13. Cam
Es gibt viele Mirandas.
Unendlich viele Mädchen, gelangweilt von der öden Vertrautheit mit normalen Jungen, stürzen sich auf Cam, als würden sie sich von einer Klippe stürzen. Denn alle erwarten, dass er sie mit seinen starken Designerarmen auffängt. Und manchmal tut er das auch.
Sie wollen mit ihren Fingern an den symmetrischen Linien seines Gesichts entlangfahren. Sie wollen sich in den Tiefen seiner gefühlvollen blauen Augen verlieren. Und das Bewusstsein, dass die Augen eigentlich gar nicht ihm gehören, verstärkt diesen Wunsch nur noch.
Cam hat wenige Auftritte, die so schick sind wie die Gala in Washington, so dass er selten einen Smoking benötigt. Meistens muss er eine Rede halten. Da trägt er ein maßgeschneidertes Sakko mit Krawatte und Hosen, die gerade so lässig sind, dass er nicht zu kommerziell aussieht, zu sehr wie das Produkt des Proaktiven Bürgerforums, das insgeheim alles finanziert, was er tut.
Cam und Roberta sind auf einer Vortragsreise zu verschiedenen Universitäten. Das sind jeweils recht kleine Veranstaltungen, denn in den meisten Universitäten geht es im Sommer sehr ruhig zu, aber die Professoren müssen sich um ihre Forschungsarbeiten kümmern, und genau auf diese hochangesehenen Akademiker richtet sich ihre Aufmerksamkeit.
»Die wissenschaftliche Gemeinde muss in dir ein lohnendes Projekt sehen«, hatte Roberta ihm erklärt. »Die Herzen und Sympathie der Öffentlichkeit hast du schon gewonnen, jetzt musst du dir auch auf professioneller Ebene Respekt verschaffen.«
Die Veranstaltungen beginnen immer damit, dass Roberta mit einer aufwendigen Multimediapräsentation in bester akademischer Manier darlegt, wie Cam geschaffen wurde, auch wenn sie dieses Wort nicht benutzt. Die Imageberater des Proaktiven Bürgerforums haben nämlich beschlossen, dass Cam nicht geschaffen wurde, sondern »zusammengefügt«. Und die einzelnen Teile, aus denen er besteht, sind sein »inneres Ensemble«.
»Das Zusammenfügen von Camus Comprix dauerte viele Monate«, berichtet Roberta den Zuhörern. »Zuerst mussten wir die hochwertigen Eigenschaften festlegen, die sein inneres Ensemble auszeichnen sollten. Dann mussten wir diese Eigenschaften in dem Bestand der Wandler ausfindig machen, die auf die Zerteilung warteten …«
Wie die Vorgruppe bei einem Konzert bereitet Roberta das Publikum auf das Hauptereignis vor, und dann: »Meine Damen und Herren, ich präsentiere Ihnen den krönenden Abschluss unserer medizinischen und wissenschaftlichen Bemühungen: Camus Comprix!«
Ein Scheinwerfer flammt auf, und Cam tritt unter dem Applaus der Zuhörer – oder ihrem Fingerschnippen, wo öffentlicher Beifall wegen Klatscherangriffen verboten ist – ins Rampenlicht.
Auf dem Podium hält Cam seine vorbereitete Rede, die von einem ehemaligen Redenschreiber des Präsidenten geschrieben wurde. Sie ist gut durchdacht, intelligent und Wort für Wort auswendig gelernt. Dann kommen die Fragen, und obwohl auch Roberta auf der Bühne steht, richten sich die meisten davon an Cam.
»Haben Sie Probleme mit der Koordination?«
»Nein«, antwortet Cam. »Meine Muskelgruppen haben gelernt, miteinander zurechtzukommen.«
»Kennen Sie die Namen der Bestandteile Ihres inneren Ensembles?«
»Nein, aber manchmal erinnere ich mich an Gesichter.«
»Stimmt es, dass Sie neun Sprachen fließend sprechen?«
»Da, no w mojej golowe dostatotschno mesta dlja jeschtscho neskolkich«, sagt er. »Ja, aber in meinem Kopf ist Platz für noch weitere.« Ein paar Zuhörer, die Russisch sprechen, lachen leise.
