35. Lev

Im Gästezimmer hängen mehr Bilder von Wil als im ganzen Haus der Tashi’nes. Sie stammen aus einer Zeit, lange bevor Lev ihn kennenlernte. Ja, das Zimmer hat die unangenehme Atmosphäre eines Schreins.

»Glaubst du, sie hat ein Problem? Ich meine, wegen ihrer verlorenen Flamme?«, fragt Connor unbekümmert.

»Ihrem Verlobten«, verbessert ihn Lev. »Die beiden kannten sich ihr Leben lang, also sei bitte ein bisschen sensibler.«

Connor hebt abwehrend die Hände. »Na gut, na gut. Tut mir leid.«

»Wenn du sie für dich gewinnen willst, wasch das Hemd und lass es hier, wenn wir gehen.«

»Sie für mich zu gewinnen, steht auf meiner Liste nicht gerade ganz oben.«

Lev zuckt die Schultern. »Dann bekommst du wahrscheinlich auch keinen Gitarrenrabatt.«

Lev legt sich hin und schließt die Augen. Es ist zwar schon spät, aber er kann nicht schlafen. Er hört Una in der Küche die verbrannte Pfanne saubermachen und die Wohnung aufräumen, damit sie morgen früh so tun kann, als hätten sie sich die chaotische Wohnung, die sie heute Abend zu Gesicht bekommen haben, nur eingebildet.

Obwohl sich Connor auf der Matratze nicht rührt, scheint auch er vom Schlaf weit entfernt zu sein.

»Heute Abend beim Abendessen ist mir das Wort zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder über die Lippen gekommen«, sagt Connor.

Lev braucht ein paar Sekunden, bis ihm der Moment wieder einfällt, der für Connor eindrücklicher war als für ihn. Connor hat das M-Wort nicht wiederholt. »Elina hat bestimmt Verständnis dafür.«

Connor dreht sich zu Lev um und sieht im Dämmerlicht zu ihm hinauf. »Warum komme ich leichter mit einem Heckenschützen zurecht als damit, was ich heute bei Tisch gesagt habe?«

»Vielleicht«, antwortet Lev, »bist du einfach gut in der Krise und mies im Alltag.«

Da muss Connor lachen. »›Gut in der Krise, mies im Alltag.‹ Das trifft mein Leben ganz gut, was?« Er verstummt, doch Lev ahnt, dass noch etwas kommt, und er ahnt auch schon, was.

»Lev, denkst du je …«

»Nein«, unterbricht ihn Lev. »Und das solltest du auch nicht. Jedenfalls nicht jetzt.«

»Aber du weißt doch gar nicht, was ich fragen wollte.«

»Du wolltest die Eltern-Frage stellen, stimmt’s?«

Connor schmollt kurz, ehe er sagt: »Du warst als Zehntopfer schon eine Nervensäge und bist es immer noch.«

Lev kichert und wirft das lange Haar zurück. Das ist ihm zur Gewohnheit geworden. Jedes Mal, wenn ihn jemand an seine Zeit als Zehntopfer erinnert, tröstet er sich mit seiner wilden blonden Mähne.

»Meine Eltern wissen jetzt bestimmt, dass ich am Leben bin«, sagt Connor. »Mein Bruder muss es auch wissen.«

Das interessiert Lev nun doch. »Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.«

»Er heißt Lucas. Er hat immer die Preise eingeheimst und ich das Nachsitzen. Wir haben uns dauernd gestritten. Aber das kennst du ja bestimmt. Du hast schließlich eine ganze Wagenladung voller Geschwister, oder?«

Lev schüttelt den Kopf. »Nicht mehr. Ich betrachte mich mittlerweile als einköpfige Familie.«

»Ich glaube, Una sieht das anders, ›kleiner Bruder‹.«

Das ist tröstlich, findet auch Lev, aber nicht tröstlich genug. Er beschließt, Connor etwas zu erzählen, das er noch niemandem erzählt hat, nicht einmal Miracolina, damals in den verzweifelten Tagen, die sie zusammen verbracht haben.

»Nachdem die Klatscher das Haus meines Bruders in die Luft gesprengt haben, hat mich mein Vater, den ich über ein Jahr nicht mehr gesehen hatte, verstoßen.«

»Das ist hart«, sagt Connor. »Tut mir leid.«

»Tja. Im Wesentlichen hat er gesagt, ich hätte mich damals im Happy Jack in die Luft sprengen sollen.«

Darauf hat Connor keine Antwort. Was soll er auch sagen? Ja, Connors Eltern haben ihn zur Umwandlung geschickt, aber was Levs Vater da gemacht hat, schlägt an Herzlosigkeit wirklich alles.

