3. Cam

Der erste Designermensch der Welt trägt Abendgarderobe.

Sein maßgeschneiderter Smoking ist von höchster Qualität. Er sieht gut aus. Beeindruckend. Imposant. Er sieht älter aus, aber da Alter für Camus Comprix ein sehr vager Begriff ist, kann er nicht genau sagen, wie alt er eigentlich aussehen sollte.

»Gib mir einen Geburtstag«, bittet er Roberta, die an seiner Fliege nestelt. Offenbar konnte kein einziger der Jugendlichen, deren Teile er in seinem Kopf hat, eine Fliege binden. »Weis mir ein Alter zu.«

Roberta ist der einzige Mensch, der jemals annähernd so etwas wie eine Mutter für Cam sein kann. Jedenfalls ist sie vernarrt in ihn wie eine Mutter. »Such dir eines aus«, sagt sie, während sie an seiner Fliege zieht, zupft und zerrt. »Du kennst den Tag, an dem du zusammengefügt wurdest.«

»Falsch«, sagt Cam. »Jeder Teil von mir existierte, bevor ich zusammengefügt wurde. Das ist also nicht der Tag zum Feiern.«

»Jeder Teil eines jeden existiert, bevor er als Individuum der Welt präsentiert wird.«

»Geboren wird, meinst du.«

»Geboren wird«, räumt Roberta ein. »Aber Geburtstage sind reiner Zufall. Babys kommen früh, Babys kommen spät. Das Leben mit dem Tag zu definieren, an dem jemand von der Nabelschnur abgeschnitten wurde, entbehrt jeder Begründung.«

»Aber sie wurden geboren«, betont Cam. »Das heißt, dass ich auch geboren wurde. Nur eben nicht an einem Tag und von verschiedenen Müttern.«

»Wohl wahr.« Roberta tritt einen Schritt zurück und schaut ihn bewundernd an. »Deine Logik ist so untadelig wie dein Aussehen.«

Cam dreht sich um und betrachtet sich im Spiegel. Seine Haare mit den vielen symmetrischen Farbschattierungen sind geschnitten und perfekt frisiert worden. Die verschiedenen Hauttöne, die von einem Punkt in der Mitte seiner Stirn ausgehen, lassen ihn noch phantastischer aussehen. Seine Nähte sind nur noch haarfeine Linien. Eher exotisch als abschreckend. Seine Haut, seine Haare, sein ganzer Körper ist schön.

Warum sollte Risa mich also verlassen?

»Lockdown«, sagt er reflexartig. Dann räuspert er sich und tut so, als ob er gar nichts gesagt hätte. Lockdown ist das Wort, das neuerdings aus ihm herausbricht, wenn er einen Gedanken aus seinem Kopf verbannen möchte. Er kann es einfach nicht verhindern. Das Wort ruft ein Bild von eisernen Türen hervor, die ins Schloss fallen und die Gedanken einschließen, so dass nirgendwo in seinem Kopf ein Austausch stattfinden kann. »Lockdown« ist für Cam eine Lebensweise geworden.

Leider weiß Roberta genau, was das Wort bedeutet.

»10. Oktober«, sagt Cam rasch, bevor Roberta die Gesprächsführung übernehmen kann. »Mein Geburtstag wird am 10. Oktober sein, das ist in diesem Jahr der Kolumbustag.« Was wäre passender als ein Tag, der an die Entdeckung eines Landes und eines Volkes erinnert, die schon da waren und gar nicht entdeckt werden mussten? »Ich werde am 10. Oktober achtzehn.«

»Phantastisch«, sagt Roberta. »Wir geben eine Party für dich. Aber jetzt müssen wir uns auf eine andere Party konzentrieren.« Sie fasst ihn vorsichtig an den Schultern und zwingt ihn, sie anzusehen. Dann korrigiert sie den Sitz seiner Fliege, als würde sie ein Bild an der Wand geraderücken. »Ich bin sicher, dass ich nicht noch einmal betonen muss, wie wichtig diese Gala heute Abend ist.«

»Ja, aber du wirst es trotzdem tun.«

Roberta seufzt. »Es geht nicht mehr um Schadensbegrenzung, Cam«, sagt sie. »Risa Wards Verrat war ein Rückschlag, aber du hast ihn mit Bravour überwunden. Und mehr sage ich nicht zu diesem Thema.« Offenbar aber doch, denn sie fügt hinzu: »Die kritische Beobachtung durch die Öffentlichkeit ist eine Sache, aber jetzt stehst du unter kritischer Beobachtung derer, die in dieser Welt tatsächlich etwas bewegen. Du machst in diesem Smoking eine tolle Figur. Jetzt zeig ihnen, dass du im Innern ebenso prachtvoll bist wie außen.«