Er hat alle Antworten gemeistert, sogar die auf bewusst aggressive und provozierende Fragen.
»Geben Sie’s zu – Sie sind nichts weiter als ein Bausatz«, bemerkt ein Zwischenrufer bei seinem Auftritt am MIT. »Sie sind einfach nur wie ein Modellauto, das aus verschiedenen Teilen aus einem Baukasten zusammengeschustert wurde. Warum bezeichnen Sie sich überhaupt als Mensch?«
Cam beantwortet solche Fragen immer höflich, weist aber den Zwischenrufer in seine Schranken.
»Nein, ich bin eher wie ein Konzeptauto«, antwortet er dem Mann, ohne auch nur im Geringsten auf die Feindseligkeit einzugehen, mit der die Frage gestellt wurde. »Das Ergebnis des Einfallsreichtums aller Experten in diesem Bereich.« Und dann fügt Cam lächelnd hinzu: »Und wenn Sie mit Modell etwas meinen, nach dem man streben sollte, stimme ich Ihnen zu.«
»Und was ist mit denen, die ihr Leben gaben, damit Sie leben können?«, ruft jemand aus dem Publikum bei der Veranstaltung an der University of California. »Haben Sie ihnen gegenüber kein schlechtes Gewissen?«
»Danke, dass Sie diese Frage stellen«, sagt Cam in die angespannte Stille hinein. »Ein schlechtes Gewissen würde bedeuten, dass ich etwas mit ihrer Umwandlung zu tun hatte. Aber ich stehe ja nur auf der Empfängerseite. Natürlich bedaure ich, dass wir sie verloren haben, und aus diesem Grund zolle ich ihnen Respekt, indem ich ihren Hoffnungen, ihren Träumen und ihren Talenten eine Stimme gebe. Und genau das tun wir doch immer, wenn wir die in Ehren halten, die vor uns kamen.«
Wenn die Zeit für Fragen um ist, wird der Auftritt mit Musik beendet. Mit Cams Musik. Er holt eine Gitarre und spielt ein klassisches Stück. Seine Musik ist so rein und so aufrichtig, dass sie das Publikum oft zu Standing Ovations hinreißt. Natürlich gibt es im Publikum immer Menschen, die niemals für ihn aufstehen würden, aber ihre Zahl wird immer kleiner.
»Im Herbst brauchen wir größere Veranstaltungsräume«, sagt er nach einem sehr erfolgreichen Abend zu Roberta.
»Willst du lieber in einem Stadion auftreten?«, fragt Roberta mit einem schiefen Grinsen. »Du bist doch kein Rockstar, Cam.«
Aber er weiß es besser.
LESERBRIEF
Betrifft Ihren jüngsten Leitartikel »DIE KONTROVERSE UM CAMUS COMPRIX«. Mit Verlaub, aber ich sehe hier nichts Kontroverses. Vielmehr denke ich, dass die Medien wie immer einen Sturm im Wasserglas entfesselt haben. Ich habe einen der Vorträge von Mr Comprix besucht und fand ihn eloquent, sympathisch und respektabel. Er wirkt intelligent und bescheiden – die Sorte junger Mann, von der ich mir wünschte, meine Tochter würde sie ausnahmsweise mal heimbringen, statt der zwielichtigen Gestalten, die uns dauernd mit ihrer Anwesenheit beehren.
Ihr Leitartikel unterstellt, dass seine Teile ohne Erlaubnis zusammengefügt wurden, aber ich frage Sie: Welcher Wandler – abgesehen von den Zehntopfern – erteilt jemals die Erlaubnis, umgewandelt zu werden? Das ist nicht eine Frage von Erlaubnis. Es ist eine Frage gesellschaftlicher Notwendigkeit, so wie es die Umwandlung von Anbeginn an immer war. Warum also sollten wir nicht von den besten Eigenschaften dieser Wandler Gebrauch machen, um ein besseres Wesen zu schaffen? Wenn ich in meiner Jugend zur Umwandlung bestimmt worden wäre, wäre es mir sicher eine Ehre gewesen, zu wissen, dass ein Teil von mir es wert ist, in Mr Comprix aufgenommen zu werden.
