22. Risa

Omaha – möglicherweise das geographische Zentrum Amerikas. Risa fühlt sich allerdings nicht sehr zentriert. Sie sollte woanders sein, hat aber kein Ziel und keinen Plan. Schon mehr als einmal hatte sie das Gefühl, dass es ein Fehler gewesen ist, den Schutz von CyFis kleiner Kommune zu verlassen, aber in der Tyler-Sippe war sie ein Fremdkörper. Jetzt muss Risa im Verborgenen leben. Sie sieht keinen Ausweg und keine Zukunft, die ohne Verstecke auskommt.

Sie hofft immer noch, dass sie irgendwo Hinweise auf die Anti-Umwandlungs-Front findet, aber die AUF ist zerfallen. Heute, denkt sie immer wieder. Heute finde ich einen Weg, dem ich folgen kann. Heute werde ich auf eine Offenbarung stoßen, und dann werde ich genau wissen, was ich zu tun habe. Aber Offenbarungen sind in Risas einsamer Existenz ein seltenes Gut geworden.

Neben sich hört sie: »Es ist ein Geburtstagsgeschenk, Rachel. Ein Geburtstagsgeschenk, für das dein Vater und ich eine ganze Stange Geld hinlegen. Du könntest wenigstens dankbar sein.«

»Aber ich habe mir was anderes gewünscht!«

Risa hat gelernt, dass es auf Bahnhöfen wie diesem zwei Schichten gibt, die sich nicht mischen. Sie berühren sich nicht einmal. Die obere Schicht besteht aus den wohlhabenden Reisenden wie der Mutter und der Tochter auf der Bank neben ihr. Sie nehmen Hochgeschwindigkeitszüge mit jeder erdenklichen Annehmlichkeit, die sie von einem exklusiven Ort zum nächsten bringen. Die andere Schicht ist der Abschaum, der sich nur am Bahnhof aufhalten kann.

»Ich habe gesagt, dass ich Geige lernen möchte, Mom. Du hättest mir Stunden bezahlen können.«

Risa darf in diese Züge nicht einsteigen. Dort gibt es zu viele Sicherheitsleute, zu viele Menschen, die ihr Gesicht erkennen könnten. Beim nächsten Halt würde eine Phalanx von Bundespolizisten auf sie warten, um sie in Gewahrsam zu nehmen. Wie jedes andere seriöse Transportmittel ist der Zug nur ein Traum für Risa.

»Niemand will ein Instrument lernen, Rachel. Das geht nur durch zermürbendes Üben. Außerdem bist du zu alt, um mit Geige anzufangen. Konzertviolinisten, die das Instrument auf traditionelle Weise lernen, beginnen mit sechs oder sieben Jahren.«

Risa kann nicht umhin, den Streit zwischen der gutgekleideten Frau und ihrer Teenagertochter im modischen Gammellook zu belauschen.

»Schlimm genug, dass sie in meinem Gehirn rumgemacht und mir NeuroWeave eingepflanzt haben«, jammert das Mädchen. »Aber muss ich die Hände denn auch bekommen? Ich mag meine Hände!«

Die Mutter lacht. »Liebes, du hast die dicken, kurzen Finger deines Vaters. Wenn man die ein bisschen aufmöbelt, wird dir das im Leben nur weiterhelfen. Außerdem ist es allgemein bekannt, dass musikalisches NeuroWeave zusätzliches Muskelgedächtnis braucht, um die Gehirn-Körper-Verbindung zu vervollständigen.«

»In unseren Fingern gibt es keine Muskeln!«, verkündet das Mädchen triumphierend. »Das habe ich in der Schule gelernt.«

Die Mutter stößt einen leidenden Seufzer aus.

Das Gespräch ist so verstörend, weil es kein Einzelfall ist. Schönheitstransplantate werden immer üblicher. Eine neue Fähigkeit gefällig? Kauf sie, statt sie zu erlernen. Du kannst mit deinen Haaren nichts machen? Besorg dir neue. Die Chirurgen stehen schon bereit.

