18. Lev

Er springt durch ein dichtes Blätterdach, hoch oben, wo die Baumkronen den Himmel berühren. Es ist Nacht, aber der Mond scheint so hell wie die Sonne. Es gibt keine Erde, nur Bäume. Vielleicht spielt der Boden auch nur eine so geringe Rolle, dass er genauso gut gar nicht existieren könnte. Aufgewühlt von einer warmen Brise wogen die Baumkronen wie die Wellen des Ozeans unter dem klaren Himmel.

Vor ihm hüpft ein Wesen durch das Blattwerk. Immer wieder wendet es sich um und schaut Lev an. Es hat riesige Augen in seinem kleinen, behaarten Gesicht. Wie in einem Cartoon. Es flieht nicht vor Lev, sondern es führt ihn. Hier entlang, scheinen seine gefühlvollen Augen zu sagen, die den Mond zweifach widerspiegeln.

Wohin führst du mich?, will Lev fragen, aber er kann nicht sprechen. Und selbst wenn er könnte – er würde keine Antwort bekommen.

Lev springt mit einer instinktiven Gewandtheit von Ast zu Ast, die er im Leben nicht besessen hatte. Deshalb weiß er, dass er tot sein muss. Die Erfahrung ist zu klar, zu lebendig, um etwas anderes zu sein. Als Lev noch am Leben war, interessierte er sich nie dafür, auf Bäume zu klettern. Als Kind hatten seine Eltern es nicht gutgeheißen. Zehntopfer müssen ihre wertvollen Körper schützen, sagte man ihm, und wenn man auf Bäume klettert, kann man sich die Knochen brechen.

Brechen.

Er hat sich bei einem Autounfall die Knochen gebrochen und schwere innere Verletzungen davongetragen. Die Verletzungen müssen noch schlimmer gewesen sein, als irgendjemand angenommen hatte. Verschwommen erinnert er sich daran, dass sie am Osttor des Arápache-Reservats angehalten haben. Er hat seine eigene Stimme gehört, die dem Wachposten etwas sagte, aber er weiß nicht mehr, was. Zu diesem Zeitpunkt hatte er hohes Fieber und wollte nur schlafen. Bevor er erfuhr, ob der Wachposten sie durchlassen würde oder nicht, war er wieder bewusstlos geworden.

Aber all das spielt jetzt keine Rolle. Irgendwie lässt der Tod die Sorgen der Lebenden unbedeutend erscheinen. Wie den Boden unten. Wenn es überhaupt einen Boden dort gibt.

Er macht wieder einen Satz und steigert sein Tempo. Es hat einen Rhythmus wie ein Herzschlag. Die Zweige scheinen genau dort aufzutauchen, wo er sie braucht.

Endlich erreicht er den äußersten Rand des Waldes am äußersten Rand der Welt. Oben und unten nur sternenklare Dunkelheit. Er hält nach dem Wesen Ausschau, das ihn geführt hat, aber es ist nirgends zu sehen. Da wird ihm mit dunkler Verwunderung klar, dass es niemals ein Wesen gab. Er ist das Wesen, er projiziert seine Seele auf den Weg, während er durch die Wipfel springt.

Der Mond ist so klar und so groß, dass Lev glaubt, ihn mit bloßen Händen erreichen zu können. Da begreift er, dass er genau das tun soll. Hol den Mond vom Himmel.

Es wird verheerende Folgen haben, wenn er den Mond vom Himmel pflückt. Die Gezeiten werden sich ändern, und die Meere werden fassungslos schäumen. Länder werden überflutet, während Meeresbuchten sich in Wüsten verwandeln. Erdbeben werden Gebirge verschieben, und überall werden sich die Menschen an eine neue Lebenswirklichkeit anpassen müssen. Wenn er den Mond vom Himmel reißt, wird sich alles verändern.

Mit grenzenloser Freude und absoluter Unbekümmertheit macht Lev sich an seine Aufgabe und springt vom Rand der Welt mit ausgebreiteten Armen in Richtung Mond.

 

Lev schlägt die Augen auf. Da ist kein Mond. Und keine Sterne. Kein Blätterdach. Nur weiße Wände und die weiße Decke eines Raumes, den er lange nicht gesehen hat. Er fühlt sich schwach und schlapp. Sein ganzer Körper schmerzt, aber er kann noch nicht feststellen, wo genau der Schmerz sitzt. Er scheint von überallher zu kommen. Lev ist also doch nicht tot, und einen Augenblick lang ist er enttäuscht. Denn wenn der Tod ein ewig währender, fröhlicher Ausflug durch das Blätterdach eines Waldes ist, dann kann er damit leben. Oder eben nicht leben.