Das Proaktive Bürgerforum, namentlich Dr. Roberta Griswold, muss für die Vision und das selbstlose Engagement für die Verbesserung der Conditio humana gepriesen werden. Denn wenn sogar unsere hoffnungslosen Fälle zu einem so schönen jungen Exemplar recycelt werden können, erfüllt mich das mit Hoffnung für die Zukunft der Menschheit.
Bei jeder Veranstaltung gibt es einen Green Room, einen geschützten Raum, wo man es sich vor dem Auftritt bequem machen oder nach dem gleißenden Bühnenlicht und dem Sperrfeuer von Fragen ausruhen kann. Roberta ist immer im Foyer mit den hohen Tieren in der Theaterlobby beschäftigt, schüttelt Hände und knüpft die entscheidenden, persönlichen Kontakte. Deshalb konnte Cam zum Herrscher der Green Rooms werden: Er wählt sorgfältig aus, wer ihm Gesellschaft leisten darf, wenn er sich nach einem Auftritt entspannt. Seine Gäste sind fast immer weiblich. Eine endlose Parade von Mirandas.
»Spiel etwas nur für uns, Cam«, sagen sie mit einem leisen, bettelnden Trällern in der Stimme, als ob ihr Glück an seiner Antwort hinge. Oder sie laden ihn zu einer Party ein, die er nicht besuchen kann. Stattdessen sagt er diesen Mädchen, dass die Party direkt hier stattfinde. Und das hören sie gern.
Nach seinem erfolgreichen Auftritt im MIT bespaßt er drei solcher Mädchen im Green Room. Er sitzt zwischen zweien auf einem bequemen Sofa, während die Dritte gleich daneben kichernd auf einem Stuhl hockt und promigeil darauf wartet, endlich an die Reihe zu kommen. Wie ein kleines Kind, das auf den Schoß vom Nikolaus möchte. Cam hat auf Bitten seiner Gäste sein Hemd ausgezogen, um seine merkwürdigen Nähte zu zeigen. Jetzt erkundet eines der Mädchen diese Nähte und die in verschiedenen Tönen schimmernde Haut auf seiner Brust. Das andere Mädchen schmiegt sich an ihn und füttert ihn mit süßen, knackigen Jordan-Mandeln.
Schließlich schaut Roberta vorbei. Er hat damit gerechnet. Das hat sich mittlerweile zwischen ihnen so eingespielt. »Schaut mal, meine Lieblingsspaßbremse!«, ruft Cam fröhlich.
Roberta mustert die Mädchen. »Genug gespielt«, sagt sie kühl. »Ich bin sicher, die jungen Damen werden zu Hause erwartet.«
»Nicht wirklich«, sagt das Mädchen, deren Hand auf Cams Brust liegt. Das kichernde Wesen auf dem Stuhl kichert noch mehr.
»Ach, bitte, Großinquisitor«, sagt Cam. »Sie sind so süß, kann ich sie mit nach Hause nehmen?«
Jetzt kichern alle drei Mädchen, als ob sie beschwipst wären, aber Cam weiß, dass sie nur wegen ihm so aufgedreht sind.
Roberta beachtet ihn nicht. »Ihr Mädchen wurdet gebeten, zu gehen. Zwingt mich nicht, den Wachdienst zu holen.«
Wie aufs Stichwort betritt der Wachmann den Raum, bereit, die Mädchen hinauszuwerfen – trotz des Trinkgelds, mit dem Cam ihn bestochen hatte, sie überhaupt erst hereinzulassen.
Widerstrebend stehen die Mädchen auf und verlassen jeweils auf ihre ganz eigene Art den Raum. Ein Mädchen stolziert hinaus, das andere schlendert, und das dritte schleicht sich davon, während es sich bemüht, seine endlosen Kicheranfälle zu unterdrücken. Der Wachmann folgt ihnen, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich gehen, und schließt die Tür hinter sich. Jetzt richtet sich Robertas finsterer Blick auf Cam. Er versucht, sein Grinsen im Zaum zu halten.