»Stell sie dir wie ein Paar Handschuhe vor, Rachel. Schicke Seidenhandschuhe, wie eine Prinzessin sie trägt.«

Risa hält es nicht mehr aus. Sie versichert sich, dass die Kapuze ihr Gesicht verdeckt, steht auf und sagt im Vorbeigehen: »Du wirst die Fingerabdrücke von jemand anderem haben.«

Prinzessin Rachel sieht entsetzt aus. »Igitt! Das war’s! Ich tu es nicht!«

Risa verlässt den Bahnhof und geht hinaus in den dampfenden Augustabend. Sie muss sich den Anschein geben, als sei sie beschäftigt. Als gehe sie irgendwohin. Wenn sie nur faul herumhängt, ist sie ein Ziel für JuPos und Teilepiraten. Und nach ihrem letzten Zusammenstoß mit einem Teilepiraten hat sie keine Lust, die Erfahrung zu wiederholen.

Ein pinkfarbener Rucksack mit Herzchen und Pandas, den sie auf einem Schulhof geklaut hat, hängt über ihrer Schulter. Ein Polizist kommt ihr entgegen. Rasch zieht sie ein Telefon heraus, das eigentlich nicht funktioniert, und täuscht beim Gehen ein Gespräch vor.

»Ich weiß. Er ist total süß! Ich würde in Mathe so gern neben ihm sitzen.«

Sie muss so aussehen, als hätte sie einen Ort, wohin sie geht, und langweilige Menschen, mit denen sie über ihr langweiliges Leben reden kann. Sie weiß, wie ein Flüchtling aussieht, deshalb muss sie den Eindruck erwecken, dass sie keiner ist.

»Würg! Ich weiß! Ich hasse sie – so eine Loserin!«

Der Polizist geht vorbei, ohne Risa eines Blickes zu würdigen. Sie hat diese Illusion zu einer Wissenschaft gemacht. Aber es ist anstrengend, und die Zeit läuft ihr davon. Bald ist es zu spät am Abend, um sich als anständiges Mädchen noch mitten in Omaha auf der Straße herumzutreiben. Und dann ist es egal, welchen Eindruck sie vermittelt, sie wird Aufsehen erregen.

Für eine Stunde war der Bahnhof gut, aber Bahnhöfe sind klassische Orte für Kids auf der Flucht. Dort kann sie nicht lange bleiben. Jetzt prüft sie ihre Möglichkeiten. Es gibt hier ein paar typische Bürogebäude mit altmodischen Feuertreppen. Sie könnte hinaufklettern und ein offenstehendes Fenster suchen. Das hat sie schon öfter getan und es immer geschafft, der nächtlichen Putzkolonne aus dem Weg zu gehen. Das Risiko besteht darin, beim Einsteigen entdeckt zu werden.

Es gibt auch viele Parks. Aber während ältere Obdachlose ungestraft davonkommen, wenn sie auf Parkbänken nächtigen, gelingt das einem jungen Flüchtling nicht. Solange sie nicht in einen Geräteschuppen eindringen kann, würde sie nie das Risiko auf sich nehmen, in einem Park zu bleiben. Normalerweise sucht sie solche Orte früher am Tag. Wenn der Schuppen offen ist, tauscht sie das Schloss gegen eines aus, zu dem sie den Schlüssel hat. Wenn der Platzwart es dann zumacht, merkt er nicht, dass er nur sich selbst ausgeschlossen hat. Aber heute war sie faul gewesen. Müde. Sie hatte nicht die gebührende Sorgfalt walten lassen, und jetzt muss sie dafür büßen.

In der nächsten Straße ist ein Theater, in dem Cats aufgeführt wird. Wahrscheinlich wird die Menschheit dieses Musical bis in alle Ewigkeit ertragen müssen. Wenn sie ein Ticket klauen kann, kommt sie hinein, und sobald sie drinnen ist, findet sie einen Ort, wo sie sich verstecken kann. Verstecke gibt es hoch über den Deckenkulissen oder in mit Requisiten vollgestopften Kellerwinkeln.

