52. Connor

Sie müssen nachts fahren, weil ein Auto voller junger Leute immer verdächtig ist. Nachts können sie anonym bleiben, und die Verkehrspolizei lässt sie in Ruhe, solange Connor nicht zu schnell fährt oder anderweitig auf sich aufmerksam macht. Das Auto ist eine dunkellila Limousine, alles andere als unauffällig. Noch ein Grund für ihre nächtliche Reise.

»Es war das Beste, was wir kriegen konnten.« Die Familie Tashi’ne verabschiedete sich in Unas Laden, denn Una hatte angeboten, sie mit dem Auto zum Nordtor des Reservats zu bringen. Nur so ließ sich Cams Anwesenheit geheim halten.

Lev und Connor verabschiedeten sich verhalten und steif voneinander. Abschiednehmen ist nicht gerade ihre Stärke.

»Mach’s gut. Und bleibt ganz«, sagte Lev zu Connor.

Connor deutete ein schiefes Grinsen an. »Lass dir die Haare schneiden, bevor wir uns wiedersehen.«

Es ist Mitternacht, als sie von Colorado nach Kansas kommen. Cam und Grace sitzen hinten, denn Connors Vertrauen in Cam reicht nicht aus, um ihn auf dem Beifahrersitz zu platzieren, und erst recht nicht allein auf dem Rücksitz. Das Schild für die Ausfahrt Heartsdale und die Stelle, an der er den Strauß erwischt hat, sorgen für ein unangenehmes Déjà-vu. Das Tier ist schon lange tot, aber Connor umklammert das Lenkrad, als könnte jeden Moment der nächste selbstmordgefährdete Vogel auf die Straße rennen.

»Heimweh, Grace?«, fragt er.

»Daheim tut’s immer weh«, sagt sie. »Fahr weiter.«

Connor hält unwillkürlich den Atem an, als sie an der Ausfahrt vorbeikommen. Er wird das Gefühl nicht los, der Ort könnte seine Tentakel nach ihnen ausstrecken und sie einfangen. Als sie vorbei sind, scheint die dicke Luft im Auto zu verfliegen. Connor weiß, dass er sich das nur einbildet, aber er ist dankbar, dass sie nun auf dem richtigen Kurs sind.

Connor würde zwar gern die ganze Nacht durchfahren, doch kurz nach 3 Uhr morgens wird er schläfrig.

»Du kannst mich fahren lassen«, sagt Cam. »In meinem inneren Trupp gibt es ein paar hervorragende Autofahrer. Ich kann sie bestimmt für die Aufgabe begeistern.«

»Nein danke.« Connor fehlt noch das Vertrauen, Cam so viel Verantwortung zu übertragen. Und einer, der von »meinem inneren Trupp« faselt, gehört sowieso nicht ans Steuer.

In Russell, Kansas, biegen sie von der Autobahn ab und suchen nach einer Unterkunft für die Nacht. In den meisten Motels hat man es mit Personal zu tun, das einem Scherereien machen kann, aber wie in den meisten Städten entlang der Autobahn gibt es in Russell ein iMotel, in dem man den Zimmerschlüssel über einen Automaten bekommt. Man braucht nur einen Ausweis und Bargeld. Als sie vor der Maschine stehen, schnappt sich Cam Connors Kärtchen und amüsiert sich köstlich.

»Bees-Neb Hebííte. Nicht schlecht!«

»Klingt nach Bienenhonig!«, sagt Grace und lacht.

Connor nimmt Cam den Ausweis wieder ab und steckt ihn in den Schlitz. »Hauptsache, er funktioniert.« Und tatsächlich akzeptiert der Automat die Karte problemlos. Connor schiebt ein paar von den Geldscheinen ein, die ihnen die Tashi’nes mitgegeben haben, und schon haben sie ein Zimmer für die Nacht. Kein Ärger, keine Hektik. Sie quetschen sich zu dritt in ein Zweibettzimmer, aber da sowieso immer nur zwei gleichzeitig schlafen können, ist das kein Problem.

