Die Rheinschilds
Es hat angefangen. Die neueingerichtete Jugendbehörde hat als ersten offiziellen Akt ihre erste Umwandlungseinrichtung eröffnet. Die provisorische Jugendhaftanstalt Cook Country in Chicago, die größte Einrichtung ihrer Art im ganzen Land, soll mit drei Operationssälen und einem dreiundreißigköpfigen Team von Chirurgen nachgerüstet werden.
Janson Rheinschild liest den Artikel in seinem Forschungslabor, das eingebettet ist in ein nach ihm und seiner Frau benanntes Gebäude auf dem Campus der Johns-Hopkins-Universität in Maryland. Der Artikel über das Umwandlungszentrum ist kurz und so versteckt zwischen all den anderen Nachrichten, dass ihn nur findet, wer danach sucht.
Die Umwandlung schleicht sich auf leisen Sohlen herein.
Es gibt keinen hämischen Anruf vom Proaktiven Bürgerforum. Sie haben ihn und Sonia als unbedeutend abgeschrieben. Er betrachtet die goldene Medaille, die auf der anderen Seite des Zimmers in einer Vitrine liegt. Was bedeutet ein Nobelpreis, wenn deine lebensrettende Arbeit umgewandelt wird in einen Vorwand, um Leben zu beenden?
»Aber das Leben endet nicht«, beharren die Befürworter der Umwandlung lächelnd. »Es verändert sich nur. Wir nennen es das ›Leben in geteiltem Zustand‹.«
Beim Verlassen seines Büros schlägt er, einem plötzlichen Impuls folgend, gegen die Vitrine, und das Glas zerbricht. Dann steht er da und kommt sich idiotisch vor. Die Medaille ist von ihrem Sockel gefallen und liegt zwischen den Scherben. Er nimmt sie heraus und steckt sie in die Jackentasche.
Als er in die Einfahrt seines Hauses einbiegt, sieht er, dass der Pick-up nicht da ist. Sonia ist unterwegs. Garagenverkäufe und Flohmärkte, also ist heute Samstag. Janson hat jedes Zeitgefühl verloren. Sonia betäubt ihre Enttäuschung, indem sie Nippes und alten Möbeln hinterherjagt, die sie nicht brauchen. Sie war schon wochenlang nicht mehr im Labor. Als ob sie die medizinische Forschung komplett aufgegeben hätte und mit einundvierzig in den Ruhestand gegangen wäre.
Die Eingangstür ist nicht verschlossen – wie leichtsinnig von ihr. Doch als er einen Augenblick später von der Diele ins Wohnzimmer geht, wird ihm unmissverständlich klar, dass nicht sie die Tür offen gelassen hat. Eine der schweren Nippesfiguren seiner Frau trifft ihn am Kopf, und er fällt zu Boden. Benommen, aber immer noch bei Bewusstsein schaut er auf, um das Gesicht seines Angreifers zu sehen.
Er ist nur ein Junge, höchstens sechzehn. Einer der »Streuner«, über die in den Nachrichten und in der Nachbarschaft dauernd lamentiert wird. Die gesetzlosen, brutalen Nebenprodukte der modernen Zivilisation. Er ist schlaksig und schlecht ernährt, aber in seinen Augen glitzert ein Zorn, der er auch mit dem Angriff auf einen Fremden nicht ganz verraucht ist.
»Wo ist die Kohle?«, will er wissen. »Wo ist der Safe?«
Trotz seiner Schmerzen muss Janson fast lachen. »Es gibt keinen Safe.«
»Lüg mich nicht an! In solchen Häusern ist immer ein Safe!«
Er wundert sich, dass der Junge zugleich so gefährlich und so naiv sein kann. Aber andererseits weiß man ja, dass Dummheit und blinde Grausamkeit oft Hand in Hand gehen. Aus einer finsteren Laune heraus greift Rheinschild in die Jackentasche und wirft dem Jungen seine Medaille zu.
»Nimm die. Sie ist aus Gold«, sagt er. »Ich habe keine Verwendung mehr dafür.«
Der Junge fängt die Medaille mit einer Hand auf, an der zwei Finger fehlen. »Du lügst. Das ist kein Gold.«
»Auch gut«, sagt Rheinschild. »Dann bring mich um.«
Der Junge dreht die Medaille ein paarmal in den Händen. »Der Nobelpreis? Das glaube ich nicht. Das ist eine Fälschung.«
»Gut«, sagt Rheinschild noch einmal. »Dann bring mich um.«
»Halt die Klappe! Ich hab nichts davon gesagt, dass ich dich umbringe, oder?« Der Junge wiegt die Medaille in der Hand und spürt ihr Gewicht. Rheinschild zieht sich in eine sitzende Position. In seinem Kopf dreht sich immer noch alles. Vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung. Es ist ihm egal.
