29. Cam

Das Mittagessen mit dem General und dem Senator findet in den dunklen Tiefen des Wrangler’s Club statt, vielleicht dem teuersten und exklusivsten Restaurant in Washington, DC. Abgeschirmt in fensterlosen Ledernischen unter kleinen Lichtkegeln, hat man die Illusion, die Bedeutung des eigenen Gesprächs halte die Zeit an. Die Welt draußen existiert nicht, wenn man im Wrangler’s Club diniert.

Als Cam und Roberta von der Empfangsdame hineingeführt werden, entdeckt er Gesichter, die er zu erkennen glaubt. Vielleicht Senatoren oder Kongressmitglieder. Menschen, die er auch bei den bedeutenden Galas gesehen hat, an denen er teilnahm. Diese aufgeblasenen Typen mit ihrem Gemauschel sehen nach einer Weile alle gleich aus. Vermutlich sind diejenigen, die er nicht erkennt, die wahren Makler der Macht. So ist es immer. Lobbyisten für besondere Geheiminteressen, von denen er nicht die leiseste Ahnung hat. Das Proaktive Bürgerforum hat kein Monopol auf verdeckten Einfluss.

»Zeig dich von deiner besten Seite«, sagt Roberta zu Cam, als sie zu ihrer Nische geführt werden.

»Und welche ist das?«, fragt er. »Du weißt das besser als ich.«

Sie reagiert nicht auf seine Spitze. »Vergiss nicht, dass der heutige Tag über deine Zukunft entscheiden könnte.«

»Und über deine«, fügt Cam hinzu.

Roberta seufzt. »Ja. Über meine auch.«

General Bodeker und Senator Cobb warten bereits am Tisch. Der General erhebt sich, um sie zu begrüßen, und auch der Senator versucht, aus der Nische herauszurutschen, was sein dicker Bauch jedoch verhindert.

»Bitte, bleiben Sie doch sitzen«, sagt Roberta.

Der Senator gibt auf. »Die Burger gewinnen einfach immer«, klagt er.

Sie lassen sich am Tisch nieder und tauschen den obligatorischen Händedruck und unterwürfige Nettigkeiten aus. Sie plaudern über das launische Wetter, Regen und in der nächsten Minute Sonnenschein. Der Senator lobt die in der Pfanne sautierten Jakobsmuscheln, die heutige Tagesempfehlung.

»Anaphylaktisch«, stößt Cam hervor. »Ich meine, ich bin allergisch gegen Jakobsmuscheln. Zumindest meine Schultern und Oberarme. Dort kriege ich schlimmen Ausschlag.«

Der General ist fasziniert. »Interessant. Nur dort?«

»Und weil seine Nase gegen Schokolade allergisch ist, kann er keinem in den Arsch kriechen«, sagt Senator Cobb und lacht so dröhnend, dass die Wassergläser klirren.

Sie bestellen, und als die Vorspeise aufgetragen ist, kommen die beiden Männer endlich zur Sache.

»Wir sehen Sie als einen Mann des Militärs, Cam«, sagt der General, »und das Proaktive Bürgerforum stimmt uns zu.«

Cam stochert mit der Gabel in seinem Endiviensalat. »Sie wollen einen Kommisskopf aus mir machen?«

General Bodeker reagiert gereizt. »Das ist eine unfaire Bezeichnung für junge Menschen, die einen Sinn fürs Militär haben.«

Senator Cobb macht eine wegwerfende Handbewegung: »Ja, ja, wir alle kennen die offizielle Meinung des Militärs zu diesem Wort. Aber darum geht es nicht, Cam. Sie würden die Grundausbildung überspringen und direkt in die Offiziersausbildung einsteigen – und zwar im Schnelldurchgang!«

»Ich kann Ihnen jede Waffengattung anbieten, die Sie möchten«, fügt Bodeker hinzu.

»Wie wär’s mit den Marines?«, wirft Roberta schnell ein, und als Cam sie anschaut, fügt sie hinzu: »Na ja, das hattest du doch im Sinn – und außerdem haben sie eine besonders fesche Uniform.«

Der Senator hebt die Hand, als würde er eine Axt schwingen. »Der Punkt ist doch, dass Sie unbehelligt die Ausbildung durchlaufen, in null Komma nix lernen, was Sie lernen müssen, und dann der offizielle Sprecher des Militärs sind, mit allen Vergünstigungen, die das mit sich bringt.«

»Sie wären ein Vorbild für alle jungen Menschen«, fügt Bodeker hinzu.

»Und für Ihresgleichen«, ergänzt Cobb.

