17. Argent
Argent Skinners linke Wange ist vollkommen zerfetzt. Nicht irreparabel, aber jenseits jeder Heilmöglichkeit, die er sich leisten kann. Drei fransige Risse, die jetzt wie ein Baseball mit groben Stichen zusammengenäht sind, ziehen sich von seinem Auge bis zum Ohr. Zwei Zentimeter weiter, und seine Halsschlagader wäre getroffen worden. Vielleicht wünscht er sich sogar, das wäre passiert. Vielleicht wünscht er, sein Held hätte ihm das Leben genommen, denn dann wären Argent und Connor Lassiter auf eine paradoxe Art und Weise für immer verbunden. Dann müsste er sich nicht mit den üblen Folgen dessen herumschlagen, was das Highlight seiner mickrigen Existenz hätte sein sollen.
Dass Grace zusammen mit Connor auf der Flucht ist, kann er immer noch nicht ganz fassen. Wenn er nicht so verdammt angepisst wäre, müsste Argent fast darüber lachen, dass die beiden wie ein absurder Abklatsch von Bonnie und Clyde abgehauen sind. Er hatte den Flüchtling aus Akron in seinem verdammten Keller! Einen Augenblick lang lag ihm die Welt zu Füßen – zumindest fast. Und was hat er jetzt?
Als er am nächsten Morgen mit seinem bandagierten Gesicht bei der Arbeit erschien, täuschten Kunden und Kollegen Mitgefühl vor.
»Oje, was ist passiert?«, fragten sie alle.
»Gartenunfall«, informierte er sie knapp, weil ihm zu diesem Zeitpunkt nichts Besseres einfiel.
»Wow, das muss aber eine üble Hecke gewesen sein.«
Zu Hause kocht er vor sich hin, flucht und kocht weiter vor sich hin, denn was soll er sonst tun? Der Polizei die Wahrheit sagen kann er nicht. Er kann überhaupt mit niemandem sprechen, denn seine dummen Freunde haben ein loses Mundwerk. Die Jugendbehörde und die Polizei haben ihn als Deppen hingestellt, der sich eine Lügengeschichte ausgedacht hat und fast damit durchgekommen wäre. Für sie ist er eine Witzfigur. Sogar seine trottelige Schwester hat es geschafft, ihn lächerlich zu machen. Und alles wegen Connor Lassiter.
Kann man sein größtes Idol hassen?
Kann man sich danach sehnen, sich in seinem Abglanz zu sonnen, und ihm zugleich die Kehle aufschlitzen wollen, wie er das bei einem selbst fast getan hat?
Argent kann sich nur damit trösten, dass Grace nun nicht mehr sein Problem ist. Er muss sie nicht mehr durchfüttern. Er muss sie weder ausschimpfen noch dafür sorgen, dass sie aufpasst. Er muss sich keine Gedanken darüber machen, dass sie das Wasser laufen lässt oder das Gas nicht abstellt oder die Hintertür nicht schließt, so dass die Waschbären reinkommen. Endlich kann er sein eigenes Leben leben. Aber wie sieht dieses Leben eigentlich aus?
Diese Gedanken werden ihn noch monatelang beschäftigen, während er stumpfsinnig Dosen mit Mais und hosentaschenwarme Coupons über den Scanner zieht. »War alles in Ordnung?«, wird sein Mund sagen. »Einen schönen Tag noch!« Aber sein Herz wird ihnen Maden in ihr Fleisch, Krankheiten in ihr Obst und Gemüse und verdorbene, aufgeblähte Dosen wünschen – alles, was ihnen zumindest einen Bruchteil des Kummers zufügt, der jetzt von ihm Besitz ergriffen hat.
Eine Woche nach Connors Flucht steht ein Besucher vor Argents Tür, als er gerade zu seiner Morgenschicht aufbrechen will.
»Hallo«, sagt der Mann. Seine Stimme ist ein bisschen rau und sein Lächeln verdächtig breit. »Bist du zufällig Argent Skinner?«
»Kommt ganz drauf an, wer fragt.« Argent vermutet, sein Besucher könnte von der Bundessicherheitspolizei kommen, um noch ein paar offene Fragen zu klären. Vielleicht wurde er schließlich doch noch verhaftet. Würde ihm das was ausmachen?
»Darf ich reinkommen?«
Der Mann macht einen Schritt nach vorn, hinaus aus dem blendenden Licht der tiefstehenden Morgensonne. Irgendwas stimmt nicht mit der rechten Gesichtshälfte des Mannes, sieht Argent jetzt. Die Haut schält sich und ist entzündet.