»Pracht ist subjektiv.«

»Gut. Dann überzeuge jeden Einzelnen.«

Cam schaut aus dem Fenster. Ihr Wagen ist vorgefahren. Roberta nimmt ihre Handtasche, und Cam, immer Gentleman, hält ihr die Tür auf, als sie den noblen Washingtoner Stadtsitz des Proaktiven Bürgerforums verlassen und in den schwülen Juliabend hinaustreten. Cam vermutet, dass die mächtige Organisation in jeder größeren Stadt des Landes, vielleicht sogar der Welt, eine Residenz besitzt.

Warum hat das Proaktive Bürgerforum so viel Geld und Einfluss für mich geltend gemacht?, fragt sich Cam oft. Je mehr sie ihm geben, desto mehr ärgert er sich darüber, denn es macht seine Gefangenschaft immer deutlicher. Sie haben ihn auf ein Podest gestellt, aber Cam hat inzwischen verstanden, dass ein Podest nichts anderes ist als ein eleganter Käfig. Keine Wände, keine Schlösser, aber wenn man keine Flügel hat, um wegzufliegen, sitzt man in der Falle. Ein Podest ist das heimtückischste Gefängnis, das jemals erdacht wurde.

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagt Roberta neckisch, als sie auf den Autobahnring auffahren.

Cam grinst, aber er schaut sie nicht an. »Ich glaube, das Proaktive Bürgerforum kann sich mehr als einen Penny leisten.« Doch er vertraut ihr keinen einzigen Gedanken an, egal, wie viel sie zahlt.

Es dämmert schon, als die Limousine am Potomac entlangfährt. Auf der anderen Seite des Flusses werden die Denkmäler von Washington bereits hell angestrahlt. Das Washington Monument ist fast ganz von einem Gerüst eingehüllt, denn das Pionierkorps bemüht sich, die ausgeprägte Schieflage zu korrigieren, in die das Monument in den vergangenen Jahrzehnten geraten ist. Erosion im felsigen Untergrund und Verschiebungen durch Erdbeben haben der Stadt ihren eigenen schiefen Turm geschenkt. »Von Lincolns Sessel aus gesehen, neigt er sich nach rechts«, haben Politikexperten bekanntlich gesagt, »aber von den Stufen des Kapitols aus gesehen, neigt er sich nach links.«

Cam ist zum ersten Mal in Washington, D.C., aber er hat dennoch Erinnerungen an einen Besuch in dieser Stadt. Zum Beispiel, wie er zusammen mit einer Schwester, die eindeutig umbra war, mit dem Fahrrad die Nationalpromenade entlangfährt. Oder wie er mit Eltern japanischer Herkunft Urlaub macht, die wütend sind, dass sie den Jähzorn ihres kleinen Jungen nicht in den Griff bekommen. Er hat eine farbenblinde Erinnerung an ein riesiges Vermeer-Bild im Smithsonian und eine parallele Erinnerung an dasselbe Kunstwerk, aber in voller Farbenpracht.

Inzwischen macht es Cam fast Spaß, diese verschiedenen Erinnerungen zu vergleichen und gegenüberzustellen. Erinnerungen an dieselben Orte oder Dinge sollten identisch sein, aber sie sind es nie, denn die verschiedenen Wandler, die in seinem Gehirn gegenwärtig sind, sahen die Welt um sich herum auf sehr unterschiedliche Weise. Zuerst fand Cam das verwirrend und beunruhigend, es hatte Angst und Panik in ihm ausgelöst, aber jetzt erscheint es ihm auf kuriose Weise aufschlussreich. Die Vielschichtigkeit seiner Erinnerungen ermöglicht ihm ganz unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt, eine Art Tiefenwahrnehmung jenseits des begrenzten Gesichtsfelds eines einzelnen Menschen. Er hält sich das immer wieder vor Augen, aber dennoch brodelt unter jeder Schicht ein sehr ursprünglicher Zorn. Wenn verschiedene Erinnerungen sich widersprechen, breitet sich der Misston bis zum innersten Kern seines Wesens aus und erinnert ihn daran, dass nicht einmal seine Erinnerungen ihm selbst gehören.

