24. Argent
Er muss schlau sein. Schlauer als alle ihm zutrauen. Schlauer als sogar er selbst sich findet. Er muss sich der Situation gewachsen zeigen … sonst könnte es tödlich für ihn enden.
»Sprich mit mir, Argent«, sagt Nelson. »Erzähl mir alles, was Lassiter in deinem Keller gesagt hat.«
Der erste Tag: Sie haben vor weniger als einer halben Stunde Heartsdale in Richtung Norden verlassen. Dieser Mann am Steuer, dieser Teilepirat, ist intelligent und versteht sein Geschäft. Aber etwas in seinen Augen deutet darauf hin, dass er sich am Rand der Welt bewegt, am Rand des Wahnsinns balanciert. Vielleicht hat Connor Lassiter ihn dorthin getrieben. Wenn Nelson tatsächlich seine Bestform eingebüßt hat, begegnen er und Argent sich vielleicht auf Augenhöhe.
»Erzähl mir alles, woran du dich erinnerst. Auch wenn du es für unbedeutend hältst, ich will es wissen.«
Also fängt Argent an zu reden, ununterbrochen. Er redet und redet über die Dinge, die Connor gesagt hat, und über viele Dinge, die er nicht gesagt hat.
»Ja, wir waren dann ziemlich dicke miteinander«, prahlt Argent. »Er hat mir all diesen Mist aus seinem früheren Leben erzählt. Wie seine Eltern während seinem letzten Abstecher in den Jugendknast die Schlösser ausgetauscht haben. Danach haben sie dann die Umwandlungsverfügung unterzeichnet. Oder was für einen Hass er gegen seinen kleinen Bruder, den Musterknaben, geschoben hat.« All das hatte Argent über den Flüchtling aus Akron gelesen, lange bevor dieser an Argents Kasse aufgetaucht war, um Sandwiches zu kaufen. Aber das braucht Nelson nicht zu wissen.
»Ihr wart so dicke, dass er dir das Gesicht aufgeschlitzt hat, was?«, wirft Nelson ein.
Argent fasst sich an die Naht auf seiner linken Gesichtshälfte, die jetzt ohne Verband und vollkommen ungeschützt ist. Sie juckt schrecklich, schmerzt aber nur, wenn er sie zu fest berührt. »Er ist ein fieser Scheißkerl«, sagt Argent. »Er behandelt seine Freunde schlecht. Jedenfalls wusste er, wohin er gehen kann. Ich wollte ihn aber nur gehen lassen, wenn er mich mitnimmt. Also hat er mich aufgeschlitzt, meine Schwester als Geisel genommen und ist abgehauen.«
»Und wohin?«
Jetzt kommt der Teil, den Argent glaubhaft verkaufen muss. »Darüber hat er nicht viel geredet, außer natürlich als wir high waren.«
Nelson schaut zu ihm herüber. »Ihr habt Tranq geraucht?«
»Ja, klar, die ganze Zeit. Das haben wir am liebsten zusammen gemacht. Guter Stoff. Echt hochkarätiger Tranq.«
Nelson beäugt ihn argwöhnisch, deshalb rudert Argent ein bisschen zurück: »Na ja, ich meine, so hochkarätig, wie man das Zeug eben in Heartsdale bekommt.«
»Als er high war, hat er also geplaudert. Was hat er gesagt?«
»Ich muss mich erst erinnern. Schließlich bin ich auch da oben rumgeschwirrt, ist alles irgendwie ein bisschen verschwommen. Also, ich meine, ist immer noch alles in meiner Birne, da bin ich sicher, aber ich muss es rauskitzeln.«
»Rausbaggern trifft’s vielleicht besser.«
Argent lässt die Beleidigung an sich abprallen. »Er hat von einem Mädchen geredet«, fängt er an. »›Muss zu ihr, muss zu ihr‹, hat er gesagt. Sie sollte ihm irgendwas geben. Keine Ahnung, was.«
»Risa Ward«, sagt Nelson. »Er hat von Risa Ward gesprochen.«
»Nein, nicht von ihr. Das hätte ich gemerkt.« Argent runzelt die Stirn, obwohl es weh tut. »Es war jemand anders. Mary hieß sie. Ja, genau. Mary und irgendwas Französisches. LeBeck. Oder LaBerg. LaVeau! Ja. Mary LaVeau. Er wollte sich mit ihr treffen. Ein bisschen Bourbon trinken.«
Darauf schweigt Nelson, und Argent gibt ihm keine weiteren Informationen. Soll er doch erst mal verdauen, was er hat.
