2. Klatscher

Der Klatscher hat Bedenken, aber er hat den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt.

Vor vielen Monaten hatte er auf der Straße eine schlimme Zeit durchgemacht. Um zu überleben, musste er schreckliche, demoralisierende Dinge tun. Sie waren so menschenverachtend, dass nicht mehr viel von ihm übrig war, das sich auch nur entfernt menschlich anfühlte. Er hatte sich der Schande ergeben und sich mit einer Randexistenz auf den schäbigsten abgelegenen Straßen von Sin City abgefunden.

Er war nach Las Vegas gegangen, weil er dachte, ein flüchtiger Wandler könnte dort leicht untertauchen. Aber Las Vegas behandelt keinen gut, der dort strandet. Nur wer die Freiheit hat, die Stadt auch wieder zu verlassen, erhält VIP-Status. Und obwohl die meisten mit leeren Taschen gehen, bleiben sie wenigstens nicht als leere Hülse zurück.

Als der Klatscher angeworben wurde, hatte er seine Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, bereits eingebüßt. Sie war ihm in jeder Hinsicht ausgetrieben worden. Er war absolut reif für eine Anwerbung gewesen.

»Komm mit mir«, hatte der Anwerber gesagt. »Ich bring dir bei, wie du sie büßen lässt.«

Mit »sie« meinte er all die anderen, das allgemeine »Nicht-Ich«, das sein Leben zerstört hatte. Alle hatten Schuld. Alle mussten büßen. Der Anwerber verstand das, und so war der Handel perfekt.

Jetzt, zwei Monate später, betritt er vorsichtig zusammen mit dem Mädchen seiner Träume ein Fitnessstudio in Portland, Oregon. Das ist weit weg von Las Vegas, weit weg von dem, was einmal sein Leben gewesen war. Je weiter, desto besser. Sein neues Leben, so kurz es auch sein mag, wird leuchtend hell sein. Und laut. Man wird ihn zur Kenntnis nehmen müssen. Dieses zufällige Ziel wurde von jemandem weiter oben in der Klatscher-Hierarchie für sie ausgewählt. Komisch, aber er hätte nie gedacht, dass Klatscher so organisiert sind. Hinter dem Chaos gibt es definitiv eine Struktur. Er schöpft Trost aus dem Gedanken, dass hinter dem Wahnsinn eine Methode steckt.

Er gehört zu einer Zweier-Zelle. Er und das Mädchen wurden von einem kampflustigen Trainer vorbereitet und scharfgemacht, der in seinem vorherigen Leben bestimmt Motivationsredner gewesen war.

»Die Beliebigkeit wird die Welt verändern«, hatte man ihnen eingebläut. »Noch in etlichen Jahren wird man eure Tat loben, und bis dahin wird eure Rache süß sein.«

Dem Klatscher liegt weniger daran, die Welt zu verändern, und mehr daran, Rache zu nehmen. Er wäre erbärmlich auf der Straße gestorben, aber jetzt hat sein bitteres Ende wenigstens eine Bedeutung. Er hat die Kontrolle allein durch das, was passiert, wenn er in die Hände klatscht. Oder macht er sich etwas vor?

»Bist du bereit?«, fragt das Mädchen, als sie auf das Fitnessstudio zugehen.

Er möchte ihr seine Zweifel nicht anvertrauen. Für sie möchte er stark sein. Entschlossen. Mutig. »Maximales Blutbad«, sagt er. »Los!«

Sie betreten das Studio. Er hält ihr die Tür auf, und sie lächelt ihn an. Ein Lächeln, ein Augenblick der Zärtlichkeit – weiter wird ihre Beziehung niemals gehen. Sie wollten mehr, aber es sollte nicht sein. Ein innigeres Verhältnis hatte ihr explosives Blut nicht erlaubt.

»Was kann ich für euch tun?«, fragt der Typ an der Rezeption.

»Wir kommen wegen einer Mitgliedschaft.«

»Super! Ich hol euch jemanden.«

Schaudernd atmet das Mädchen tief ein. Der Junge nimmt ihre Hand. Behutsam. Sehr behutsam, denn man braucht nicht immer einen Zünder, um loszugehen. Mit den Zündern geht es schnell und sauber, aber Unfälle passieren.

»Ich möchte bei dir sein, wenn wir … unseren Auftrag erfüllen«, sagt sie.

»Ich auch, aber es geht nicht. Du weißt das. Ich verspreche dir, dass ich an dich denke.« Sie haben Befehl, mindestens zehn Meter voneinander entfernt zu sein. Je weiter die Entfernung desto größer ist die Wirkung.

Ein muskulöser Typ kommt breit lächelnd auf sie zu. »Hallo, ich heiße Jeff. Ich bin für die neuen Mitglieder zuständig. Und wer seid ihr?«

»Sid und Nancy«, sagt der Klatscher. Das Mädchen kichert nervös. Er hätte auch Tom und Jerry sagen können. Es spielt keine Rolle. Sogar ihre richtigen Namen hätte er nennen können, aber die Pseudonyme machen den Betrug irgendwie glaubwürdiger.

»Kommt. Ich mach mit euch beiden die Grand Tour.« Jeffs Zahnpastalächeln ist allein schon Grund genug, den ganzen Laden in die Luft zu jagen.