Die Limousine biegt in die geschwungene Einfahrt eines im Plantagenstil erbauten Anwesens ein, das entweder sehr alt ist oder sehr neu, aber auf alt getrimmt wurde, wie so viele Dinge. Stadtautos und Limousinen parken entlang der Auffahrt. Diener drängeln sich, um die Wagen der Gäste zu parken, die ohne Chauffeur gekommen sind.

»Du weißt, dass du in der höchsten Schicht der Gesellschaft angekommen bist«, bemerkt Roberta, »wenn es dir peinlich ist, dass du den Valet-Parkservice nutzen musst.«

Ihre Limousine hält an, und die Tür wird für sie geöffnet.

»Leuchte, Cam«, sagt Roberta zu ihm. »Leuchte wie der Stern, der du bist.«

Sie küsst ihn zärtlich auf die Wange. Erst als sie aussteigen und Robertas Aufmerksamkeit sich auf den Weg vor ihnen richtet, wischt er die Überreste des Kusses mit dem Handrücken ab.

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»Stimmt es, was man über dich hört?«, fragt das hübsche Mädchen.

Sie trägt ein Kleid, das ein wenig zu kurz ist für eine Veranstaltung mit Abendkleidern und Smokings, und sie gehört zu den wenigen Galagästen in Cams Alter.

»Kommt drauf an«, antwortet er. »Was hört man denn?«

Sie sind in einem Arbeitszimmer, weit weg von dem Gewühl und Gedränge der überfüllten Party. Eine Wand ist von unten bis oben vollgestellt mit ledergebundenen juristischen Fachbüchern, außerdem gibt es noch einen bequemen Sessel und einen Schreibtisch, der für seinen Zweck viel zu groß ist. Cam war vor seiner Aufgabe, für die verschiedenen reichen und mächtigen Gäste zu »leuchten«, hierhergeflüchtet, und das Mädchen war ihm gefolgt.

»Dass du in allem, was du tust, einzigartig bist.«

Sie kommt von der Tür auf ihn zu. »Dass jeder Teil von dir handverlesen und in jeder Hinsicht perfekt ist.«

»Das bin aber nicht ich«, sagt er listig. »Ich glaube, es war Mary Poppins, die behauptet hat, dass sie praktisch in jeder Hinsicht perfekt ist.«

Kichernd kommt sie noch ein bisschen näher. »Witzig bist du auch noch.«

Sie ist sehr hübsch. Und offenbar von der Welt der Stars fasziniert. Sie möchte sich in seinem Abglanz aalen, und er überlegt, ob er es ihr erlauben soll.

»Wie heißt du?«

»Miranda«, sagt sie leise. »Darf ich … deine Haare berühren?«

»Nur wenn ich auch deine berühren darf …«

Zunächst streckt sie zögernd die Hand aus und streicht ihm übers Haar, dann lässt sie die Finger durch die farbigen Partien gleiten, die sich auch ganz unterschiedlich anfühlen.

»Du bist so … exotisch. Ich dachte, ich hätte Angst, wenn ich dich persönlich sehe, aber das habe ich gar nicht.«

Sie riecht nach Vanille und Wildblumen – ein Duft, der Erinnerungen an verschiedene, nicht genauer bestimmbare Orte weckt. Das Parfüm ist beliebt bei beliebten Mädchen.

»Risa Ward ist ein Miststück«, sagt sie zu ihm. »Wie sie dich im Fernsehen abserviert hat. Wie sie mit dir gespielt und dich dann weggeworfen hat. Du verdienst eine bessere. Eine, die auch weiß, was sie an dir hat.«

»Lockdown!«, stößt Cam hervor.

Sie schlendert lächelnd zur Tür. »Ein Schloss gibt es nicht«, sagt sie, »aber ich kann sie auf jeden Fall zumachen.«

Sie schließt die Tür und ist einen Augenblick später wieder bei ihm. Er kann sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen ist. Als ob sie sich von der Tür direkt in seine Umarmung gebeamt hätte. Er kann nicht klar denken. Zu viel strömt auf ihn ein, aber das ist ausnahmsweise mal ein gutes Gefühl.