»Was ist mit Ihrem Gesicht?«, fragt Argent unverblümt.
»Das könnte ich dich auch fragen«, antwortet der Mann.
»Gartenunfall«, gibt Argent bereitwillig preis.
»Sonnenbrand«, entgegnet der Mann, obwohl es für Argent eher wie eine Verbrennung aussieht. Man müsste sich schon stundenlang unter einen gnadenlosen Himmel legen, um so einen schlimmen Sonnenbrand zu bekommen.
»Sie sollten das behandeln lassen.« Argent versucht gar nicht erst, seinen Ekel zu verbergen.
»Werde ich tun, sobald meine Zeit es mir erlaubt.« Der Mann macht noch einen Schritt nach vorn. »Darf ich reinkommen? Ich muss etwas mit dir besprechen. Etwas, das in unser beiderseitigem Interesse liegt und uns beiden zum Vorteil gereicht.«
Argent ist nicht so blöd, dass er in der Morgendämmerung einen Fremden in sein Haus lässt, schon gar nicht einen, der so verdächtig aussieht. Er versperrt den Eingang und nimmt eine Haltung an, die jedem Versuch des Mannes, sich hineinzudrängen, widerstehen würde. »Sagen Sie doch einfach hier, was Sie wollen.«
»Sehr gern.« Der Mann lächelt wieder, aber es wirkt eher wie ein stummer Fluch. Wie das Lächeln, das Argent den Leuten an der Schnellkasse schenkt, die das Limit von zehn Produkten überschreiten. Das Lächeln, das er ihnen schenkt, wenn er ein bisschen Rotz an ihre Äpfel schmiert.
»Ich bin zufällig auf das Foto gestoßen, das du von dir und Connor Lassiter gepostet hast.«
Argent seufzt. »Das war ein Fake, kapiert? Das habe ich der Polizei doch schon gesagt.« Argent tritt zurück und will die Tür schließen, aber der Mann macht einen Schritt nach vorn und stellt den Fuß genau an die richtige Stelle. Die Tür bewegt sich nicht.
»Die Behörden sind vielleicht auf deine Geschichte reingefallen, vor allem, weil sie wirklich glauben, dass Lassiter tot ist. Aber ich weiß es besser.«
Argent ist unschlüssig. Einerseits will er weglaufen, andererseits aber wissen, was es mit diesem Typen auf sich hat.
»Ach ja?«, sagt er.
»Ich hatte ihn erwischt, genau wie du. Aber er ist mir entschlüpft. Und genau wie du will ich, dass er für das büßt, was er getan hat.«
»Ach ja?« Jetzt regt sich langsam ein Fünkchen Hoffnung in Argent. Vielleicht würde sein Leben doch nicht nur darin bestehen, in dieser Stadt Lebensmittel über den Scanner zu ziehen.
»Kann ich jetzt reinkommen?«
Argent tritt zur Seite und lässt ihn ein. Der Mann schließt leise die Tür und schaut sich um, offenbar unbeeindruckt von dem abgenutzten Inneren des Hauses.
»Dann hat er also auch Ihr Gesicht so zugerichtet?«, fragt Argent.
Der Mann schaut ihn finster an, aber dann wird sein Blick weicher. »Indirekt. Das war sein Komplize. Er ließ mich bewusstlos neben der Straße liegen, und als der Morgen kam, hat mich die Sonne von Arizona gegrillt. War kein besonders angenehmes Erwachen.«
»Sonnenbrand«, sagt Argent. »Sie haben also die Wahrheit gesagt.«
»Ich bin eine ehrliche Haut«, sagt der Mann. »Und man hat mir übel mitgespielt, genau wie dir. Und genau wie du möchte ich die Rechnung begleichen. Deshalb wirst du mir helfen, Connor und seinen kleinen Freund zu finden.«
»Und meine Schwester«, fügt Argent hinzu. »Sie ist zusammen mit Connor abgehauen.«
Der Gedanke, Connor und Grace zu folgen, war Argent schon mal durch den Kopf gegangen, aber nicht ernsthaft. So was macht man nicht allein. Aber jetzt wäre er nicht allein. Dann dämmert es Argent, was dieser Mann ist.