Cam blickt auf. »›Meinesgleichen‹ gibt es nicht.«

Die beiden Männer schauen Roberta an.

Sie legt ihre Gabel auf den Teller und wägt ihre Antwort sorgfältig ab. »Du hast dich einmal selbst als ein ›Konzeptauto‹ bezeichnet, Cam. Nun, der gute Senator und der General wollen damit sagen, dass ihnen das Konzept gefällt.«

»Verstehe.«

Der Hauptgang kommt. Cam hat Rostbraten bestellt, das Lieblingsessen des einen oder anderen aus seinem inneren Trupp. Der erste Bissen erinnert ihn an die Hochzeit einer Schwester. Er hat allerdings keine Ahnung, wo das war oder wer diese Schwester gewesen ist. Sie war blond, aber ihr Gesicht hatte es nicht bis in sein Gehirn geschafft. Ob diesem Jugendlichen – oder überhaupt einem der Jugendlichen in ihm – jemals eine fesche Uniform angeboten worden wäre? Die Antwort ist nein, das weiß er, und er fühlt sich an ihrer Stelle gekränkt.

Bremsen auf regennasser Fahrbahn. Er muss das Pedal langsam durchtreten, damit dieses Treffen nicht ins Schleudern gerät. »Das ist ein sehr großzügiges Angebot, und ich fühle mich geehrt, dass ich in Betracht gezogen werde.« Er räuspert sich. »Ich weiß, dass Sie nur das Beste für mich wollen.« Er schaut zuerst den General, dann den Senator an. »Aber ich möchte das an dieser …«, er sucht ein passendes Washingtoner Wort, »… an dieser Wegkreuzung nicht tun.«

Der Senator betrachtet ihn, und seine Stimme hat jede Herzlichkeit eingebüßt: »Sie möchten das an dieser Wegkreuzung nicht tun …«, wiederholt er.

Und, vorhersehbar wie ein Uhrwerk, springt Roberta ihm zur Seite: »Cam meint damit nur, dass er Zeit zum Überlegen braucht.«

»Hatten Sie nicht gesagt, das wäre eine todsichere Sache, Roberta?«

»Nun, wenn Sie ein bisschen geschickter vorgegangen wären …«

General Bodeker hebt die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Vielleicht verstehen Sie nicht recht.« Der General ist ganz ruhig und beherrscht. »Ich will es Ihnen erklären.« Er wartet, bis Cam seine Gabel ablegt, und fährt dann fort. »Bis vergangene Woche waren Sie das Eigentum des Proaktiven Bürgerforums. Aber das Forum hat seinen Anspruch auf Sie für eine beträchtliche Summe verkauft. Jetzt gehören Sie dem Militär der Vereinigten Staaten.«

»Eigentum?«, fragt Cam. »Was meinen Sie mit ›Eigentum‹?«

»Ganz ruhig, Cam.« Roberta bemüht sich nach Kräften um Schadensbegrenzung. »Das ist nur ein Wort.«

»Es ist mehr als ein Wort!«, beharrt Cam. »Es ist ein politisches Konzept, und zwar eines, das nach dem Geschichtsexperten irgendwo in meiner linken Gehirnhälfte im Jahr 1865 abgeschafft wurde.«

Der Senator will aufbrausen, aber der General bewahrt die Fassung. »Das gilt für Individuen, und das bist du nicht. Du bist eine Ansammlung sehr spezieller Teile, die jeweils einen unterschiedlichen monetären Wert haben. Wir haben mehr als das Hundertfache dieses Wertes dafür bezahlt, dass diese Teile auf eine einzigartige Art und Weise zusammengefügt worden sind, aber am Ende, Mr Comprix … sind Teile eben nur Teile.«

»Da haben wir’s«, sagt der Senator verbittert. »Sie wollen gehen? Bitte, verschwinden Sie. Solange Sie alle Ihre Teile hierlassen.«

Cams Atmung gerät außer Kontrolle. Dutzende unterschiedliche Temperamente in ihm verbinden sich und brausen gleichzeitig auf. Er möchte den Tisch umkippen. Ihnen die Teller an die Köpfe werfen.

Eigentum!

Sie betrachten ihn als Eigentum!

Seine schlimmste Befürchtung ist Wirklichkeit geworden. Sogar die Menschen, die ihn bewundern, betrachten ihn als Ware. Als Ding.

Roberta sieht den Ausdruck in seinen Augen und ergreift seine Hand. »Schau mich an, Cam!«, befiehlt sie.