Sie knotet seine Fliege auf. Er kann sie nicht wieder binden, aber das ist ihm egal. Er hält das Mädchen in seinen Armen, und sie schmiegt sich an ihn und küsst ihn. Dann löst sie sich von ihm, aber nur für einen Augenblick, um Atem zu schöpfen. In ihrem Blick liegt ein durchtriebenes Glitzern, als sie zu ihm aufschaut. Wieder kommt sie näher und küsst ihn, forschender noch als beim ersten Mal. Cam lässt seinen Fertigkeiten freien Lauf. Muskelgedächtnis, vermutet er, denn die Zunge ist definitiv ein Muskel.

Noch atemloser als zuvor löst sie sich wieder von ihm. Dann drückt sie ihre Wange an seine und flüstert, die Lippen dicht an seinem Ohr, so leise, dass er sie kaum hören kann.

»Ich möchte deine Erste sein.« Sie drückt sich noch fester an ihn, so dass der Stoff ihres Kleides über das feine Gewebe seines Smokings zischelt.

»Du bist anscheinend ein Mädchen, das bekommt, was es will.«

»Immer.«

Für so etwas war Cam nicht hierhergekommen. Er könnte sie abweisen, aber wozu? Warum sollte er es ablehnen, wenn es ihm so freigebig angeboten wurde? Außerdem hat die Erwähnung von Risa seinen Trotz geweckt, so dass er jetzt erst recht hier sein will bei diesem Mädchen, dessen Namen er schon vergessen hat.

Er küsst sie noch einmal und erwidert ihr forderndes Drängen.

Da geht die Tür auf.

Cam erstarrt. Das Mädchen macht einen Schritt zurück, aber es ist zu spät. In der Tür steht ein eleganter Mann, der in seinem Smoking noch einschüchternder aussieht als Cam in seinem.

»Hände weg von meiner Tochter!«

Da seine Hände die Tochter des Mannes längst nicht mehr berühren, bleibt er einfach stehen und wartet.

»Daddy, bitte! Das ist peinlich!«

Andere Gäste treten näher, neugierig auf das Drama, das sich hier abspielen könnte. Der Mann hält seinen zornigen Blick, als ob er ihn einstudiert hätte. »Miranda, hol deinen Mantel. Wir gehen.«

»Daddy, reg dich ab. Immer musst du überreagieren!«

»Du hast gehört, was ich gesagt habe.«

Jetzt fließen Tränen. »Warum machst du immer alles kaputt!«, heult Miranda und stampft weinend hinaus. Ihre Demütigung trägt sie wie ein Wundmal zur Schau.

Cam weiß nicht recht, wie er auf all das reagieren soll, also reagiert er gar nicht. Er steckt die Hände in die Hosentaschen. So kann man ihm wenigstens nicht mehr vorwerfen, sie auf Miranda zu haben, die den Flur hinunterstürmt. Dann setzt er ein entschlossenes Pokerface auf. Der Mann sieht aus, als würde er gleich vor Wut platzen.

Roberta erreicht den Schauplatz und fragt zögernd: »Was ist hier los?« Sie klingt ungewöhnlich schwach und unentschieden. Das hier ist also noch viel schlimmer, als Cam annimmt.

»Ich sag Ihnen, was los ist«, knurrt der Mann. »Ihr … Ding … hat sich an meine Tochter rangemacht.«

»Eigentlich hat sie sich an mich rangemacht«, sagt Cam. »Und zwar erfolgreich.«

Das löst bei einigen Anwesenden gedämpftes Gelächter aus.

»Und das soll ich glauben?« Der Mann macht einen Schritt nach vorn, und Cam zieht die Hände aus den Hosentaschen, damit er sich notfalls verteidigen kann.

Roberta will sich zwischen sie drängen. »Senator Marshall, wenn Sie einfach …«

Aber er schiebt sie zur Seite und fuchtelt drohend mit dem Finger vor Cams Gesicht herum. Ein Teil von Cam möchte den Finger ergreifen und ihn brechen. Ein Teil von ihm möchte hineinbeißen. Ein anderer Teil möchte sich umdrehen und weglaufen, und noch ein anderer Teil möchte lachen. Cam beherrscht all diese widerstreitenden Impulse und bleibt stehen, ohne mit der Wimper zu zucken, als der Senator sagt:

»Wenn Sie sich meiner Tochter noch einmal nähern, werde ich dafür sorgen, dass Sie Stück für verdammtes Stück auseinandergenommen werden. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Noch ein bisschen klarer«, antwortet Cam, »und Sie wären unsichtbar.«

Der Senator tritt einen Schritt zurück und lässt seinen Zorn an Roberta aus. »Kommen Sie nicht zu mir, wenn Sie Unterstützung für Ihr kleines ›Projekt‹ haben wollen«, zischt er. »Sie werden keine bekommen.« Dann stürmt er hinaus und hinterlässt eine beklemmende Stille.