Das ist der Raum, in dem er hoffte, sich wiederzufinden, wenn er aufwacht. Gegenüber sitzt eine Frau an einem Schreibtisch und notiert etwas in einer Akte. Er kennt sie. Liebt sie sogar. Er kann die Menschen in seinem Leben, die er gerne wiedersehen würde, an einer Hand abzählen. Und diese Frau gehört dazu.

»Heilerin Elina«, will er sagen, aber die Worte klingen wie das Quieken einer Maus.

Sie klappt den Ordner zu, dreht sich zu ihm um und betrachtet ihn mit einem gequälten Lächeln: »Willkommen zurück, mein kleiner Mahpee.«

Er versucht, zu lächeln, aber seine Lippen schmerzen. Mahpee – »der vom Himmel gefallen ist«. Er hatte vergessen, dass sie ihn so genannt hatten. So viel hat sich verändert, seit er zuletzt hier war. Er ist nicht mehr der Junge, der er war, als sie ihn erstmals als Flüchtling unter ihre Obhut nahmen. Das war zu Beginn seiner schwarzen Tage, nachdem er CyFi verlassen hatte und bevor er auf dem Flugzeug-Friedhof aufgetaucht war.

Elina kommt zu ihm herüber, und sofort fallen ihm die grauen Strähnen in ihrem Zopf auf. Waren sie schon vor anderthalb Jahren dort gewesen, und er hatte sie nur nicht bemerkt, oder sind sie neu? Jedenfalls hat sie Grund genug für neue graue Haare.

»Es tut mir leid«, krächzt er.

Sie scheint ehrlich überrascht: »Was?«

»Dass ich hier bin.«

»Du solltest dich niemals dafür entschuldigen, dass es dich gibt, Lev. Nicht mal bei all den Leuten da draußen, die wünschten, es würde dich nicht geben.«

Er fragt sich, wie viele solcher Menschen wohl gerade im Reservat sind. »Nein … Ich meine, es tut mir leid, dass ich zurück ins Reservat gekommenen bin.«

Sie schaut ihn einen Augenblick an. Nicht mehr lächelnd, sondern beobachtend. »Ich bin froh, dass du es getan hast.«

Aber Lev bemerkt, dass sie nicht »wir« sagt.

»Ich fand, dass du hier in meinem Haus besser aufgehoben bist als in der Medizinhütte, sobald dein Zustand stabil war.« Sie überprüft die Infusion, die in seinen rechten Unterarm läuft. Er hatte sie noch gar nicht bemerkt. »Du siehst ein bisschen aufgedunsen aus, aber das liegt wahrscheinlich nur an der Hyperhydratation. Ich stell die hier mal ein Weilchen ab.« Und damit stoppt sie die Flüssigkeitszufuhr. »Wahrscheinlich hast du deshalb so geschwitzt, als das Fieber gesunken ist.« Sie schaut ihn noch einmal an, um abzuschätzen, was sie ihm sagen kann: »Du hast zwei gebrochene Rippen und hattest ziemlich heftige innere Blutungen. Wir mussten deinen Brustkorb teilweise öffnen, um die Blutung zu stillen, aber das wird alles verheilen, und ich habe Kräuter, die eine Narbenbildung verhindern.«

»Wie geht es Chal?«, fragt Lev. »Und Pivane?« Elinas Mann Chal ist ein berühmter Arápache-Rechtsanwalt. Sein Bruder Pivane verlässt das Reservat eher selten.

»Chal hat einen wichtigen Fall in Denver, aber Pivane wirst du schon bald sehen.«

»Will er mich denn sehen?«

»Du kennst doch Pivane. Er wartet, bis er eingeladen wird.«

»Und meine Freunde?«, fragt Lev. »Sind sie auch da?«

»Ja«, antwortet Elina. »War geradezu eine Invasion von Mahpees, diese Woche.« Sie geht zu einem Hi-Fi-Turm, fummelt ein bisschen daran herum, und dann ertönt Musik. Gitarrenmusik.

Er erkennt das Stück von seinem ersten Aufenthalt im Reservat, und es geht ihm sehr zu Herzen. Das erste Mal war er über die Mauer im Süden geklettert und hatte sich beim Herabfallen verletzt. Damals war er im selben Raum aufgewacht. Ein achtzehnjähriger Junge hatte so gekonnt Gitarre gespielt, dass Lev ganz fasziniert gewesen war. Aber jetzt ist von ihm nur noch eine Aufnahme übrig.

»Das ist eines von Wils heilenden Stücken«, sagt Elina. »Wils Musik lebt weiter, auch wenn er nicht mehr ist. Das ist ein Trost für uns. Manchmal.«

Lev zwingt sich zu einem Lächeln, und diesmal schmerzen seine Lippen nicht so schlimm. »Es ist gut … hier zu sein.« Fast hätte er »zu Hause« gesagt. Dann schließt er die Augen, denn er fürchtet sich davor, was ihre Augen darauf antworten.