»Sind Sie so ein Teilepirat?«
Wieder dieses Lächeln. »Der beste, den es gibt.« Er tippt an einen imaginären Hut. »Jasper T. Nelson, zu Diensten.«
Teilepiraten sind, wie Argent weiß, so was Ähnliches wie die Cowboys von einst. Gesetzlose Kopfgeldjäger, die ihren eigenen Regeln folgen. Sie greifen flüchtige Wandler auf und erhalten öffentlich ausgesetzte Belohnungen, oder besser noch, verkaufen diese Wandler für viel Geld auf dem Schwarzmarkt. Argent kann sich durchaus vorstellen, so ein Leben am Rande der Gesellschaft zu führen. Er lässt die Vorstellung noch ein bisschen nachklingen und probiert die Bezeichnung an wie ein paar neue Jeans: Argent Skinner, Teilepirat.
»Tatsache ist, dass du ganz schön in der Klemme steckst, mein Junge. Du weißt es nur noch nicht«, sagt Nelson zu ihm. »Du denkst vielleicht, dass die Behörden mit dir fertig sind, aber morgen oder übermorgen oder überübermorgen wird jemand in einem Labor dein Foto routinemäßig forensisch untersuchen und feststellen, dass es gar kein Fake ist.«
Argent versucht, zu schlucken, aber seine Kehle ist zu trocken. »Ach ja?«
»Und dann wirst du verhaftet. Und verhört. Und nochmal verhört. Man wird dir vorwerfen, die Justiz behindert und einem bekannten Straftäter Unterschlupf gewährt zu haben. Vielleicht wirft man dir sogar Beihilfe zu einem Terrorakt vor. Du wirst für ganz schön lange Zeit im Knast landen. Vielleicht wirst du sogar umgewandelt, wenn eins dieser neuen Gesetze durchgeht, die das Umwandeln von Straftätern erlauben.«
Argent spürt, wie alles Blut aus seinem wunden Gesicht weicht. Er möchte sich setzen, tut es aber nicht, aus Angst, dass er vielleicht nicht die Kraft hat, wieder aufzustehen. Stattdessen drückt er die Knie durch und hält sich schwankend auf den Füßen, die sich plötzlich anfühlen, als hätten sie keinen Bodenkontakt.
Und alles nur wegen Connor Lassiter.
»Ich bin mir sicher, dass du ihnen alles verrätst, was Lassiter dir erzählt hat, wenn sie dich verhören. Aber ich würde es vorziehen, wenn du es stattdessen mir verrätst. Und du hast doch etwas, das du verraten kannst, nicht wahr?«
Argent zerbricht sich den Kopf, was Connor Nützliches gesagt haben könnte, aber es fällt ihm nichts ein, und das will der Teilepiraten bestimmt nicht hören.
»Er hat mir schon ein paar Sachen erzählt«, behauptet Argent. Und dann, ein bisschen nachdrücklicher: »Ja, er hat mir was erzählt. Vielleicht genug, um herauszufinden, wohin er will.«
Nelson lacht leise. »Du lügst.« Er tätschelt die gesunde Seite von Argents Gesicht. »Ist schon in Ordnung. Ich bin mir sicher, dass es Dinge gibt, von denen du nicht mal ahnst, dass du sie weißt. Außerdem brauche ich einen Partner. Und zwar einen, dem es ein persönliches Anliegen ist, Connor Lassiter zu kriegen, denn nur so einem kann ich trauen. Ich hätte zwar lieber jemanden gehabt, der auf der Leiter der Evolution ein bisschen weiter oben steht, aber man nimmt, was man kriegt.«
»Ich bin nicht naiv«, sagt Argent und hofft, dass dieses ungewohnte Wort als Beweis ausreicht. »Ich hab nur einfach Pech.«
»Na ja, heute hat sich das Blatt für dich gewendet.«
Vielleicht, denkt Argent. Vielleicht ist diese Partnerschaft vom Schicksal bestimmt. Die rechte Hälfte von Nelsons Gesicht ist so zugerichtet wie Argents linke. Sie beide sind vom Kampf mit dem Flüchtling aus Akron gezeichnet. Das macht aus ihnen ein perfektes Team für diesen Einsatz.
Nelson schaut zum Fenster, als wolle er prüfen, ob die Luft immer noch rein ist. »Und du, Argent, machst jetzt Folgendes: Du packst einen Rucksack mit dem Allernötigsten, und zwar in weniger als fünf Minuten. Dann kommst du mit mir, um dem Flüchtling aus Akron ein für alle Mal das Handwerk zu legen. Wie findest du das?«
Argent bringt mit der Seite seines Gesichts, die dazu noch in der Lage ist, ein zaghaftes Lächeln zustande. »Yo-ho, Yo-ho«, singt er, »a pirate’s life for me.«