Sie kürzt den Weg zum Theater durch eine finstere Seitengasse ab. Das war ein Fehler. Auf halbem Weg die Gasse hinunter kommen ihr drei junge Männer entgegen, um die achtzehn Jahre alt. Sie hat auf Anhieb eine Schublade für sie parat: entweder Flüchtlinge, die so lange überlebt haben, dass sie der Bedrohung der Umwandlung entwachsen sind, oder ein paar der vielen tausend Siebzehnjährigen, die nach der Verabschiedung des U-17-Gesetzes aus Ernte-Camps entlassen wurden. Leider waren diese Jugendlichen fast alle einfach auf die Straße gejagt worden, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollten. Deshalb waren sie voller Zorn. Sie verdarben – wie Früchte, die man zu lange am Strauch hängen lässt.

»Aber, aber, was haben wir denn hier?«, sagt der Größte der drei.

»Das ist nicht dein Ernst«, sagt Risa empört. »›Was haben wir denn hier?‹ Hast du keinen besseren Spruch auf Lager? Wenn du schon ein wehrloses Mädchen in einer Seitenstraße angreifen willst, dann wenigstens nicht mit so abgedroschenen Sprüchen.«

Ihr Verhalten hat die gewünschte Wirkung. Sie sind überrumpelt, und der Anführer, ein Trottel wie er im Buche steht, weicht einen Schritt zurück. Risa stürmt los, um sich vorbeizudrängeln, aber ein bulliger Junge, der so fett ist, dass er fast die ganze Gasse ausfüllt, versperrt ihr den Weg. Verdammt. Sie hofft sehr, dass das hier nicht unschön endet.

»Porterhouse mag keine hochnäsigen Mädels«, sagt der Trottel. Er lächelt und entblößt eine klaffende Lücke, wo einmal die Schneidezähne waren.

Der fette Typ, wohl Porterhouse, runzelt die Stirn und spannt seine Fettmasse an wie ein Türsteher vor einem Nachtclub. »Ganz richtig«, bekräftigt er.

Wegen solcher Typen, denkt Risa, halten die Leute umwandeln für eine gute Idee.

Der dritte Junge steht zögernd da, sagt nichts und schaut ein bisschen besorgt drein. Risa merkt ihn sich als möglichen Fluchtweg vor. Noch hat keiner von ihnen sie erkannt. Aber sobald es so weit ist, werden sie noch motivierter sein. Statt sich auf sie zu stürzen und sie dann hier in der Gasse liegen zu lassen, werden sie sich auf sie stürzen und sie dann wegen der Belohnung ausliefern.

»Wir wollen doch nicht gleich streiten«, sagt der Trottel. »Wir könnten dir zu Diensten sein.«

»Ja«, fügt Porterhouse hinzu. »Wenn du uns ›zu Diensten‹ bist.«

Widerling Nummer drei kichert und tritt einen Schritt nach vorn, um sich zu den beiden andern zu gesellen. So viel zum Thema Fluchtweg. Der Trottel macht einen mutigen Schritt auf sie zu. »Wir sind genau die Freunde, die ein Mädel wie du braucht. Um dich zu beschützen und so.«

Risa schaut ihm fest in die Augen. »Fass mich nicht an, sonst brech ich dir die Knochen.«

Ein Typ wie er, dessen Klappe größer ist als sein Hirn, fasst das bestimmt als Mutprobe auf. Und so ist es. Er packt ihr Handgelenk und wappnet sich gegen jeglichen Versuch ihres Widerstands.

Sie lächelt ihn an, hebt den Fuß und rammt die Ferse Porterhouse ins Knie. Die Kniescheibe bricht mit hörbarem Knirschen, und er geht schreiend zu Boden. Der Trottel lockert erschrocken seinen Griff. Risa windet sich frei und stößt ihm den Ellbogen gegen die Nase. Sie ist nicht sicher, ob sie gebrochen ist, auf jeden Fall blutet sie heftig.