Roberta hat es die Sprache verschlagen. Sie ringt um Fassung und schaut Cam hilflos an. Warum?, sagen ihre Augen. Warum hast du auf alles gespuckt, was ich dir gegeben habe? Du bist ruiniert, Cam. Wir sind ruiniert. Ich bin ruiniert.

Da applaudiert auf einmal ein Mann in die Stille hinein. Er ist etwas älter und um die Taille herum ein bisschen dicker als Senator Marshall. Als er seine wuchtigen Pranken gegeneinander schlägt, ertönt ein furchtbarer Donnerschlag. Klatscher würden ihn beneiden.

»Gut gemacht, mein Junge!«, sagt der große Mann im gedehnten Akzent der Südstaatler. »Seit Jahren schon will ich Marshall aus der Reserve locken, und dir ist es an einem einzigen Abend gelungen. Chapeau!« Dann bricht er in wieherndes Gelächter aus, und die ganze Anspannung zerplatzt wie eine Seifenblase.

Eine Frau in einem schimmernden goldenen Kleid und mit einem Champagnerglas in der Hand legt den Arm um Cam und nuschelt mit alkoholgeschwängerter Stimme: »Glaub mir, du bist nicht der erste junge Mann, den Miranda Marshall verschlingen wollte. Dieses Mädchen ist eine Anakonda!«

Cam muss kichern. »Ja, sie hat tatsächlich versucht, sich um mich herumzuwickeln.«

Alle Anwesenden lachen. Der große Mann gibt Cam die Hand.

»Wir haben uns noch gar nicht richtig bekannt gemacht, Mr Comprix. Ich bin Barton Cobb, der dienstälteste Senator aus Georgia.« Dann wendet er sich an Roberta, die aussieht, als sei sie gerade aus einer Achterbahn gestiegen. »Sie haben meine uneingeschränkte Unterstützung für Ihr Projekt, Miss Griswold. Und wenn Marshall das nicht gefällt, kann er es sich sonst wo hinstecken.« Wieder lacht er wiehernd, und als Cam sich umschaut, hat er den Eindruck, als hätte sich die gesamte Abendgesellschaft in die Bibliothek bewegt. Man macht sich miteinander bekannt, und sogar Menschen, denen er bereits die Hand geschüttelt hat, treten auf ihn zu und stellen sich noch einmal vor.

Cam ist als Kuriosität auf die Party gekommen, als ein dekoratives Maskottchen, das die Veranstaltung ein bisschen aufpeppt, aber jetzt steht er im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese Rolle ist ihm vertraut, und je mehr Aufmerksamkeit er bekommt, umso gelassener wird er. Je mehr Scheinwerfer, desto weniger Schatten.

Auch Roberta läuft zur Hochform auf, wenn er im Mittelpunkt steht. Eine Motte, die um sein Licht schwirrt. Er fragt sich, ob sie die leiseste Ahnung hat, wie sehr er alles verachtet, was sie repräsentiert. Und das Merkwürdige ist: Eigentlich weiß er nicht einmal genau, was sie repräsentiert. Und deshalb verachtet er es umso mehr.

»Cam.« Sie nimmt ihn behutsam am Ellbogen und schiebt ihn auf einen Mann in Uniform zu, der ihm unerschrocken entgegenblickt. »Das ist General Edward Bodeker.«

Cam schüttelt dem Mann die Hand und macht höflich den obligatorischen Diener. »Es ist mir eine Ehre, Sir.«

»Ganz meinerseits«, sagt der General. »Ich habe gerade Miss Griswold gefragt, ob Sie eine Laufbahn beim Militär in Betracht gezogen haben.«

»Ich schließe nichts aus, Sir«, antwortet Cam. Das ist seine liebste Nichtantwort.

»Gut. Wir hätten für einen jungen Mann wie Sie gute Verwendung.«

»Nun, Sir, das einzige Problem daran ist, dass es keine ›jungen Männer wie mich‹ gibt.«

Das quittiert der General mit einem freundlichen Lachen und einem väterlichen Schulterklopfen.

Die Spannung, die nur wenige Minuten zuvor geherrscht hat, ist vollkommen vergessen. Offenbar hat er sich den Richtigen zum Feind gemacht, denn jetzt hat er sehr viele Freunde.