Er gehorcht, denn tief in seinem Inneren weiß er: Eine Szene zu machen, ist das Schlimmste, was er für sich tun kann. Sie muss ihn zum Schweigen bringen.

»Dreißig Silberlinge!«, schreit er. »Brutus! Rosenbergs!«

»Ich bin keine Verräterin! Ich stehe zu dir, Cam. Dieses Geschäft wurde ohne mein Wissen gemacht. Ich bin ebenso zornig wie du, aber wir beide müssen das Beste daraus machen.«

Ihm wird ganz schwindlig. »Kennedy-Attentat!«

»Das ist auch keine Verschwörung! Ja, ich wusste davon, als ich dich hierhergebracht habe … Aber ich wusste auch, dass es ein Fehler wäre, es dir zu sagen.« Sie wirft den beiden Männern einen zornigen Blick zu. »Denn wenn du dich dafür entschieden hättest, hätte man die technische Frage der Besitzverhältnisse gar nicht auf den Tisch bringen müssen.«

»Aus dem Sack.« Cam zwingt seinen Atem, langsamer zu werden, und sein aufloderndes Temperament, nur noch zu flackern. »Deckt den Brunnen zu. Das Kind ist drin.«

»Was zum Teufel babbelt er da?«, blafft der Senator.

»Ruhe!«, befiehlt Roberta. »Das gilt für Sie beide!« Dass Roberta einen Senator und einen General mit einem Wort zum Schweigen bringen kann, fühlt sich wie eine Art Sieg an. Egal, wen und was sie besitzen, sie haben hier nicht das Sagen. Jedenfalls nicht an dieser Wegkreuzung.

Cam weiß, dass jetzt nur Fetzen jener metaphorischen Sprache aus seinem Mund kommen werden, die er sprach, kurz nachdem er zusammengefügt worden war. Es ist ihm egal.

»Schrottkarre«, sagt er.

Die beiden Männer schauen sich fragend an. »Nein.« Cam nimmt einen Bissen von seinem Rostbraten und zwingt sich, so ruhig zu werden, dass er seine Gedanken besser übersetzen kann. »Ich meine – egal, was Sie für mich bezahlt haben, wenn ich nicht funktioniere, haben Sie Ihr Geld zum Fenster rausgeworfen.«

Der Senator ist immer noch völlig fassungslos, aber General Bodeker nickt. »Sie meinen, wir hätten eine Schrottkarre gekauft.«

Cam nimmt noch einen Bissen. »Goldstern für Sie.«

Die beiden Männer rutschen unbehaglich auf ihren Stühlen hin und her. Gut. Genau das will er.

»Aber wenn ich funktioniere, bekommen alle, was sie wollen.«

»Dann sind wir wieder da, wo wir angefangen haben«, sagt Bodeker mit wachsender Ungeduld.

»Aber wenigstens verstehen wir uns jetzt.« Cam überdenkt die Situation. Er betrachtet Roberta, die vor lauter Aufregung fast die Hände ringt. Dann wendet er sich an die beiden Männer. »Zerreißen Sie Ihren Vertrag mit dem Proaktiven Bürgerforum«, sagt er. »Lösen Sie ihn auf. Und dann werde ich meinen eigenen Vertrag unterzeichnen, der mich zu dem verpflichtet, was immer Sie wollen. Aber das ist dann meine Entscheidung und nicht eine Verkaufshandlung.«

Das scheint alle drei zu verblüffen.

»Geht das überhaupt?«, fragt der Senator.

»Eigentlich ist er noch minderjährig«, sagt Roberta.

»Eigentlich gibt es mich gar nicht«, erinnert Cam sie. »Oder?«

Niemand antwortet.

»Dann sorgen Sie eben dafür, dass es mich auf dem Papier gibt«, fährt Cam fort. »Auf demselben Papier werde ich Ihnen dann mein Leben überschreiben. Weil ich es will.«

Der General schaut den Senator an, aber der zuckt nur die Achseln. Also wendet sich General Bodeker direkt an Cam.

»Wir denken darüber nach und kommen wieder auf Sie zu.«

 

Cam steht in seinem Zimmer in seiner Washingtoner Wohnung und starrt auf die geschlossene Tür.

In dieses Haus kehrt er nach seinen jeweiligen Vortragsreisen zurück. Roberta nennt es »nach Hause gehen«. Für Cam fühlt es sich nicht wie zu Hause an. Das Haus auf Molokai ist zu Hause, aber dort war er schon seit Monaten nicht mehr. Vermutlich darf er nie wieder dorthin zurück. Schließlich war es eher eine Kinderstube für ihn als ein Wohnsitz. Dort wurde er zusammengefügt. Dort wurde ihm beigebracht, wer er war – was er war –, und dort lernte er, sein vielfältiges »inneres Ensemble« zu koordinieren.