Zweiter Tag: Im Morgengrauen. Ein Zimmer in einem Billigmotel in North Platte, Nebraska. Eigentlich hatte Argent etwas Besseres erwartet. Nelson weckt ihn noch vor der Dämmerung.
»Los, beweg deinen faulen Arsch aus dem Bett. Wir drehen um.«
Argent gähnt. »Warum die Hektik?«
»Marie Laveaus Voodoo-Haus«, informiert Nelson ihn. Er ist fleißig gewesen und hat recherchiert. »Bourbon Street, New Orleans – das hat Lassiter gemeint. Wie auch immer, dorthin wollte er jedenfalls, und er hat eine ganze Woche Vorsprung. Wahrscheinlich ist er schon da.«
Argent zuckt die Achseln. »Wenn du meinst.« Er dreht sich um und drückt das Gesicht ins Kissen, um ein Lächeln zu verbergen. Nelson hat keine Ahnung, wie sehr er verarscht wird.
Dritter Tag: Fort Smith, Arkansas. Am Nachmittag bleibt der blaue Scheißvan stehen. Nelson tobt.
»Am Wochenende krieg ich keine Ersatzteile«, sagt der Mechaniker. »Muss sie extra bestellen. Kommen Sie Montag oder besser Dienstag wieder.«
Je mehr Nelson poltert, desto ruhiger wird der Mechaniker. Er saugt eine Art spirituelle Freude aus Nelsons Ärger. Argent kennt solche Typen. Verdammt, er ist so einer.
»Du musst diesen Kerl verprügeln«, rät Argent, »und ihm sagen, dass du mit seiner Mutter dasselbe tust, wenn er den Wagen nicht repariert.«
Aber Nelson hält das für keinen guten Rat. »Wir fliegen«, sagt er und gibt dem Mechaniker Geld, damit er sie zum Fort Smith Regional Airport bringt. Dort muss er dann feststellen, dass der letzte Flug, ein zwanzigsitziges Kleinflugzeug nach Dallas, um 18 Uhr abgeht und dass die Sicherheitskontrolle, obwohl noch vier Plätze frei sind, bereits um 17 Uhr schließt. Die Beamten der Transportsicherheitsbehörte sind zwar noch da und essen Hotdogs, aber öffnen sie die Sicherheitsschleuse für nur zwei Passagiere? Nie im Leben.
Argent vermutet, dass Nelson sie am liebsten umbringen würde, wenn sie nicht bewaffnet wären.
Am Ende besorgt Nelson mit einer falschen ID einen Mietwagen. Allerdings hat er nicht die Absicht, ihn in naher Zukunft zurückzugeben.
Vierter Tag: Bourbon Street nach Einbruch der Dunkelheit. Argent war nie zuvor in New Orleans gewesen, hatte aber schon immer hierher gewollt. Grace hätte er jedoch nicht mitnehmen können, aber Grace ist nicht mehr sein Problem, oder? Er schlendert mit einem Hurricane Cocktail in der Hand und Perlen um den Hals die Bourbon Street hinunter. Heiseres Gröhlen und Gelächter erfüllen die Straße. Argent könnte das jeden Abend tun. Er könnte so leben. Die Hälfte des Hurricanes schwimmt schon in seinem Kopf. Kaum zu glauben! Alkohol auf der Straße ist nicht nur legal, sondern wird auch noch gefördert. Nur in New Orleans!
Er und seine Kumpels hatten darüber gesprochen, zu den Feierlichkeiten am Faschingsdienstag hierherzukommen, aber es war immer nur Gerede, denn keiner von ihnen hatte den Mumm, Heartsdale zu verlassen. Aber jetzt hat Argent einen neuen Kumpel. Und der machte nur zu gern einen Roadtrip nach New Orleans, den er für seine eigene Idee hielt. Aber Argent wird nicht lange Lehrling bleiben, wenn er sich seinen Unterhalt nicht verdient. Sich als nützlich erweist. Sich unentbehrlich macht.
Argent weiß nicht genau, wo Nelson jetzt ist. Wahrscheinlich drangsaliert er den Menschen, der Marie Laveaus Voodoo-Haus führt. Aber er wird dort keine Antworten finden. Keine Hinweise auf den Aufenthaltsort von Connor Lassiter, ganz gleich, zu welchen Methoden der Informationsbeschaffung ein Teilepirat auch neigen mochte. Ein fruchtloses Unterfangen wie es im Buche steht. Er wird vor Wut schäumen und Argent die Schuld in die Schuhe schieben.