»DU THTINKENDE SLAMPE!«, schreit er. Porterhouse hat solche Schmerzen, dass er nur vor sich hin jault. Widerling Nummer drei nimmt das als Stichwort für seinen Abgang und rennt die Gasse hinunter, denn er weiß, dass er sonst als Nächster dran ist.

Da macht der Trottel seinen nächsten Zug: Er zückt ein Messer und sticht damit nach Risa. Seine ausladenden Bewegungen sind wild und unkontrolliert, aber tödlich.

Sie benutzt den Rucksack als Schild, und er schlitzt ihn auf. Wieder schwingt er das Messer und kommt ihrem Gesicht gefährlich nahe. Da hört sie plötzlich …

»Hier rein! Schnell!«

Eine Frau streckt den Kopf aus der Hintertür eines Ladens. Risa zögert nicht. Sie taumelt durch die geöffnete Tür, und die Frau will sie gleich wieder schließen. Das gelingt ihr auch fast, aber der Trottel bekommt seine Hand dazwischen und stoppt sie. Also klemmt die Frau ihm die Finger ein. Er schreit auf. Risa wirft sich mit der Schulter gegen die Tür und quetscht seine Finger noch einmal. Er schreit noch lauter, und sie lockert den Druck gerade so viel, dass er seine anschwellenden Finger herausziehen kann. Dann drückt sie die Tür ganz zu, während die Frau abschließt.

Sie lassen ein wütendes Sperrfeuer von Gift und Galle über sich ergehen, einen hasserfüllten Ausbruch von Verwünschungen, die zunehmend schwächer werden, bis Porterhouse und der Trottel Rache schwörend davonstolpern.

Erst jetzt schaut Risa die Frau an. Sie ist mittleren Alters und versucht, ihre Falten mit Make-up zu überdecken. Voluminöse Haare. Freundliche Augen.

»Alles in Ordnung, Liebes?«

»Ja. Nur mein Rucksack kommt vielleicht nicht durch.«

Die Frau wirft einen kurzen Blick auf den Rucksack. »Pandas und Herzchen? Dieses Ding musste von seinem Elend erlöst werden, Liebes.«

Risa grinst, und die Frau erwidert ihren Blick ein kleines bisschen zu lange. Risa spürt den Moment des Erkennens. Die Frau weiß, wer sie ist, aber sie lässt es sich nicht gleich anmerken.

»Du kannst hierbleiben, bis sie wirklich weg sind.«

»Danke.«

Nach einer Pause legt die Frau die Maske ab. »Ich sollte dich wahrscheinlich um ein Autogramm bitten.«

Risa seufzt. »Bitte nicht.«

Die Frau grinst sie listig an: »Nun, da ich dich nicht wegen der Belohnung ausliefern werde, hab ich mir gedacht, ich könnte dein Autogramm eines Tages verkaufen. Vielleicht ist es dann was wert.«

Risa erwidert das Grinsen. »Sie meinen, wenn ich tot bin.«

»Na ja, wenn es für van Gogh getaugt hat …«

Risa lacht, und ihr Lachen verjagt die Angst, die sie wenige Augenblicke zuvor gespürt hat. Immer noch prickelt das Adrenalin in ihren Fingern. Ihr Körper braucht eine Weile, bis er merkt, dass sie in Sicherheit ist.

»Sind wirklich alle Türen verschlossen?«

»Diese Jungs sind längst über alle Berge, Liebes. Sie lecken ihre Wunden und packen Eis auf ihr geschundenes Ego. Aber ja. Selbst wenn sie zurückkämen, würden sie nicht reinkommen.«

»Solche Typen bringen alle Teenager in Verruf.«

Die Frau tut das mit einer Handbewegung ab: »Widerlinge gibt’s in jedem Alter«, sagt sie. »Ich weiß es. Ich hab mein Quantum kennengelernt. Man kann sie nicht alle umwandeln, denn wenn sie weg sind, nehmen andere ihren Platz ein.«

Risa taxiert die Frau, aber sie ist nicht so leicht zu durchschauen. »Dann sind Sie gegen das Umwandeln?«