General Bodeker hatte trotz seines Zorns über den Gebrauch des Wortes »Kommisskopf« offenbar kein Problem, beschönigende Ausdrücke zu umgehen und Cams inneres Ensemble einfach »Teile« zu nennen.

Cam weiß nicht, wen er mehr verachten soll: Bodeker, weil er ihn wie abgepacktes Fleisch gekauft hat, das Proaktive Bürgerforum, weil es sein Fleisch verkauft hat, oder Roberta, die seine Existenz überhaupt zu verantworten hat. Cam starrt weiter auf seine Tür. Dort hängt die Galauniform eines US-Marineinfanteristen – von unbekannter Hand geschickt platziert, während er aus war. Mit blanken Knöpfen und allem. Fesch, wie Roberta gesagt hatte.

Ist das eine Drohung oder ein Köder?, überlegt Cam.

Roberta gegenüber erwähnt er die Uniform nicht, als er zum Abendessen hinuntergeht. Seit dem Treffen mit dem Senator und dem General in der vergangenen Woche haben sie alle Mahlzeiten allein in dem Haus zu sich genommen, als sei es eine Art Strafe, von mächtigen Menschen nicht beachtet zu werden.

Am Ende der Mahlzeit bringt die Haushälterin ein silbernes Teeservice herein und stellt es zwischen sie, denn Roberta als Exilbritin braucht ihren Earl Grey.

Beim Tee eröffnet Roberta ihm die Neuigkeit: »Ich muss dir etwas sagen«, gesteht sie nach dem ersten Schluck. »Aber du musst mir versprechen, dass du nicht ausrastest.«

»Das ist keine gute Eröffnung für ein Gespräch«, sagt er. »Versuch es noch einmal. Diesmal mit Frühling und Gänseblümchen.«

Roberta holt tief Luft, stellt ihre Tasse ab und bringt es hinter sich: »Das Gericht hat deiner Forderung, Verträge unterzeichnen zu dürfen, nicht stattgegeben.«

Cam spürt, wie sein Essen wieder hochkommen will, aber er hält es unten. »Das Gericht sagt also, dass es mich nicht gibt. Willst du mir das sagen? Dass ich ein Objekt bin wie …«, er nimmt einen Löffel, »wie ein Essbesteck? Oder bin ich eher wie diese Teekanne?« Er lässt den Löffel fallen und nimmt die Kanne vom Tisch. »Ja, genau, eine sprechende Teekanne. Viel heiße Luft, die niemand hören will!«

Der Holzfußboden kreischt, als Roberta ihren Stuhl zurückstößt. »Du hast versprochen, nicht auszurasten!«

»Nein, du hast mich darum gebeten, und ich weigere mich!«

Er lässt die Kanne auf den Tisch knallen. Ein Schwall Earl Grey schwappt aus der Tülle und ergießt sich auf die weiße Tischdecke. Die Haushälterin, die gelauscht hatte, verzieht sich.

»Es ist eine rechtliche Definition, nichts weiter!«, beharrt Roberta. »Und ich für meinen Teil weiß, dass du mehr bist als diese blöde Definition.«

»Nähstube!«, blafft Cam, und nicht einmal Roberta kann das entschlüsseln. »Deine Meinung bedeutet nichts, denn du bist nicht viel mehr, als die Näherin, die mich zusammengeflickt hat.«

Empörung wallt in ihr auf wie eine Woge im Ozean. »Ach ja? Ich denke, ich bin ein bisschen mehr als das!«

»Willst du mir sagen, dass du meine Schöpferin bist? Soll ich Lobgesänge auf dich anstimmen? Oder noch besser: Warum schneide ich mir nicht mein gestohlenes Herz heraus und opfere es dir auf einem Altar?«

»Es reicht!«

Cam lässt sich in seinen Stuhl fallen. Mit seiner ziellosen Wut kommt er sich vor wie ein ausgewrungener Putzlappen.

Roberta nimmt ihre Serviette, um den Tee aufzutupfen, denn die Tischdecke ist mit dieser Aufgabe überfordert. Cam fragt sich, ob die Tischdecke der Serviette ihre Saugfähigkeit neiden würde, wenn ihr von Rechts wegen ein Menschsein zugesprochen würde.

