

Überall in den Gängen liegen die bewusstlosen Körper seiner wertvollen Storche. An den winzigen Blutflecken auf ihren Kleidern sieht man, wo die Betäubungspfeile in die Haut gedrungen sind. Niemand kämpft mehr. Wer bei Bewusstsein ist, flieht. Die Storche wissen, dass sie an Waffen und Können unterlegen sind.

»Lauft tiefer in die Mine!«, brüllt Starkey ihnen zu. »So tief ihr könnt. Lasst euch nicht lebend fangen.«

Trotz seiner ungeheuren Angst bewahrt er sich in seinem Herzen den Zorn, mit dem er so gut umgehen kann, und das Wissen, dass er als Märtyrer ewig leben wird.

Wind peitscht in den Eingang des Bergwerks, doch es ist kein natürlicher Wind. Ein Hubschrauber, dunkler als die Nacht, geht von oben nieder. Rund um den Landeplatz jagen Steppenläufer durch die Luft, als versuchten sie, dem erdrückenden Gewicht zu entkommen. Da Starkey kein Ass mehr im Ärmel hat, mit dem er seiner Festnahme entgehen könnte, gibt er sich geschlagen. Ich bin wichtig genug, um mit einem Hubschrauber abgeholt zu werden, denkt er.

Die Luke öffnet sich, er wird hineingestoßen und landet auf allen vieren. Seine linke Hand fühlt sich an, als brächen erneut sämtliche Knochen. Warum betäuben die mich nicht? Ich ertrage das nicht. Ich will, dass es vorbei ist.

Er spürt die senkrechte Beschleunigung des abhebenden Hubschraubers, und als er aufblickt, sieht er einen riesigen Innenraum vor sich, den er so nicht erwartet hat. Er ist nicht etwa mit Metallsitzen bestückt, sondern luxuriös ausgestattet mit Leder, Messing und poliertem Holz. Es wirkt eher wie die Kabine einer Yacht als das Innere eines Hubschraubers.

Ein Mann in schicken Hosen und einem bequemen Pullover sitzt in einem der Sessel vor einem großen Bildschirm. Er stellt den Fernseher mit einer Fernbedienung auf Pause und dreht sich zu Starkey um. Starkey, dem schwindelig und übel ist, fragt sich, ob er vielleicht doch betäubt wurde, dann hätte er eine Halluzination und würde gleich das Bewusstsein verlieren. Aber die Vision hat Bestand. Die Szene ist echt, und seine Benommenheit ist nur der Bewegung des Hubschraubers geschuldet.

»Mason Michael Starkey«, sagt der Mann. »Ich freue mich schon lange darauf, dich kennenzulernen.«

Der dunkelhaarige Mann, der an den Schläfen bereits grau wird, spricht wohlakzentuiert und wählt seine Worte bedacht.

»Was soll das hier?« Starkey muss fragen, auch wenn er die Antwort gar nicht hören will.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, erwidert der Mann. »Komm, setz dich. Wir haben etwas zu besprechen.« Er deutet mit der Fernbedienung auf den Fernseher und startet die angehaltene Aufnahme. Es ist ein Zusammenschnitt verschiedener Nachrichten, alle über Starkey. »Du bist eine Berühmtheit«, bemerkt der Mann.

Starkey nimmt all seine Kraft zusammen und richtet sich auf. Als sich der Hubschrauber leicht nach Steuerbord neigt, muss er sich an der Wand abstützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er rückt dem Mann keinen Zentimeter näher.

»Wer sind Sie?«

»Ein Freund. Mehr musst du nicht wissen. Was den Namen angeht, na ja, mit Namen ist das so eine Sache. Namen definieren uns, und ich wünsche nicht, definiert zu werden. Zumindest nicht in diesem Kontext.«

Starkey hat allerdings einen Namen gehört, als er gefangen genommen wurde. In dem Tumult hat er ihn nicht richtig verstanden, aber den Anfangsbuchstaben weiß er noch. »Ihr Nachname«, sagt er aus Trotz, »beginnt mit einem D.«

Der Mann zuckt fast unmerklich zusammen. Er klopft mit der Hand auf den Stuhl neben sich. »Setz dich bitte, Mason. Man weiß nie, ob man unerwartet in Turbulenzen gerät.«

Widerstrebend nimmt Starkey Platz. Wahrscheinlich wird ihm dieser Kerl einen Handel anbieten, aber was für ein Handel könnte das sein? Sie haben ihn und die Storchenbrigade ja schon besiegt. Vielleicht glauben sie, er weiß, wo Connor Lassiter steckt. Aber auch wenn er es wüsste, ist Starkey für die Jugendbehörde mittlerweile doch viel mehr wert. Warum sollten sie überhaupt mit ihm verhandeln?

»Du hast da draußen ziemlich viel Verdruss und Verwirrung gestiftet«, sagt der Mann. »Die Leute hassen dich. Die Leute lieben dich …«

»Mir ist egal, was die Leute denken«, knurrt Starkey.

»O, das ist dir bestimmt nicht egal«, sagt der Mann so herablassend, dass Starkey ihm am liebsten eine kleben würde. Doch das wäre nicht klug. »Wir sollten alle im Blick behalten, was für ein Bild sich die Welt von uns macht, und im eigenen Interesse immer an diesem Bild feilen.« Starkey ist klar, dass der Mann mit ihm spielt, aber mit welchem Ziel? Er hasst es, wenn er die Lage nicht im Griff hat.