»Willst du, dass ich ein Auge auf Cam habe, damit du ein bisschen schlafen kannst?«, fragt Grace Connor, und obwohl Cam einwirft, dass er nicht bewacht werden muss, setzt sie sich auf einen Stuhl direkt vor die Tür, so dass Cam, sollte sie einnicken, nicht an ihr vorbeikommt. Dann sieht sie sich auf dem Geschichtskanal alte Dokumentarfilme über den Zweiten Weltkrieg an.

»Ich dachte, dich würde der Gameshow-Sender mehr interessieren«, sagt Connor unbedarft. »Ich meine, weil du doch Spiele so magst.«

Grace starrt ihn beleidigt an. »Bei den Shows geht’s um stumpfes Glück, und die Leute da sind einfach nur blöd. Ich schau gern Kriege. Strategie, Tragödie, alles drin. Das ist eher meins.«

Schon Minuten später schläft Connor zu den schwachen Geräuschen der Artillerie des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Ein paar Stunden später, als die ersten Sonnenstrahlen durch einen Schlitz in den Vorhängen fallen, wacht er wieder auf. Im Fernsehen laufen alte Cartoons, die fast so brutal sind wie die Kriegsfilme.

»Tut mir leid«, sagt Grace. »Hab die Vorhänge nicht besser zugekriegt.« Connor hört aus den anderen Zimmern Geräusche. Gedämpft laufen Fernseher, Duschen werden an- und ausgestellt, Türen geknallt, Reisende machen sich auf den Weg. Cam schläft tief und fest, anscheinend völlig unbelastet, und Connor löst eine dankbare Grace ab, die Connors Platz im zweiten Bett einnimmt und schon nach wenigen Minuten schnarcht.

Der Raum, den Connor bei ihrer Ankunft kaum beachtete, ist eines dieser austauschbaren Motelzimmer, die man rund um den Globus an jeder Autobahn finden kann. Beige Einheitsmöbel, ein dunkler Teppich, auf dem Flecken nicht auffallen, bequeme Betten, damit die Gäste auch wiederkommen, ein Einbaucomputer im Tisch – das ist heutzutage alles Standard. Connor zieht den Zettel mit der Benutzerkennung und dem Passwort aus der Tasche, um zu sehen, ob Cams Informationen es wert sind, dass er ihn mitgeschleppt hat.

Wie sich herausstellt, hat Cam nicht geblufft. Nachdem Connor sich eingeloggt hat, erhält er Zugang zu allen Dateien, die Cam in der öffentlichen Cloud deponiert hat. Dateien, die digital geschreddert, danach aber mühevoll rekonstruiert wurden. Es sind interne Nachrichten des Proaktiven Bürgerforums, die niemand von außerhalb je zu Gesicht bekommen sollte. Vieles scheint auf den ersten Blick nutzlos zu sein: sterbenslangweilige geschäftliche E-Mails. Connor muss dem Drang widerstehen, sie nur schnell zu überfliegen. Je mehr er allerdings liest, desto häufiger fallen ihm offensichtlich wichtige Begriffe auf wie »Zielgruppe« oder »Platzierung auf Schlüsselmärkten«. Merkwürdig sind auch die Domains, zwischen denen viele dieser E-Mails hin- und hergehen. Es scheint sich um einflussreiche Leute im Proaktiven Bürgerforum, Medienvertreter und Industriebetriebe zu handeln. In einigen E-Mails geht es um die Platzierung teurer Werbung in den Medien. Die Nachrichten sind wohl absichtlich vage gehalten, doch alles in allem ist die Richtung, in die sie weisen, beängstigend.

Connor sieht sich einige der Werbeanzeigen an, um die es in den E-Mails geht. Wenn er es richtig versteht, dann steckt das Proaktive Bürgerforum unter dem Namen diverser gemeinnütziger Organisationen hinter jeglicher politischer Werbung, die die Umwandlung von Teenagern unterstützt. Das hat Connor schon vermutet. Was ihn aber doch überrascht, ist, dass das Proaktive Bürgerforum auch hinter den Anzeigen gegen die Umwandlung von Teenagern steht, die sich stattdessen für die Umwandlung von Häftlingen und freiwilligen Erwachsenen aussprechen.