»Ich muss dir was zeigen«, sagt Roberta. »Etwas, das du begreifen musst, um ein besseres Verständnis für die ganze Sache zu bekommen.«

Sie steht auf, geht in die Küche und kehrt mit einem Stift und einem leeren Blatt Papier zurück. Dann setzt sie sich neben ihn, schlägt die Tischdecke zurück und legt das Papier auf eine trockene Stelle der Holzplatte.

»Bitte schreib deinen Namen.«

»Wozu?«

»Das siehst du gleich.«

Cam ist zu empört, um zu diskutieren. Er nimmt den Stift, schaut auf das Blatt und schreibt, so schön er kann, »Camus Comprix«.

»Gut. Jetzt dreh das Blatt um und schreib ihn noch einmal.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Tu mir den Gefallen.«

Er dreht das Blatt um, aber bevor er seinen Namen schreiben kann, unterbricht ihn Roberta: »Schau nicht hin«, sagt sie. »Schau mich an, während du schreibst. Und rede auch mit mir.«

»Worüber?«

»Was immer du auf dem Herzen hast.«

Cam schaut Roberta an und schreibt seinen Namen, während er ein passendes Zitat von seinem Namensvetter Albert Camus vorträgt: »Das Bedürfnis, recht zu haben, Kennzeichen eines gewöhnlichen Geistes.« Dann reicht er Roberta das Blatt. »Hier. Zufrieden?«

»Warum schaust du dir deine Unterschrift nicht an, Cam?«

Er senkt den Blick. Zuerst denkt er, er sieht seine Unterschrift, wie sie sein sollte. Aber dann scheint sich ein Schalter in seinem Kopf umzulegen, und die Unterschrift, die er sieht, ist gar nicht seine. »Was ist das? Das habe ich nicht geschrieben.«

»Doch, Cam. Lies es.«

Die Buchstaben sind ein bisschen krakelig: »Will Tash … Tashi …«

»Wil Tashi’ne«, sagt Roberta. »Du hast seine Hände und seine entsprechenden neurologischen Zentren in deinem Kleinhirn, außerdem ist da noch anderes wichtiges kortikales Material. Verstehst du? Seine Nervenverbindungen und sein Muskelgedächtnis erlauben dir, Gitarre zu spielen, und geben dir eine ganze Reihe andere feinmotorische Fertigkeiten.«

Cam kann seinen Blick nicht von der Unterschrift lösen. Der Schalter in seinem Kopf klappt hin und her: Meine Unterschrift. Nicht meine Unterschrift. Meine. Nicht meine.

Roberta betrachtet ihn mit unendlichem Mitleid: »Wie kannst du ein Dokument unterschreiben, Cam, wenn dir noch nicht einmal deine Unterschrift gehört?«

 

Roberta kann es nicht leiden, wenn Cam alleine ausgeht, schon gar nicht abends. Aber an diesem Abend kann ihn nichts, was sie sagt oder tut, aufhalten.

Er geht mit schnellen Schritten eine Straße hinunter, die vom Regen des Tages immer noch nass ist, aber er hat das Gefühl, dass er nicht vorankommt. Er weiß nicht einmal, wohin er will, nur weg von dem Fleck, wo er in diesem Augenblick ist, denn er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Wie wird das noch mal in der Werbung genannt? Genau, Biosystemische Disunifikationsstörung – eine erfundene Krankheit, die nur durch Umwandeln in geeigneter Weise geheilt werden kann.

All seine Intrigen, all seine Tagträume, wie er das Proaktive Bürgerforum erledigt, wie er der Held wird, den Risa braucht – all das bedeutet nichts, wenn er nur etwas ist, das dem Militär gehört. Und Roberta irrt sich. Es ist mehr als eine rechtliche Definition. Warum versteht sie nicht, dass man die Fähigkeit verliert, sich selbst zu definieren, wenn man definiert wird? Am Ende wird er selbst zu dieser Definition. Dann ist er ein Ding.

Er braucht unbedingt eine Bestätigung seiner Existenz, die all das Rechtliche aussticht. Etwas, an das er sich in seinem Herzen klammern kann angesichts all dessen, was auf dem Papier steht. Risa könnte ihm so etwas geben. Er weiß, dass sie es kann, aber sie ist nicht da, oder?

Vielleicht gibt es aber auch andere Orte, wo er es finden könnte.

