19. Connor

»Er ist wach«, sagt Elina. Mehr nicht, nur »er ist wach«. Sie ist keine Frau der vielen Worte. Jedenfalls nicht Connor gegenüber.

»Kann ich ihn sehen?«

Sie verschränkt die Arme und betrachtet ihn kühl. Ihr Schweigen ist Antwort genug. »Sag mir eines«, erwidert sie schließlich. »Ist er wegen dir Klatscher geworden?«

»Nein!« Connor weist diese Unterstellung entsetzt zurück. »Auf keinen Fall!« Und dann fügt er hinzu: »Wegen mir hat er nicht geklatscht.«

Sie akzeptiert seine Antwort mit einem Nicken. »Du kannst ihn morgen sehen, sobald er ein bisschen mehr bei Kräften ist.«

Connor setzt sich wieder auf das Sofa. Das Haus der Ärztin, überhaupt das ganze Reservat, ist völlig anders, als er erwartet hatte. Die Arápache leben sowohl in ihrer Kultur als auch mit modernen Annehmlichkeiten. Die exklusiven Ledermöbel lassen auf Wohlstand schließen, sind aber eindeutig handgefertigt. Das Viertel, sofern man es so nennen kann, ist in die roten Felsen an beiden Seiten einer tiefen Schlucht gehauen, aber die Zimmer sind geräumig, die Fußböden mit verziertem Marmor gefliest, und das Installationszubehör besteht aus poliertem Messing oder vielleicht sogar Gold, da ist Connor sich nicht ganz sicher. Selbst die medizinische Ausrüstung von Dr. Elina ist auf dem neuesten Stand der Technik, auch wenn sie sich grundsätzlich von der medizinischen Ausrüstung draußen unterscheidet. Irgendwie erscheint sie weniger klinisch.

»Unsere Philosophie ist ein bisschen anders«, hatte sie ihm erklärt. »Wir glauben, dass es besser ist, von innen nach außen zu heilen als von außen nach innen.«

Am andern Ende des Zimmers mault der Junge, der mit Grace ein Brettspiel spielt, enttäuscht: »Warum schlägst du mich dauernd bei Serpent Stones? Du hast es doch noch nie gespielt!«

Grace zuckt die Achseln. »Ich lerne schnell.«

Kele, so heißt der Junge, kann nicht verlieren. Das Spiel scheint große Ähnlichkeit mit Dame zu haben, erfordert aber mehr strategisches Denken. Und wenn es um Strategie geht, ist Grace nicht zu schlagen.

Als der Junge davonstürmt, wendet sich Grace an Connor. »Dein Klatscher-Freund wird also wieder gesund?«, fragt sie.

»Bitte nenn ihn nicht so.«

»’tschuldigung – aber er wird doch wieder gesund, oder?«

»Sieht so aus.«

Sie sind schon fast eine Woche hier, aber Connor fühlt sich immer noch nicht willkommen. Geduldet trifft es schon eher. Und es liegt nicht daran, dass sie von außerhalb kommen, denn Elina und ihr Schwager Pivane waren mehr als freundlich zu Grace, vor allem nachdem sie gemerkt hatten, dass sie minderbegabt ist. Auch als Elina Connors Straußenwunde nähte, blieb sie sehr abweisend. »Halt die Wunde sauber, dann heilt sie«, hatte sie nur gesagt. Sie antwortete nicht mit »gerne« auf Connors »danke«, und er wusste nicht, ob das etwas mit ihrer Kultur zu tun hatte oder ob sie bewusst schwieg. Vielleicht würde Elina ihn jetzt ein bisschen weniger frostig behandeln, weil sie wusste, dass nicht er Lev zum Klatscher gemacht hatte.

Kele kehrt mit einem anderen Brettspiel zurück und beginnt, schwarze und weiße Figuren unterschiedlicher Größe aufzustellen.

»Und wie nennt ihr dieses Spiel?«, fragt Connor.