»Ich bin gegen Lösungen, die schlimmer sind als das Problem. Wie bei alten Frauen, die ihre Haare pechschwarz gefärbt haben wollen, um das Grau zu überdecken.«

Risa nimmt sich endlich einen Augenblick, um sich umzuschauen, und versteht sofort, warum die Frau diesen Vergleich gewählt hat. Sie befinden sich im Hinterzimmer eines Friseursalons, der ziemlich retromäßig eingerichtet ist, mit großen Trockenhauben und schwarzen, abgestoßenen Waschbecken. Die Frau stellt sich als Audrey vor, Eigentümerin von »Locken und Beagles« – spezialisiert auf Kundinnen, die unbedingt und wirklich überall ihren Hund mitbringen müssen.

»Du würdest dich wundern, wie viel manche Damen für Waschen und Schneiden bezahlen, wenn ihr Chihuahua auf ihrem Schoß sitzen darf.«

Audrey betrachtet Risa wie eine potentielle Kundin. »Wir haben zwar geschlossen, aber ich wäre einem Umstyling nach Feierabend nicht abgeneigt.«

»Danke, aber ich brauche nichts.«

Audrey runzelt die Stirn. »Ach, komm. Ich dachte, du hättest bessere Überlebensinstinkte!«

Risa reagiert gereizt. »Wie bitte?«

»Glaubst du etwa, es hilft, wenn du dein Gesicht unter einer Kapuze versteckst?«

»Bis jetzt bin ich gut damit klargekommen, vielen Dank.«

»Versteh mich nicht falsch«, sagt Audrey. »Man kommt recht weit mit Intelligenz und Instinkt, aber wenn du zu stolz darauf wirst, wie geschickt du die Machthaber austrickst, wird das schlimme Folgen haben.«

Unwillkürlich reibt Risa ihr Handgelenk. Sie hatte gedacht, sie sei zu schlau, um in eine Falle zu gehen. Ihr Aussehen zu verändern, würde nur von Vorteil sein, warum widerstrebt ihr das so?

Weil du für Connor so aussehen willst wie immer.

Sie muss fast nach Luft ringen, als ihr das klar wird. Immer häufiger hatte sie in letzter Zeit an ihn gedacht, und das hatte ihr Urteilsvermögen in einer Weise getrübt, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte. Aber ihre Gefühle für ihn dürfen ihrer Selbsterhaltung nicht im Weg stehen.

»Was für ein Umstyling?«

Audrey lächelt. »Vertrau mir, Liebes. Wenn ich fertig bin, bist du eine völlig neue Person.«

 

Das »Umstyling« dauert ungefähr zwei Stunden. Risa rechnet damit, dass Audrey ihre Haare blond färbt, aber stattdessen nimmt sie einen helleren Braunton mit Strähnchen und macht eine leichte Dauerwelle.

»Die meisten denken, die Farbe der Haare würde das Aussehen verändern, aber das stimmt nicht. Es geht nur um die Struktur«, erklärt Audrey. »Und dabei sind die Haare noch nicht einmal das Wichtigste. Die Augen sind es. Den meisten ist nicht klar, welche Rolle die Augen beim Erkennen spielen.«

Deshalb schlägt sie auch eine Pigmentinjektion vor.

»Keine Sorge. Ich bin lizenzierte Augenpigmentologin. Ich mache das jeden Tag und hatte noch nie eine Beschwerde – außer von den Leuten, die sich sowieso immer beschweren, egal, was ich mache.«

Audrey erzählt weiter von ihren High-Society-Stammkunden und ihren abwegigen Wünschen: von phosphoreszierenden Augenfarben, die zu ihren lackierten Nägeln passen, bis hin zu mitternachtsschwarzen Pigmentinjektionen, durch die das Auge so wirkt, als hätte die Pupille die Iris komplett verschluckt. Audreys Stimme ist beruhigend und so betäubend wie die Tropfen, die sie Risa in die Augen träufelt. Risa wird unachtsam und bemerkt erst, als es zu spät ist, dass Audrey ihre Arme an der Stuhllehne festgeklemmt und ihren Kopf an der Kopfstütze fixiert hat. Sie gerät in Panik. »Was tun Sie da? Machen Sie mich los!«

Audrey lächelt nur. »Ich fürchte, das geht nicht, Liebes.« Damit dreht sie sich um und greift nach etwas, das Risa nicht sehen kann.