»Tracht Prügel? Hausarrest? Ohne Abendessen ins Bett?«, schlägt Cam vor.
Aber Roberta ist keineswegs zu Scherzen aufgelegt. »Du solltest diese Mädchen nicht instrumentalisieren.«
»Das ist ein zweischneidiges Schwert«, antwortet Cam. »Sie haben mich zuerst instrumentalisiert. Ich hab mich nur revanchiert.«
Roberta knurrt verärgert. »Glaubst du auch nur ein Wort von dem, was du da draußen gesagt hast? Von wegen ›Modell‹ sein, an dem sich andere orientieren?«
Cam wendet den Blick ab. Roberta glaubt tatsächlich, was er dem Publikum erzählt, aber glaubt er selbst daran? Ja, er besteht aus den Besten und den Intelligentesten, aber das sind nur die Teile. Was sagen die Teile in Wahrheit über das Ganze aus? Mehr als alles in der Welt wünscht er sich, dass sich diese Frage nicht mehr stellt.
»Natürlich glaub ich das.«
»Dann benimm dich entsprechend.« Sie hebt sein Hemd auf und wirft es ihm zu. »Du bist etwas Besseres. Dann verhalte dich auch so.«
»Und wenn ich nichts Besseres bin?«, wagt er zu fragen. »Wenn ich nicht mehr bin als neunundneunzig bunt zusammengewürfelte jugendliche Triebe?«
Roberta nimmt die Herausforderung an: »Dann kannst du dich ja selbst wieder in neunundneunzig Teile zerlegen. Soll ich dir ein Messer reichen?«
»Eine Machete«, antwortet er. »Das ist viel dramatischer.«
Seufzend schüttelt sie den Kopf. »Mit diesem Verhalten wirst du General Bodeker nicht beeindrucken können.«
»Ach ja, General Bodeker.«
Cam weiß nicht recht, was er von dem Mann und seinen Absichten halten soll, aber er kann nicht leugnen, dass er fasziniert ist. Cam ist klar, dass er durch seine Ausbildung direkt zu einer Offizierslaufbahn geführt werden würde wie ein amerikanischer Prinz. Und wenn er erst einmal die fesche Uniform eines Offiziers trüge, gebügeltes Leinen und Messingknöpfe, würden die bitteren Stimmen verstummen, die ihm das Recht zu existieren absprechen. Niemand kann einen ehrenwerten Marineoffizier hassen. Und er hätte endlich einen Ort, wo er hingehört.
»Belanglos«, sagt Cam. »Dem General sind meine kleinen Abenteuer während meiner Auszeiten egal.«
»Sei dir da nicht so sicher«, antwortet Roberta. »Du musst bei der Wahl deiner Gesellschaft ein bisschen anspruchsvoller sein. Und jetzt zieh dein Hemd an. Unser Wagen wartet.«
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Cam schreckt in 33000 Fuß Höhe aus dem Schlaf. Einen Augenblick lang glaubt er, sich in einem Zahnarztstuhl zu befinden, aber nein. Er war nur eingeschlafen, bevor er den Sitz ganz nach hinten geklappt hatte.
Das Proaktive Bürgerforum hat diesen prächtig ausgestatteten Privatjet für seine Vortragsreise zur Verfügung gestellt, auch wenn er nicht wirklich privat ist. Roberta schläft in ihrem eigenen Schlafsessel in der Nische hinter ihm. Ihr Atem geht regelmäßig, wohlgeordnet wie alles in ihrem Leben. Es gibt auch einen Concierge – das Privatjet-Gegenstück zu einem Flugbegleiter –, aber der schläft im Augenblick auch. Es ist 3:13 am Morgen, doch Cam ist sich nicht sicher, auf welche Zeitzone sich das bezieht.