Kele schaut ihn an, als wäre er schwachsinnig. »Schach«, sagt er. »Was sonst?«

Connor grinst. Jetzt erkennt er die Figuren. Wie alles im Reservat ist das Spiel handgefertigt, und die Figuren sind individuell gestaltet wie kleine Skulpturen, deshalb hatte er das Spiel nicht gleich erkannt. Grace reibt sich vor Vorfreude die Hände, und Connor überlegt, ob er den Jungen warnen soll, seine Hoffnungen nicht zu hoch zu schrauben, aber dann verzichtet er darauf: Kele ist als schlechter Verlierer viel zu unterhaltsam.

Connor schätzt Kele auf ungefähr zwölf Jahre. Elina und ihr Mann Chal hatten ihn zu sich genommen, als seine Mutter vor einem Jahr gestorben war. Während Elina Connor gegenüber keinerlei Informationen preisgab, setzte Kele, dessen Mundwerk permanent läuft wie ein altmodischer Verbrennungsmotor, Connor über einen Teil von Levs Leben ins Bild, über das Lev selbst nie gesprochen hatte.

»Lev ist vor ungefähr anderthalb Jahren hier aufgetaucht«, hatte Kele erzählt. »Ein paar Wochen ist er geblieben. Das war, bevor er diese schreckliche Sache gemacht hat und so berühmt war und so. Er ist mit uns auf eine Visionssuche gegangen, aber die lief nicht besonders gut.«

Nach Connors Rechnung musste Lev irgendwann nachdem er und Risa ihn in der Highschool in Ohio verloren hatten und bevor er vollkommen verändert auf dem Friedhof aufgetaucht war, im Reservat gewesen sein.

»Er und Wil haben sich angefreundet«, erzählte Kele Connor mit Blick auf das Porträt eines Teenagers, der Elina sehr ähnlich sah.

»Wo ist Wil jetzt?«, fragte Connor.

Und hier wurde Kele zum ersten Mal schweigsam. »Weg«, sagte er schließlich.

»Hat er das Reservat verlassen?«

»So ähnlich.« Dann wechselte Kele das Thema und stellte Fragen über die Welt außerhalb des Reservats. »Stimmt es, dass die Leute Hirnimplantate bekommen, statt zur Schule zu gehen?«

»Ja, NeuroWeaves, aber das ist kein Ersatz für Schule. Das lassen dumme reiche Leute bei ihren dummen reichen Kinder machen.«

»Ich wollte nie im Leben ein Stück Gehirn von jemand anderem«, hatte Kele gesagt. »Ich meine, du hast ja keine Ahnung, wo es schon überall gewesen ist.«

Darüber waren sich Connor und Kele total einig.

Als Kele sich jetzt intensiv auf sein Schachspiel mit Grace konzentriert, versucht Connor, ihn zu überrumpeln und so an ein paar Antworten zu kommen.

»Meinst du, Wil kommt zum Reservat zurück, um Lev zu besuchen?«

Kele zieht seinen Springer und wird prompt von Grace’ Königin geschlagen. »Das war Absicht. Du wolltest mich ablenken«, wirft Kele ihm vor.

Connor zuckt die Achseln. »Ich hab dich nur was gefragt. Wenn Wil und Lev so gute Freunde sind, kommt er doch bestimmt zurück, um ihn zu sehen, oder?«

Ohne vom Brett aufzuschauen, sagt Kele seufzend: »Wil ist umgewandelt worden.«

Das ergibt für Connor keinen Sinn. »Aber ich dachte, Glücksmenschen wandeln nicht um.«

Endlich schaut Kele zu ihm auf. Sein Blick ist eine einzige Anklage. »Tun wir auch nicht«, sagt er und wendet sich wieder dem Spiel zu.

»Wie ist dann …«

»Wenn du was wissen willst, frag Lev. Er war dabei.«

Dann schlägt Grace einen von Keles Türmen, und der Junge stößt wütend das Brett um, dass die Figuren durchs Zimmer fliegen. »Du armselige Eichhörnchenfresserin!«, schreit er die feixende Grace an.

»Wer ist hier minderbegabt?«, freut sie sich hämisch.

Kele stürmt wieder weg, aber zuvor wirft er Connor einen finsteren Blick zu, der nichts mit dem Spiel zu tun hat.