Audreys Plan hatte also ganz und gar nichts damit zu tun, Risa zu helfen. Auch sie will nur die Belohnung! Ein Anruf, und die Polizei ist da. Wie dumm von Risa, ihr zu trauen! Wie konnte sie nur so blind sein!

Audrey kommt mit einem Gerät in der Hand zurück, das ziemlich fies aussieht: eine Spritze mit einem Dutzend winziger Nadeln an der Spitze, die einen kleinen Kreis bilden.

»Wenn ich dich nicht festbinde, bewegst du dich vielleicht oder greifst womöglich reflexartig nach der Spritze. Dadurch könnte deine Hornhaut verletzt werden. Das Festschnallen dient allein deiner Sicherheit.«

Risa stößt schaudernd einen Seufzer der Erleichterung aus. Audrey denkt, sie fürchte sich, weil sie die Injektionsnadeln gesehen hat. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Die Augentropfen, die ich dir gegeben habe, sind wie Zauberei. Du wirst nicht das Geringste spüren, das versprech ich dir.«

Risa steigen Tränen in die Augen. Diese Frau will ihr wirklich helfen, und Risa hat ein schlechtes Gewissen wegen ihres Anfalls von Paranoia, auch wenn Audrey ihn gar nicht mitbekommen hat. »Warum tun Sie das für mich?«

Audrey antwortet nicht gleich. Sie konzentriert sich auf die anstehende Aufgabe und injiziert eine Überraschungsfarbe in Risas Iris, die ihr, wie sie Risa versprach, gefallen würde. Da die Frau so vollkommen überzeugt ist, glaubt Risa ihr. Einen Augenblick lang hat sie das Gefühl, als würde sie umgewandelt werden, aber sie schiebt es mit all ihrer Willenskraft weg. Hier ist Mitgefühl spürbar, nicht professionelle Distanz.

»Ich helfe dir, weil ich es kann«, sagt Audrey, während sie an Risas anderem Auge arbeitet. »Und wegen meines Sohnes.«

»Ihr Sohn …« Risa denkt, sie habe verstanden. »Haben Sie …«

»Ihn umwandeln lassen? Nein. Nichts dergleichen. Von dem Augenblick an, als er vor meiner Tür auftauchte, habe ich ihn geliebt. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, ihn umwandeln zu lassen.«

»Er war ein Storch?«

»Jap. Wurde vor meine Tür gelegt. Mitten im Winter. Und das als Frühgeburt. Er hatte Glück, dass er überlebt hat.« Sie hält inne und prüft, wie die Pigmente aufgenommen werden. Dann macht sie sich an eine zweite Injektionsrunde. »Mit vierzehn bekam er Krebs. Magenkrebs, der in die Leber und in die Bauchspeicheldrüse gestreut hatte.«

»Das tut mir leid.«

Audrey lehnt sich zurück und schaut Risa in die Augen, aber diesmal nicht, um ihre Arbeit zu prüfen. »Für mich selbst hätte ich nie etwas von einem Wandler genommen, Liebes. Aber als sie mir sagten, das Leben meines Sohnes könne nur gerettet werden, wenn man ihn praktisch ausnehme und alle seine inneren Organe durch die eines anderen ersetze, zögerte ich keine Sekunde. ›Macht es!‹, sagte ich. ›Macht es so schnell, wie ihr ihn in einen OP schaffen könnt‹.«

Risa sagt nichts. Sie spürt, dass diese Frau ihr Geständnis ablegen muss.