Er will sich seine Träume ins Gedächtnis zurückrufen, um sie zu analysieren, aber er findet keinen Zugang zu ihnen. Cams Träume haben noch nie einen Sinn ergeben. Er hat keine Ahnung, wie viel Sinn die Träume normaler Menschen ergeben, und kann deshalb nicht vergleichen. In seinen Träumen wird er von Erinnerungsschnipseln heimgesucht, die ins Nichts führen, denn der Rest dieser Erinnerungen sitzt in anderen Köpfen und gehört zu anderen Leben. Einzig und allein die Erinnerung an die Umwandlung ist glasklar und durchgängig da. Davon träumt er viel zu oft. Und zwar nicht nur von einer Umwandlung, sondern von vielen. Die Einzelheiten aus vielen dutzend Teilungen verschmelzen zu einem unvergesslichen, unverzeihlichen Ganzen.
Früher ist er schreiend aus solchen Träumen erwacht. Nicht wegen der Schmerzen, denn das Umwandeln verläuft per Gesetz schmerzlos. Aber es gibt Dinge, die schlimmer sind als physischer Schmerz. Er schrie aus Angst, aus der absoluten Hilflosigkeit heraus, die jene Jugendlichen empfanden, als die Chirurgen näher kamen, als Gliedmaßen erst kribbelten und dann taub wurden, als sie im Augenwinkel wahrnahmen, wie medizinische Kühlboxen weggetragen wurden. Nacheinander endet jede Sinneswahrnehmung, und jede Erinnerung verflüchtigt sich, immer begleitet vom stummen Aufschrei hoffnungslosen Aufbegehrens, während die Wandler dem Vergessen anheimgestellt werden.
Roberta kommt auch in dem Traum vor, denn sie war bei jeder Umwandlung zugegen – als Einzige ohne OP-Maske. Damit du mich siehst, mich hörst und mich erkennst, wenn die Teile zusammengefügt werden, hatte sie ihm erklärt. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, wie schrecklich dieses Wissen sein würde. Roberta ist Teil des Schreckens. Sie ist die Ursache der Hoffnungslosigkeit.
Cam hat gelernt, sich den Schrei in seinen Träumen zu verkneifen, ihn nicht rauszulassen, bis er sich aus der schrecklichen Albtraumsituation in die lebende, atmende Welt geschleppt hat, wo er er selbst ist und nicht die einzelnen Mitglieder des »inneren Ensembles«.
Heute Nacht ist er allein. Er weiß, dass um ihn herum Menschen sind, aber in dem Privatjet, der durch einen eisigen schwarzen Himmel jagt, hat er das Gefühl, allein im Universum zu sein. In solchen Momenten tiefer Einsamkeit verfolgen ihn die Fragen der kritischen Zuhörer in seinem Publikum, denn ihre Fragen sind seine eigenen.
Bin ich wirklich am Leben? Existiere ich überhaupt?
Gewiss existiert er als organische Masse, aber als fühlendes Wesen? Eher als jemand denn als etwas? Zu oft in seinem Leben weiß er es einfach nicht. Und wenn am Ende jeder Einzelne vor seinem Richter steht, wird er dann auch dort stehen, oder werden die einzelnen Teile in ihm zu ihren wahren Besitzern zurückkehren und eine Leere hinterlassen, wo er einst war?
Er ballt die Hände zu Fäusten. Ich bin!, möchte er rufen. Ich existiere. Aber er hütet sich, diese sorgenvollen Gedanken Roberta gegenüber zu äußern. Er lässt sie lieber in dem Glauben, jugendliche Lustgefühle seien seine große Schwäche.
Dieser Zorn erfüllt ihn, wenn niemand zuschaut. Der Zorn darüber, dass die Zwischenrufer im Publikum recht haben könnten und er vielleicht nicht mehr ist als ein medizinischer Taschenspielertrick. Ein chirurgischer Kunstgriff. Eine leere Hülle, die Leben nur nachahmt.
In diesen dunklen, nihilistischen Augenblicken, wenn selbst das Universum ihn abzustoßen scheint, wie die menschlichen Organismen früher transplantierte Organe abstießen, denkt er an Risa.