Er durchforstet seine Erinnerungen und versucht, Momente aufzuspüren, in denen eine spirituelle Verbindung mitschwingt. Er hat die Erstkommunion empfangen, ist Bar-Mizwa gewesen und hat die Basmala gesprochen. Er hat zugesehen, wie ein Bruder in einer griechisch-orthodoxen Kirche getauft und wie eine Großmutter bei einer traditionellen buddhistischen Bestattung verbrannt wurde. Praktisch jede Glaubensrichtung ist in seinen Erinnerungen vorhanden, und er fragt sich, ob sie das absichtlich so eingerichtet haben. Er würde es Roberta zutrauen, dass sie seine Teile unter anderem danach auswählte, dass alle wichtigen Religionen vertreten sind. So pingelig ist sie eben.

Aber welche Religion wird ihm geben, was er braucht? Wenn er mit einem Rabbi oder einem buddhistischen Priester spricht, wird er sehr weise Reaktionen bekommen, die mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. »Existieren wir, weil andere unsere Existenz wahrnehmen, oder genügt tatsächlich unsere eigene Bestätigung unserer Existenz?«

Nein. Cam braucht eine bodenständige Lehre, die ihm konkret mit Ja oder Nein antwortet.

Ein paar Blocks weiter steht eine katholische Kirche – ein altes Gebäude mit eindrucksvollen Buntglasfenstern. Er stellt sich aus seinem inneren Trupp eine Gruppe von Gläubigen zusammen, die so groß ist, dass sie ihm beim Betreten der Kirche ein Gefühl von staunender Ehrfurcht vermittelt.

Nur wenige Menschen sind anwesend. Die Messe ist vorbei, und die letzten Beichten werden abgenommen. Cam weiß, was er zu tun hat.

 

»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt.«

»Nenn mir deine Sünden, mein Sohn.«

»Ich habe Dinge zerstört. Ich habe gestohlen. Elektronische Geräte. Ein Auto, vielleicht auch zwei. Einmal bin ich vielleicht einem Mädchen gegenüber gewalttätig geworden. Ich bin mir nicht sicher.«

»Du bist dir nicht sicher? Wie kannst du dir nicht sicher sein?«

»Keine einzige meiner Erinnerungen ist vollständig.«

»Mein Sohn, du kannst nur Sünden beichten, an die du dich erinnerst.«

»Genau das versuche ich Ihnen ja zu sagen, Vater. Ich habe keine vollständigen Erinnerungen. Nur Bruchstücke.«

»Nun, ich werde dir die Beichte abnehmen, aber es hört sich an, als bräuchtest du mehr als dieses Sakrament.«

»Die Erinnerungen kommen von anderen Menschen.«

»…«

»Haben Sie mich verstanden?«

»Du hast Teile von Wandlern erhalten?«

»Ja, aber …«

»Mein Sohn, du kannst nicht verantwortlich gemacht werden für die Taten eines Geistes, der nicht deiner ist, ebenso wenig wie du für die Taten einer transplantierten Hand verantwortlich sein kannst.«

»Davon hab ich auch zwei.«

»Wie bitte?«

»Mein Name ist Camus Comprix. Sagt Ihnen dieser Name was?«

»…«

»Ich sagte, ich heiße …«

»… ja, ja, ich hab dich schon verstanden. Ich bin nur überrascht, dass du hier bist.«

»Weil ich keine Seele habe?«

»Weil ich nur sehr selten Personen des öffentlichen Lebens die Beichte abnehme.«

»Bin ich das? Eine Person des öffentlichen Lebens?«

»Warum bist du hier, mein Sohn?«

»Weil ich Angst habe. Weil ich Angst habe, dass ich vielleicht nicht … sein könnte …«

»Deine Anwesenheit hier beweist, dass es dich gibt.«

»Aber als was? Sie müssen mir sagen, dass ich kein Löffel bin. Dass ich keine Teekanne bin!«

»Du sprichst wirr. Bitte, da warten noch andere.«

»Nein! Das ist wichtig! Sie müssen mir sagen … ich muss wissen … ob ich als Mensch gelte.«

»Weißt du, die Kirche hat keinen offiziellen Standpunkt zum Thema Umwandlung.«

»Danach habe ich nicht gefragt.«

»Ja, ja, ich weiß, dass du nicht danach gefragt hast. Ich weiß es. Ich weiß.«

»Aber was denken Sie als Geistlicher …«

»Du erwartest zu viel von mir. Ich bin hier, um Absolution zu erteilen, mehr nicht.«

»Aber Sie haben doch eine Meinung, oder?«

»…«

»Als Sie zum ersten Mal von mir gehört haben …«

»…«

»Was haben Sie damals gedacht, Vater?«

»Es steht mir nicht zu, das zu sagen, und dir steht es nicht zu, zu fragen!«

»Aber ich frage!«

»Es dient nicht deinem Wohl, die Antwort zu hören!«

»Dann stehen Sie auf dem Prüfstand, Vater. Und das ist Ihre Prüfung: Werden Sie die Wahrheit sagen, oder werden Sie mich in Ihrem eigenen Beichtstuhl belügen?«