Der Junge schaut sich in dem Wohnzimmer um und betrachtet all die Preise und Urkunden, die Janson und Sonia für ihre bahnbrechende Arbeit erhalten haben. »Wenn die echt ist, wofür hast du sie dann bekommen?«
»Wir haben das Umwandeln erfunden«, antwortet Rheinschild. »Auch wenn uns das damals nicht bewusst war.«
Der Junge stößt ein bitteres, ungläubiges Lachen aus. »Ja klar.«
Eigentlich könnte der junge Einbrecher mit seiner Beute verschwinden, aber er zögert. Deshalb fragt Rheinschild ihn: »Was ist mit deinen Fingern passiert?«
Im misstrauischen Blick des Jungen blitzt wieder Zorn auf. »Was geht dich das an?«
»Erfrierungen?«
Der Angreifer staunt über Rheinschilds Vermutung. »Ja, genau. Die meisten denken, es wäre beim Feuerwerk oder so was Blödem passiert. Aber sie sind im letzten Winter abgefroren.«
Rheinschild zieht sich auf einen Stuhl.
»Wer hat gesagt, dass du dich bewegen darfst?« Aber sie wissen beide, dass das Getue des Jungen nur Show ist.
Rheinschild betrachtet ihn genauer. Der Kerl sieht aus, als hätte er noch nie im Leben eine Dusche gesehen. Man kann nicht einmal sagen, welche Haarfarbe er hat. »Was brauchst du?«, fragt Rheinschild.
»Dein Geld«, sagt er und schaut ihn von oben herab an.
»Ich hab dich nicht gefragt, was du willst. Ich hab dich gefragt, was du brauchst.«
»Dein Geld!«, wiederholt der Junge, etwas nachdrücklicher diesmal. Dann fügt er noch leise hinzu: »Und was zu essen. Und Klamotten. Und einen Job.«
»Was, wenn ich dir eines der drei Dinge geben würde?«
»Was, wenn ich nochmal ein bisschen fester auf deinen Kopf hauen würde?«
Rheinschild greift in die Tasche und zieht sein Portemonnaie absichtlich so heraus, dass die Geldscheine darin sichtbar sind. Aber statt der Scheine wirft er dem Jungen seine Visitenkarte hin.
»Komm am Montag um 10 Uhr zu dieser Adresse. Ich gebe dir Arbeit und zahle dir einen ordentlichen Lohn. Wenn du davon essen und Kleider kaufen willst, ist das okay für mich. Wenn du es verprassen willst, ist das auch okay für mich, solange du nur fünf Tage in der Woche regelmäßig kommst. Und bevor du kommst, gehst du duschen.«
Der Junge grinst ihn höhnisch an. »Und dann rufst du die JuPos, damit sie mich in Empfang nehmen. Glaubst du, ich bin blöd?«
»Die empirischen Beweise reichen nicht aus, um zu diesem Schluss zu kommen.«
Der Junge verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Was ist das für eine Arbeit?«
»Biologisch. Medizinisch. Ich arbeite an etwas, womit man das Umwandeln beenden könnte, aber ich brauche einen Forschungsassistenten. Und zwar einen, der nicht heimlich auf der Gehaltsliste des Proaktiven Bürgerforums steht.«
»Proaktives was?«
»Gute Antwort. Solange du das sagen kannst, ist dir der Job sicher.«
Der Junge überlegt und betrachtet dann die Medaille in seiner dreifingrigen Hand. Er wirft sie Rheinschild wieder zu. »Solltest nicht damit herumlaufen. Du solltest sie einrahmen lassen oder so.«
Dann geht er und hat außer einer Visitenkarte nicht mehr in der Hand als zum Zeitpunkt, als er in das Haus einbrach.
Rheinschild ist sich ziemlich sicher, dass er den Jungen nie wiedersehen wird. Umso überraschter ist er, als dieser am Montagmorgen in seinem Forschungslabor steht. Er hat zwar immer noch dieselben dreckigen Kleider an, aber darunter ist er frisch geduscht.