»Willst du den wahren Grund dafür wissen, warum das Umwandeln immer noch so erfolgreich ist, Miss Risa Ward? Nicht wegen der Körperteile, die wir für uns selbst wollen – sondern wegen der Dinge, die wir gewillt sind zu tun, um unsere Kinder zu retten.« Sie denkt über ihre Worte nach und lacht reumütig. »Stell dir das nur vor. Wir sind bereit, die Kinder, die wir nicht lieben, für die zu opfern, die wir lieben. Und dann schimpfen wir uns zivilisiert!«

»Es ist nicht Ihre Schuld, dass es die Umwandlungen gibt«, sagt Risa.

»Nein?«

»Sie hatten keine andere Möglichkeit, Ihren Sohn zu retten. Sie hatten keine Wahl.«

»Es gibt immer eine Wahl«, sagt Audrey. »Aber um meinen Sohn am Leben zu erhalten, gab es nur diese Möglichkeit. Wenn es eine andere gegeben hätte, hätte ich sie genommen. Aber es gab keine.«

Sie löst Risas Fixierung und wendet sich ab, um ihr Injektionsbesteck zu reinigen. »Jedenfalls lebt mein Sohn. Er geht aufs College und ruft mich mindestens einmal die Woche an. Meistens, weil er Geld braucht. Aber dass ich überhaupt einen Anruf bekomme, ist ein Wunder für mich. Mein Gewissen wird mich den Rest meines Lebens quälen, aber das ist ein kleiner Preis dafür, dass ich meinen Sohn immer noch habe.«

Risa nickt ihr zustimmend zu, nicht mehr und nicht weniger. Kann sie Audrey einen Vorwurf daraus machen, dass sie alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten genutzt hat, um das Leben ihres Sohnes zu retten?

»Bitte schön, Liebes«, sagt Audrey und dreht sie zum Spiegel. »Na, was meinst du?«

Risa kann es kaum fassen, dass das Mädchen im Spiegel sie selbst ist. Die Dauerwelle ist so leicht, dass ihr die Haare nicht kraus vom Kopf abstehen, sondern in weichen, goldbraunen Locken mit einigen wenigen hellen Reflexen herabfallen. Und ihre Augen erst! Audrey hat ihr nicht die widerliche Pigmentierung verpasst, auf die heutzutage so viele Mädchen stehen, sondern sie hat Risas Augenfarbe von braun zu einem sehr natürlichen, sehr realistischen Grün verändert. Sie sieht wunderschön aus.

»Was hab ich dir gesagt?« Audrey ist sichtlich stolz auf ihr Werk. »Struktur für die Haare, Farbe für die Augen. Eine bestechende Kombination.«

»Wunderschön! Wie kann ich Ihnen jemals dafür danken?«

»Das hast du schon getan«, sagt Audrey. »Indem du mir gestattet hast, dir zu helfen.«

Risa bewundert sich auf eine Art und Weise, für die sie sich zuvor niemals Zeit genommen hat. Ein gründliches Umstyling. Das wäre auch für diese fehlgeleitete Welt längst einmal fällig. Wenn Risa nur wüsste, wie sie es bewerkstelligen könnte. Sie muss an Audreys ergreifende Geschichte von ihrem Sohn denken. Früher einmal hat die Medizin die Krankheiten in der Welt geheilt. Forschungsgelder flossen in die Entwicklung von Lösungen. Inzwischen hat es den Anschein, als suche die medizinische Forschung nur noch immer abwegigere Verwendungsmöglichkeiten für die verschiedenen Teile von Wandlern. NeuroWeave statt Unterricht. Muskelüberholung statt Training. Und Cam gibt es ja auch noch. Könnte es stimmen, was Roberta gesagt hat, dass Cam nur ein Vorgeschmack auf die Zukunft ist? Wann werden die Menschen Teile verlangen, einfach nur, weil es der letzte Schrei ist? Ja, vielleicht sorgen verzweifelte Eltern, die ihre Kinder retten wollen, tatsächlich dafür, dass das Umwandeln weitergeht, aber die Schönheitsindustrie sorgt dafür, dass es floriert.

Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe … Und zum ersten Mal fragt Risa sich wirklich, warum es keine andere gibt.