»Meine Meinung …«

»Ja.«

»Meine Meinung … meine Meinung war, dass dein Erscheinen in dieser Welt das Ende aller Dinge bedeutete, die uns lieb und teuer sind. Aber diese Meinung entsprang der Furcht und der Unwissenheit. Das gebe ich zu! Und heute sehe ich das schreckliche Abbild meiner eigenen armseligen Urteile. Verstehst du?«

»…«

»Ich gestehe, dass ich mich von deiner Frage gedemütigt fühle. Wie kann ich mich dazu äußern, ob du einen göttlichen Funken in dir trägst oder nicht?«

»Ein einfaches Ja oder Nein genügt.«

»Niemand auf Erden kann diese Frage beantworten, Camus Comprix … Und du solltest vor jedem davonlaufen, der behauptet, dass er es kann.«

 

Cam streift ziellos durch die Straßen. Er weiß nicht, wo er ist, und es ist ihm auch egal. Bestimmt hat Roberta schon einen Suchtrupp nach ihm ausgeschickt.

Und wenn sie ihn finden? Dann bringen sie ihn nach Hause, und Roberta schimpft ihn tüchtig aus. Danach verzeiht sie ihm alles. Und morgen oder übermorgen oder überübermorgen probiert er die fesche Uniform an, die an seiner Tür hängt. Sie wird ihm gefallen, und er wird sich zu seinen neuen Besitzern kutschieren lassen.

Es wird unvermeidlich so kommen, das weiß er. Und er weiß auch, dass am Tag, an dem dies geschieht, jeder Funke, den er in sich trägt, für immer verlöschen wird.

Ein Bus nähert sich auf der Straße, seine Scheinwerfer hüpfen auf und nieder, als er durch ein Schlagloch fährt. Cam könnte mit dem Bus nach Hause fahren. Oder er könnte mit dem Bus weit weg fahren. Aber diese beiden Möglichkeiten beschäftigen seinen Geist im Augenblick nicht.

Und so betet er in neun Sprachen zu einem Dutzend Gottheiten – zu Jesus, zu Jahwe, zu Allah, zu Vishnu, zum »Ich« des Universums und sogar zu der großen, gottlosen Leere.

Bitte, fleht er. Bitte gib mir einen einzigen Grund, warum ich mich nicht vor diesen Bus werfen sollte.

Und als die Antwort kommt, kommt sie auf Englisch, und zwar nicht vom Himmel, sondern aus der Bar hinter ihm.

»… haben bestätigt, dass Connor Lassiter, auch bekannt als der Flüchtling aus Akron, noch am Leben ist. Man vermutet, dass er zusammen mit Lev Calder und Risa Ward unterwegs ist …«

Der Bus rollt vorbei und bespritzt seine Jeans mit Dreck.

 

Fünfundvierzig Minuten später kehrt Cam nach Hause zurück. Er ist von einem neuen Gefühl der Ruhe erfüllt, als ob nichts geschehen sei. Roberta schimpft mit ihm. Roberta verzeiht ihm. Immer dasselbe.

»Du darfst dich nicht immer so leichtfertig deinen Launen hingeben«, tadelt sie.

»Ja, ich weiß.« Dann sagt er ihr, dass er den »Vorschlag« von General Bodeker akzeptiert.

Roberta ist natürlich erleichtert und überglücklich. »Das ist ein großer Schritt für dich, Cam. Ein Schritt, den du machen musst. Ich bin so stolz auf dich.«

Wie der General wohl reagiert hätte, wenn er den Vorschlag nicht angenommen hätte? Bestimmt wären sie trotzdem gekommen. Hätten ihn zum Gehorsam gezwungen. Wenn er ihr Eigentum ist, dann haben sie schließlich das Recht, mit ihm zu machen, was sie wollen.

Cam geht in sein Zimmer und steuert direkt auf seine Gitarre zu. Heute spielt er nicht einfach so vor sich hin, sondern mit einem Ziel, das nur er selbst kennt. Die Musik bringt Erinnerungen mit sich wie das Nachbild einer hellen Landschaft. Bestimmte Griffe und Akkordabfolgen haben eine größere Wirkung, deshalb verändert er sie immer wieder. Langsam gräbt er immer tiefer.

