8. Connor
Der Polizist hat den Verdacht, dass Connor hier ist, aber wirklich glauben kann er es nicht. Er traut es Grace offensichtlich nicht zu, einem Flüchtling Unterschlupf zu gewähren. Er findet sie viel zu beschränkt, um so was durchzuziehen. Wenn er Connor entdeckt, ist es ebenso gut möglich, dass er ihn auf der Stelle erschießt, denn den Flüchtling aus Akron zu töten, ist genauso gut wie ihn zu verhaften. Connor bleibt einzig und allein das Überraschungsmoment, aber das ist weg, sobald er entdeckt ist. Also startet Connor in dem Augenblick, als der Polizist in den ersten Säcken herumstochert. Er springt aus dem Sack, in dem er sich versteckt hat, packt den Polizisten bei den Knöcheln und zieht ihm die Füße weg.
Mit einem überraschten Aufschrei geht der Mann zu Boden, und seine Waffe, die er nicht so hält, wie ein Polizist sie halten sollte, fliegt weg. Grace stürzt sich darauf, während der Mann in einem Stapel Wasserflaschen landet, die nun über den Boden hüpfen und rollen.
Connor umschlingt immer noch die Knöchel des Typen und findet, dass er unter diesen Umständen nur eines sagen kann: »Hübsche Socken.«
Grace steht neben ihnen und zielt mit der Waffe auf die Brust des Polizisten. »Keine Bewegung und kein Wort zu den andern, sonst schieße ich.«
»Ganz ruhig, Gracie.« Er versucht, mit Charme aus der Sache herauszukommen. »Das willst du doch nicht wirklich tun.«
»Halt die Klappe, Joey! Ich weiß, was ich will und was ich nicht will. Und jetzt will ich dich in Unterwäsche sehen.«
»Was?«
Connor lacht, denn er kapiert sofort, was Grace vorhat. »Du hast gehört, was die Dame gesagt hat. Zieh dich aus!« Connor windet sich vollends aus dem Sack heraus und zieht sich ebenfalls aus, um seine Kleider gegen die des Polizisten zu tauschen. Obwohl Connor eigentlich gedacht hatte, er selbst würde das Kommando über seine Flucht haben, überlässt er jetzt Grace die Führung. Er ist total erstaunt darüber, was sie bisher bewerkstelligt hat. Und wie der Admiral ihm einmal geraten hat: »Einem echten Führer sind seine besten Leute immer wichtiger als sein Ego.« Und Grace Skinner gehört zu den allerbesten.
»Was ist das wieder für ein Spiel, Grace?«, fragt Connor, als er die Hose des Polizisten anzieht.
»Eines, das wir gewinnen«, sagt sie einfach. Dann wendet sie sich an den Polizisten: »Los, das Hemd auch.«
»Grace …«
»Keine Widerrede, sonst pump ich dich mit Blei voll!«
Connor kichert über das Unterweltklischee aus dem Kino. »Eigentlich werden Patronen nicht mehr aus Blei hergestellt. Ganz zu schweigen von den Keramikpatronen, die sie gegen Klatscher einsetzen.«
»Ja, ja – auch von dir keine Widerrede.«
Der Polizist Joey trägt, wie Connor bemerkt, einfarbige graue Boxershorts, die schon bessere Tage gesehen haben. Schlaff hängen sie unter einem bleichen Bauch, dessen Sixpack sich seit der Highschoolzeit in ein Bierfass verwandelt hat. Wenn Grace wirklich daran interessiert gewesen war, ihn in Unterwäsche zu sehen, ist sie jetzt bestimmt enttäuscht.
»Was denkst du denn, wo du hinkannst, Gracie? Du hast Heartsdale niemals verlassen. Dieser Typ lässt dich am ersten Rastplatz sitzen, und was dann?«
»Was geht dich das an?«
»Mit dem Rücken an den Pfosten, bitte.« Connor fesselt ihn, so fest er kann, aber dann nimmt Grace eine Scherbe der zerbrochenen Wasserpfeife und legt sie in die gefesselten Hände des Polizisten, damit er sich befreien kann.
»In dem Augenblick, in dem ich frei bin, sind alle hinter dir her. Das ist dir schon klar, oder?«
Grace schüttelt den Kopf. »Nö. Sobald du frei bist, wirst du die Treppe hochflitzen und dich hinter den Büschen verstecken.«
»Was?«
»Genau das wirst du tun. Du wirst dich verstecken, bis alle weg sind. Dann gehst du rüber zum Parkplatz vom Publix und sammelst dein Auto ein. Dort werden wir es nämlich stehen lassen, mit Schlüssel und allem. Dann verbringst du den Rest des Tages, als ob nichts geschehen wäre, und wenn die Leute fragen, wo du warst, sagst du, du hast Lunch geholt.«
»Du spinnst wohl! Warum sollte ich das tun?«
»Weil«, antwortet Grace, »sonst jeder in Heartsdale wissen wird, dass die alte dumme Grace Skinner dich ausgetrickst hat. Und dann bist du eine Lachnummer bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag oder vielleicht sogar noch länger!«
Connor lächelte nur, als das Gesicht des Polizisten puterrot wird und seine Lippen sich zornig zusammenpressen. »Du dummes Miststück!«, knurrt er.
»Dafür sollte ich dich ins Knie schießen«, sagt Grace, »aber ich tue es nicht. So eine bin ich nicht.«
Connor setzt den Hut des Polizisten auf. »Tut mir leid, Joey«, sagt er. »Sieht so aus, als wärst du gleich zweifach verarscht worden.«