»He, du hast gesagt, wir fahren nach New Orleans, nicht ich«, wird Argent entgegnen, aber Nelson wird ihn dennoch verantwortlich machen. Also braucht Argent ein Friedensangebot, das Nelson seinen wahren Wert vor Augen führt.
Statt in das Ramada-Motel zurückzugehen, wo es nach Desinfektionsmitteln und verbrannten Haaren riecht, sucht Argent Ärger. Er findet ihn. Und er freundet sich mit ihm an. Und er verrät ihn.
Fünfter Tag: Nelson schläft seinen Rausch aus Alkohol und Schmerzmitteln aus, mit dem er sich nach seiner erfolglosen Suche nach Connor Lassiter betäubt hat. Argent, der die ganze Nacht unterwegs gewesen ist, kehrt bei Tagesanbruch zum Ramada zurück und weckt ihn.
»Ich hab was für dich. Es wird dir gefallen. Du musst aber sofort mitkommen.«
»Verschwinde, verdammt nochmal.« Nelson ist nicht kooperativ. Argent hatte das auch nicht erwartet.
»Es dauert nicht lange, Jasper«, sagt Argent. »Echt nicht.«
Nelson durchbohrt ihn mit einem Killerblick. »Nenn mich nie wieder so, sonst schneide ich dir die Kehle durch.« Er setzt sich auf, hat aber seine Schwierigkeiten im Kampf gegen die Schwerkraft.
»’tschuldigung. Wie soll ich dich dann nennen?«
»Gar nicht.«
Nachdem Argent dem Mann eine Kanne Hotelkaffee eingeflößt hat, bringt er ihn zu einer alten, ausgebrannten Bar in einem zerfallenden Viertel, das aussieht wie nach einer Apokalypse. Wahrscheinlich wurde es seit dem letzten Dammbruch nicht von gesetzestreuen Leuten bewohnt.
Drinnen sind zwei flüchtige Wandler, gefesselt und geknebelt. Ein Junge und ein Mädchen.
»Hab mich mit ihnen angefreundet, während du der Welt entkommen warst«, berichtet Argent stolz. »Hab sie davon überzeugt, dass ich einer von ihnen bin. Dann habe ich meinen Würgegriff eingesetzt. Wie bei Du-weißt-schon-wem.«
Die beiden Wandler sind inzwischen wieder bei Bewusstsein. Wegen ihrer Knebel können sie nichts sagen, aber aus ihren Blicken spricht die reine Angst. »Beste Ware«, sagt Argent. »Sollten gutes Geld wert sein, oder?«
Nelson betrachtet sie mit vom Kater gedämpftem Interesse. »Du hast sie selbst gefangen?«
»Ja. Hätten noch mehr werden können, wenn ich mehr gefunden hätte. Du kannst alles, was du sie für sie bekommst, behalten. Sie sind mein Geschenk für dich.«
Aber Nelson sagt: »Lass sie laufen.«
»Was?«
»Mein Schwarzmarktkontaktmann ist zu weit weg. Ich schleife die beiden nicht um die halbe Welt mit.«
Argent kann es nicht fassen. »Ich hab sie dir auf dem Silbertablett serviert, und du willst einfach gutes Geld wegschmeißen?«
Nelson schaut ihn an und seufzt: »Du kriegst eine Eins, weil du dich bemüht hast. Das war gute Arbeit, aber wir sind hinter einer größeren Beute her.« Damit geht Nelson einfach hinaus.
Argent spuckt Gift und Galle. Die geknebelten Kids können sich nicht dagegen wehren. »Ich sollte euch einfach hier verrotten lassen, ja, genau das sollte ich tun.« Aber das macht er nicht. Er lässt sie allerdings auch nicht frei, sondern ruft anonym bei den JuPos an, damit sie die beiden abholen. Und verschenkt damit seine ersten Einnahmen als Teilepirat. Sein einziger Trost besteht darin, dass Nelson von seinem Fang vielleicht ein bisschen beeindruckt ist.
Auf dem Weg zurück zum Ramada tüftelt er an seinem nächsten Zug und wie er Nelson glauben macht, er selbst habe das Heft in der Hand. Außer New Orleans gibt es noch viele Orte, die Argent gerne sehen würde. Viele Orte, zu denen Nelson ihn bringen wird, solange Argent seine Brotkrumen nur geschickt genug ausstreut.