Seine Akkorde klingen atonal und zufällig, aber sie sind es nicht. Für Cam ist es, als würde er das Einstellrad eines Safes drehen. Man kann jeden Code knacken, wenn man geschickt ist und weiß, worauf man hören muss.

Dann endlich, nach mehr als einer Stunde, fügt sich alles zusammen. Vier Akkorde, ungewöhnlich in ihrer Kombination, aber machtvoll und aufrüttelnd, steigen an die Oberfläche. Immer und immer wieder spielt er die Akkorde, probiert verschiedene Griffe aus, feilt an den Tönen und Harmonien und lässt die Musik durch sich hindurchklingen.

»Das habe ich noch nie gehört.« Roberta steckt den Kopf in sein Zimmer. »Ist das neu?«

»Ja«, lügt Cam. »Ganz neu.«

Aber in Wirklichkeit ist das Stück sehr alt. Viel älter als er. Er musste tief graben, um es hervorzuholen, aber kaum hatte er es gefunden, ist es, als wäre es schon immer in seinen Fingern gewesen, ganz am Rand seines Gedächtnisses, wo es darauf wartete, gespielt zu werden. Das Stück erfüllt ihn mit unermesslicher Freude und unermesslichem Schmerz. Es erzählt von hochfliegenden Hoffnungen und geplatzten Träumen. Und je öfter er es spielt, desto mehr Bruchstücke tauchen aus seiner Erinnerung auf.

Als er den Nachrichtenbericht aus der Bar gehört hatte, als er hineingegangen war und das Gesicht des Flüchtlings aus Akron, seine geliebte Risa und den vom Zehntopfer zum Klatscher mutierten Typen auf dem Fernsehschirm gesehen hatte, war er überwältigt. Zum einen von der Nachricht, dass Connor Lassiter am Leben war, aber auch vom Gefühl einer geistigen Verbindung, die seine Nähte kribbeln ließ.

Es war das Zehntopfer. Dieses unschuldige Gesicht. Cam kannte das Gesicht, und zwar nicht nur aus den vielen Zeitungsartikeln und Fernsehberichten. Da war noch mehr.

 

Er war verletzt.

Er musste gesund werden.

Ich habe für ihn Gitarre gespielt.

Ein heilendes Lied.

Für den Mahpee.

 

Cam hat keine Ahnung, was das bedeutete, nur, dass es der Funke einer Verbindung war, eine Synapse in seinem komplizierten Mosaik von Neuronen. Er kennt Lev Calder, zumindest ein Mitglied seines inneren Trupps kennt ihn, und die Bekanntschaft ist irgendwie an Musik geknüpft.

Und jetzt spielt Cam.

Um 2:00 Uhr morgens hat er endlich genug aus seinem musikalischen Gedächtnis zusammengetragen, um zu verstehen: Die Arápache hatten Lev Calder einst Asyl geboten. Keiner von denen, die nach ihm suchen, weiß das. Er hat also ein perfektes Versteck. Aber Cam weiß Bescheid. Die Macht dieses Wissens ist so berauschend, dass ihm schwindlig wird, denn wenn Lev wirklich mit Risa und diesem Connor zusammen ist, dann sind sie im Reservat der Arápache, wo die Jugendbehörde keinen Zugriff hat.

Hatte Risa die ganze Zeit gewusst, dass Connor Lassiter am Leben ist? Das würde so viel erklären. Warum sie ihr Herz nicht Cam schenken konnte. Warum sie so oft in der Gegenwart von Lassiter sprach, als warte er gleich um die Ecke, um sie wegzuzaubern.

Cam sollte wütend sein, aber stattdessen fühlte er sich bestätigt. Beschwingt sogar. Er hatte keine Hoffnung gehabt, im Kampf gegen einen Geist ihre Zuneigung zu gewinnen, aber Connor Lassiter existiert immer noch in Fleisch und Blut – und das heißt, er kann übertroffen werden! Er kann geschlagen werden, entehrt oder was immer auch notwendig sein wird, um Risas Liebe zu ihm abzutöten. Und am Ende, wenn er bei Risa in Ungnade gefallen ist, wird Cam da sein, um sie aufzufangen.

Danach kann Cam den Flüchtling aus Akron persönlich seiner gerechten Strafe zuführen und damit selbst so weit zum Helden werden, dass er sich seine Freiheit kaufen kann.

Um 3 Uhr morgens schlüpft er aus dem Haus. Er lässt sein Scheinleben hinter sich und will erst zurückkehren, wenn er Risa Ward unterm Arm und Connor Lassiter mit dem Absatz zertreten hat.