Schließlich hält der Mann das Fernsehbild wieder an und dreht den Stuhl so, dass er Starkey genau gegenübersitzt. »Ich repräsentiere eine Bewegung, die deine Taten und den scheinbaren Wahnsinn deiner Methoden gutheißt, weil wir wissen, dass es sich in Wahrheit nicht um Wahnsinn handelt.«

Auch das hat Starkey nicht erwartet. »Eine Bewegung?«

»Ich würde es als Organisation bezeichnen, aber genau wie bei einem Namen würde uns auch dieser Begriff genauer definieren, als es klug wäre.«

»Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie wollen.«

Er lächelt breit. Das Lächeln ist weder warm noch beruhigend. »Wir wollen die Befreiung der Ernte-Camps, genauer gesagt, die Bestrafung derer, die sie betreiben. Davon würden wir sehr gern mehr zu sehen bekommen.«

Noch immer vermutet Starkey einen Trick. »Warum?«

»Unsere Bewegung lebt vom Chaos, weil Zerrüttung Neues nach sich zieht.«

Starkey hat nun eine Ahnung, was der Mann meint, obwohl er fast Angst hat, es laut auszusprechen. »Klatscher?«

Wieder setzt sein Gegenüber sein kühles Lächeln auf. »Du wärst überrascht, wie tief die Wurzeln der Bewegung reichen und wie engagiert unsere Leute sind. Wir hätten gern, dass du dich uns anschließt.«

Starkey schüttelt den Kopf. »Ich will kein Klatscher werden.«

Nun lacht der Mann sogar. »Nein, das verlangen wir auch nicht von dir. Das wäre schließlich für alle ein Verlust. Wir wollen dir nur auf jede uns mögliche Art helfen.«

»Und was wollen Sie dafür?«

Der Mann drehte sich wieder zum Bildschirm um. Dort sieht man das Bild vom langgezogenen Mädchenschlafsaal in MoonCrater und den fünf Angestellten, die leblos an den Deckenventilatoren hängen. »Mehr Kultbilder wie dieses hier«, sagt er aufgeräumt. »Bilder, die die Seele der Menschen noch Jahrzehnte verfolgen.«

Starkey überlegt, wie groß diese Sache ist, wie viel Macht sie den Storchen bringen wird. Welche Berühmtheit sie ihm bringen wird. »Das kann ich schon machen.«

»Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest. Wir haben die gesamte Bandbreite der modernsten Waffen und engagierte, wenn auch bisweilen fanatische Anhänger, die sich selbst opfern würden, um Chaos zu schaffen.« Dann streckt er Starkey die Hand hin, allerdings die Linke. Das ist Absicht. »Betrachte uns von nun an als Partner, Mason.« Und obwohl Starkeys Linke noch zieht und pocht, schlägt er ein. Starkey schluckt den stechenden Schmerz hinunter, denn wenn Allianzen geschlossen werden, besiegelt der Schmerz den Pakt umso besser.

 

Der Hubschrauberflug hat kein Ziel. Als das Gespräch vorüber und die Partnerschaft besiegelt ist, fliegt er wieder zurück und setzt Starkey in der Nähe des Bergwerkseingangs ab.

Starkey nimmt die Realität um sich herum plötzlich intensiver wahr. Er hat das Gefühl, dass er nicht geht, sondern über dem Boden dahinschwebt. Als er in das Bergwerk tritt, scheinen auch die Bewegungen um ihn herum verändert zu sein, nicht wie in Zeitlupe, sondern eher so, als teile sich die Welt, um ihn aufzunehmen. Die Kids im Bergwerk kommen gerade wieder zu Bewusstsein. Die Betäubungspfeile wirken nicht lange, denn die Storche sollten ja nicht eingefangen, sondern nur außer Gefecht gesetzt werden, um Starkey zu dem Gipfeltreffen aus den Stollen zu holen.

Die Storche, die den Pfeilen ausweichen konnten, tun ihr Bestes, die anderen aufzuwecken. Als sie Starkey sehen, erstarren sie vor Ehrfurcht. So ähnlich müssen die Jugendlichen im Happy Jack Connor Lassiter angesehen haben, als er lebend aus dem Schlachthaus trat.

»Er ist entkommen!«, rufen sie und tragen die frohe Botschaft immer tiefer in die Gänge des Bergwerks. »Starkey ist entkommen!«

Jeevan kommt angelaufen. »Was ist passiert?«, fragt er. »Wie bist du geflohen? Warum haben sie uns nicht weggebracht?«

»Niemand bringt uns irgendwohin«, erwidert Starkey. »Wir haben viel Arbeit vor uns, aber das kann bis morgen warten.« Er ordnet an, die Bewusstlosen zuzudecken, und geht durch das Bergwerk, beruhigt die verängstigten Storche und fordert alle auf, sich erst einmal schlafen zu legen. »Wir haben aufregende Tage vor uns.«

»Wo haben sie dich hingebracht?«, fragt ein Storch mit weit aufgerissenen Augen.

»In den Himmel«, erwidert Starkey. »Und wir haben Freunde ganz weit oben.«