Risa. Ihr Name platzt in seine Gedanken hinein, und er kämpft gegen den Drang an, sein Denken in den Lockdown-Modus zu bringen. Risa hat ihn nicht verachtet. Ja, zuerst vielleicht schon, aber dann hat sie ihn wirklich kennengelernt und ihn als Individuum betrachtet, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Am Ende hatte sie ihn auf ihre eigene Art und Weise gern.
Wenn Cam mit Risa zusammen war, hatte er das Gefühl, wirklich am Leben zu sein. Wenn er mit ihr zusammen war, fühlte er, dass er mehr war als ein Patchwork aus Wissenschaft und Hybris.
Er kann nicht leugnen, wie sehr er sie liebt. Und der Schmerz dieser Sehnsucht genügt ihm, um zu wissen, dass er lebt. Dass er ist. Denn wie könnte er solchen seelischen Schmerz empfinden, wenn er keine Seele hätte?
Doch in vielerlei Hinsicht fühlt er sich, als ob sie seine Seele mitgenommen hätte, als sie floh.
Weißt du, wie sich das anfühlt, Risa?, möchte er sie gern fragen.
Weißt du, wie es ist, wenn man seiner Seele beraubt wird? Hast du das Gleiche empfunden, als dein geliebter Connor im Ernte-Camp Happy Jack gestorben ist? Cam weiß ohne den geringsten Zweifel, dass er diese Leere in ihr füllen könnte, wenn sie ihn nur genügend liebte, um es ihm zu erlauben. Und das würde ihm das Gefühl geben, ganz zu sein.
Leichte Turbulenzen, die sich viel gefährlicher anfühlen, als sie in Wirklichkeit sind, rütteln an dem Jet. Roberta bewegt sich und fällt dann wieder in tiefen Schlaf. Die Frau hat keine Ahnung, wie sehr sie hinters Licht geführt wurde. Sie, die so klug ist, so gerissen, so sensibel und doch so blind.
Sie wird alle seine Heucheleien durchschauen, deshalb muss er seine Täuschungsmanöver gut verpacken, so wie die Jordan-Mandeln mit Zuckerguss überzogen sind.
Ja, klar genießt Cam die Zuwendung hübscher Mädchen, die sich von seiner Einzigartigkeit angezogen fühlen. Und ja, in seinen guten Augenblicken fühlt er sich berauscht von seiner eigenen Existenz, berauscht davon, dass Menschen umgewandelt wurden, um ihn zu schaffen. Er hat gelernt, dieses Gefühl heraufzubeschwören, es wie ein Bad einzulassen und in ihm zu schwelgen, wenn er es braucht. Das ist der Zuckerguss um den Kern der Wahrheit, den nur er kennt und den er mit niemandem teilt.
Ohne Risa bin ich nichts.
Also spielt er die Rolle des verwöhnten Stars und lässt Roberta im Glauben, seine Vergnügungssucht sei echt. Er amüsiert sich gerade genug, um sie zu täuschen und ihr das Gefühl zu geben, dass sie sich mit ihm nur über seine Arroganz und seinen ausschweifenden Lebenswandel streiten muss.
Das Flugzeug beginnt mit dem Landeanflug auf ihr nächstes Ziel, wo immer es auch sein mag. Mehr Zuhörer. Mehr Mirandas. Eine angenehme Art und Weise, den rechten Augenblick abzuwarten. Lächelnd erinnert sich Cam an das geheime Versprechen, das er sich selbst gegeben hat: Wenn Risa sich mehr als alles andere wünscht, das Proaktive Bürgerforum vollkommen am Boden zu sehen, dann wird Cam einen Weg finden, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Er wird nicht nur Roberta ausbooten, sondern sich selbst in das Getriebe der Proaktiven-Bürgerforums-Maschinerie zwängen. Er wird einen Weg finden, die Organisation auszuschalten, und Risa wird wissen, dass er es getan hat.
Und dann wird sie ihn wahrhaft lieben und seine Zuneigung voll und ganz erwidern. Und sie wird ihm seine Seele zurückgeben.