»Das hat mich mehr verletzt als alles andere. Aber ich habe es überlebt und meinen Nachnamen von Calder in Garrity ändern lassen, nach Pastor Dan, der starb, als das Haus in die Luft flog. Ich habe meine Familie also auch verstoßen. Wenn der Schmerz noch einmal zuschlägt, werde ich schon damit fertig, schätze ich, aber ich bin wirklich nicht scharf darauf.«

Connor dreht ihm den Rücken zu. »Klar«, sagt er gähnend. »Da sind wir wohl beide nicht scharf drauf.«

 

Lev wartet, bis Connor tief und gleichmäßig atmet, und geht dann ins Wohnzimmer. Una sitzt mit einer Tasse dampfendem Tee in einem bequemen Sessel. Dem Duft nach handelt es sich um eine von Elinas Kräutermischungen. Una scheint in Gedanken verloren, die mindestens so vielschichtig sind wie das aromatische Gebräu.

»Was ist das für einer?«, fragt Lev.

Beim Klang seiner Stimme zuckt sie zusammen. »O, Elina nennt ihn Téce’ni hinentééni, ›Nachterholung‹. Beruhigt die Seele und den Magen. Ich glaube, er besteht überwiegend aus Kamille und Ginseng.«

»Ist noch etwas für mich da?«

Sie gibt Teeblätter in eine Tasse und schenkt ihm heißes Wasser ein. Er lässt den Tee ziehen und beobachtet, wie die Blätter auf dem Wasser tanzen. Das einzige Geräusch im Raum ist Grace’ leises Schnarchen vom Sofa her. Normalerweise kommt Lev ganz gut mit Stille zurecht, doch was zwischen ihnen in der Luft hängt, erfordert Worte.

»Glaubst du, Pivane weiß, dass du durch das Fenster geschossen hast?«

Una verrät mit keiner Regung, dass Levs Worte sie überrascht haben. Sie nippt an ihrem Tee. »Deine Anschuldigung beleidigt mich, kleiner Bruder«, sagt sie schließlich.

»Ich habe dich immer geachtet, Una«, sagt Lev. »Hab bitte so viel Selbstachtung, nicht zu lügen.«

Sie sieht ihn an, und ein Dutzend Gedanken spiegeln sich in ihrem Blick wider, ehe sie die Tasse abstellt und sagt: »Pivane weiß es. Ich bin mir sicher. Warum hätte er euch sonst hergebracht und mir das Versprechen abgenommen, euch zu beschützen?« Ihr Blick wandert zu dem Gewehr neben ihr. »Und das mache ich. Auch wenn ich euch vor mir selbst beschützen muss.«

»Warum?«, fragt Lev. »Warum hast du das gemacht?«

»Warum?«, äfft Una ihn nach. »Warum, warum, warum! Das ist die Frage, oder? Ich frage dauernd ›Warum‹, aber die einzige Antwort, die ich bekomme, ist das Rascheln der Blätter und das Singen der balzenden Vögel.«

Lev sagt nichts. Er sieht, dass ihre Augen feucht sind, doch sie schluckt die Tränen hinunter.

»Ich habe es gemacht, weil du, wo immer du hingehst, schreckliche Dinge im Schlepptau hast, Lev. Das erste Mal, als du kamst, tauchten die Teilepiraten auf und nahmen Wil mit. Und jetzt bringst du den meistgesuchten Flüchtling in der Geschichte der Umwandlung hierher. Ich dachte, der Schuss würde die Tashi’nes zur Vernunft bringen, und sie würden euch wegschicken. Aber ich habe es wahrscheinlich nicht anders verdient.«

»Du hast gesagt, du wolltest, dass ich bleibe.«

»Ich wollte es, und ich wollte es nicht. Ich will es, und ich will es nicht. Es war ein schlimmer Tag heute. Heute wollte ich, dass du und deine Freunde verschwinden.«

»Und jetzt?«

»Jetzt trinke ich Tee.« Schweigend nimmt sie ihre Tasse und nippt daran.

Lev kann verstehen, dass sie hin- und hergerissen ist, doch es tut auch weh. Verrät sie ihn, wenn sie sich wünscht, dass er geht … oder verrät er sie, einfach nur dadurch, dass er da ist? Una beugt sich vor, und Lev lehnt sich unwillkürlich zurück, um Abstand zu wahren.

»Du, kleiner Bruder, bist ein Unglücksbote«, sagt sie. »Und ich weiß so sicher, wie wir beide hier sitzen, dass wegen dir noch etwas viel Schlimmeres geschehen wird.«