»Das öffnet dir deine Augen, was? Auch wenn eins davon gar nicht deins ist.«

Als sich Connor umdreht, sitzt Cam hinter ihm auf dem Bett und beobachtet ihn. »Und das ist erst der Eingang zum Kaninchenbau«, sagt Cam. »Ich garantiere dir, je tiefer man kommt, desto düsterer und unheimlicher wird es.«

»Das kapiere ich nicht.« Connor deutet auf die verschiedenen Fenster mit politischen Werbeanzeigen, in denen die Jugendbehörde kritisiert und die Umwandlung von Jugendlichen als unmoralisch bezeichnet wird. »Warum sollte das Proaktive Bürgerforum ein doppeltes Spiel spielen?«

»Ein Würfel nur mit Sechsen«, sagt Cam. Dann stellt er eine seltsame Frage. »Sag mal, Connor, bist du zum ersten Mal schwanger?«

»Was?«

»Beantworte einfach die Frage, ja oder nein.«

»Ja. Ich meine, nein! Halt den Mund! Was ist das für eine saublöde Frage?«

Cam lächelt. »Siehst du? Egal, wie du antwortest, du hast verloren. Mit ihrem doppelten Spiel zwingt das Proaktive Bürgerforum die Leute, sich zwischen zwei Arten der Umwandlung zu entscheiden, damit sie die eigentliche Frage nicht stellen …«

»… nämlich, ob überhaupt jemand umgewandelt werden sollte.«

»Nagel auf den Kopf getroffen«, sagt Cam.

Jetzt passt alles zusammen. Connor denkt an das zurück, was ihm Trace Neuhauser auf dem Friedhof über die hinterlistigen Tricks des Proaktiven Bürgerforums erzählt hat. Dass sie den Admiral dazu missbrauchten, Wandler für sie zu lagern, während der Admiral und später Connor fest daran glaubten, dass sie den Jugendlichen einen sicheren Unterschlupf boten.

»Also egal, welche Seite gewinnt, der Status quo wird beibehalten«, sagt Connor. »Die Leute werden umgewandelt, und das Umwandlungskonsortium wird auf alle Fälle reich.«

»Das Umwandlungskonsortium?«

»Ein Freund von mir hat das mal mit dem Diamantenkonsortium verglichen. Das Umwandlungskonsortium sind alle, die mit der Umwandlung Geld verdienen. Die Unternehmen, denen die Ernte-Camps gehören, Krankenhäuser, die transplantieren, die Jugendbehörde …«

Cam überlegt mit hochgezogener Augenbraue, so dass die symmetrischen Nähte auf seiner Stirn aus dem Lot geraten. »Alle Wege führen nach Rom«, sagt er schließlich. »Die Umwandlung ist die gewinnträchtigste Branche Amerikas, vielleicht der ganzen Welt. So ein Wirtschaftsmotor schützt sich selbst. Wenn wir die zerstören wollen, müssen wir klüger sein als sie.« Und dann lächelt Cam. »Aber sie haben einen großen Fehler gemacht.«

»Und der wäre?«

»Sie haben jemanden gebaut, der klüger ist als sie.«

 

Cam und Connor durchforsten noch eine Stunde lang die Informationen. Aber bei dem vielen Material fällt es schwer, herauszufiltern, was wichtig ist und was nicht.

»Da sind auch Finanzunterlagen«, sagt Cam. »Sie zeigen, dass gewaltige Geldmengen verschwinden, wie in einem schwarzen Loch.«

»Oder in einem Kaninchenbau«, wirft Connor ein.

»Genau. Wenn wir herausfinden, wo das Geld hingeht, haben wir vielleicht das Schwert, mit dem wir das Proaktive Bürgerforum aufspießen können.« Cam wird ernst. »Ich glaube, die finanzieren da etwas, das sehr, sehr unheimlich ist. Ich fürchte mich fast davor, es herauszufinden.«

Obwohl Connor es nie zugeben würde, geht es ihm genauso.