Er führt sie am Büro des Managers vorbei. Der Manager telefoniert, schaut aber kurz zu den Klatschern auf und hat einen Moment lang Augenkontakt. Der Klatscher wendet den Blick ab, weil er sich durchschaut fühlt. Jeder Fremde, der ihn anschaut, scheint seine Absichten zu erkennen, als ob er die Hände schon ausgebreitet hätte. Aber der Manager wirkt wirklich argwöhnisch. Rasch verlässt der Klatscher sein Gesichtsfeld.

»Dort drüben haben wir die Hanteln. Die Krafttrainingsgeräte mit Gewichten sind hier auf der rechten Seite. Alles natürlich hochmodern mit holographischen Konsolen.« Die beiden hören nicht zu, aber Jeff bemerkt es nicht. »Unsere Aerobic-Halle ist oben.« Jeff gibt ihnen durch ein Zeichen zu verstehen, dass sie ihm die Treppe hinauffolgen sollen.

»Geh du mit ihm, Nancy«, sagt der Klatscher. »Ich schaue mir mal die Hanteln genauer an.« Sie nicken sich kurz zu. Hier gehen sie auf Abstand. Hier nehmen sie Abschied.

Er entfernt sich von der Treppe und betritt den Hantelbereich. Es ist 17 Uhr und sehr voll. Hat er ein schlechtes Gewissen, weil er zu dieser Tageszeit kommt? Nur wenn er den Leuten ins Gesicht schaut, also vermeidet er es. Sie sind keine Menschen aus Fleisch und Blut, sondern reine Phantasiebilder, nur eine Erweiterung des Feindes. Außerdem hat er sich die Tageszeit nicht ausgesucht. Sie hatten Befehl, genau jetzt zu kommen, genau an diesem Tag. Und wenn es um eine so große Sache geht, kann man sich leicht dahinter verstecken, dass man »nur Befehle ausführt«.

Er tritt hinter eine Säule, zieht die runden, pflasterartigen Zünder aus seiner Tasche und befestigt sie an seinen Handflächen. Es passiert wirklich. O mein Gott. O mein Gott …

Und wie ein Echo zu seinen Gedanken hört er: »O Gott.«

Als er aufschaut, steht der Manager vor ihm. Er erwischt ihn mit den centgroßen Zündern, die wie Wundmale in den Handflächen des Klatschers glänzen. Es ist unverkennbar, was er vorhat.

Der Manager packt ihn an den Handgelenken und hält seine Hände auseinander.

»Lassen Sie mich los!«

»Da gibt es etwas, das du wissen solltest, bevor du das tust!«, zischt der Manager. »Du denkst, dass du zufällig hier bist, aber das stimmt nicht. Du wirst benutzt!«

»Lassen Sie mich los, sonst …!«

»Sonst … was? Jagst du mich in die Luft? Genau das wollen sie doch. Ich arbeite für die Anti-Umwandlungs-Front. Wer immer dich schickt, hat es auf uns abgesehen! Hier geht es nicht um Chaos. Hier geht es darum, uns zu beseitigen! Du arbeitest für die falsche Seite!«

»Es gibt keine Seiten!«

Er reißt sich los und will seine Hände zusammenführen … Aber auf einmal ist er sich nicht mehr so sicher. »Sie sind von der AUF

»Ich kann dir helfen!«

»Dafür ist es zu spät!« Er spürt das Adrenalin in seinem Körper aufsteigen. Er spürt seinen Herzschlag in den Ohren und fragt sich, ob ein schlagendes Herz ihn in die Luft sprengen kann.

»Wir reinigen dein Blut! Wir retten dich!«

»Sie lügen!« Doch er weiß, dass es möglich ist. Sie haben auch Lev Calder ›entwaffnet‹, oder? Aber dann spürten die Klatscher ihn auf und wollten ihn töten, weil er nicht geklatscht hatte.

Schließlich bemerkt einer der vielen geistesabwesenden Gewichtheber, worüber sie reden: »Klatscher?« Er weicht ein paar Schritte zurück. »KLATSCHER!«, schreit er und rennt schnurstracks zur Tür. Andere erkennen rasch die Situation, und es bricht Panik aus, aber der Manager wendet den Blick nicht von dem Klatscher ab.

»Lass dir helfen!«

Auf einmal wird das Fitnessstudio von einer Explosion erschüttert, und der Boden des Kardiobereichs stürzt herab. Sie hat es getan! Sie hat es getan! Sie ist tot, und er steht immer noch hier.

Blutende Menschen stolpern hustend und schreiend an ihm vorbei. Der Manager packt ihn noch einmal, fast so hart, dass er explodiert. »Du musst ihr nicht folgen! Entscheide selbst. Kämpfe für die richtige Seite!«

Und auch wenn er glauben möchte, dass es tatsächlich eine richtige Seite gibt, dass dieser Hoffnungsschimmer echt ist und keine Täuschung, fliegt in seinem Kopf alles durcheinander wie die brennenden Trümmer, die immer noch auf ihn herabfallen. Darf er sie verraten? Darf er die Tür schließen, die sie geöffnet hat, und sich weigern zu vollenden, was sie begonnen hat?

»Ich bringe dich an einen sicheren Ort. Niemand muss wissen, dass du nicht explodiert bist!«

»Okay.« Er trifft seine Entscheidung. »Okay.«

Der Manager stößt einen Seufzer der Erleichterung aus und lässt ihn los. Im selben Augenblick breitet der Klatscher die Hände aus und schwingt sie gegeneinander.

»Neiiiiiiiiiiin!«

Er ist tot – wie der AUF-Mann, wie alle anderen in dem Fitnessstudio und wie jeder Funke Hoffnung.