63. Grace

Das Spiel mit Dierdre macht Spaß, dient aber in erster Linie dazu, Grace zu beruhigen. In diesem Haus sind starke Kräfte am Werk, die drauf und dran sind, einander in der Luft zu zerreißen. Cam und Connor hatten bisher ein gemeinsames Ziel, ungeachtet ihrer Rivalität. Und obwohl Grace sie ja nur begleitet, sieht sie eben Dinge, die andere nicht sehen.

Zum Beispiel sieht sie Connor: Er liebt Risa, stößt sie aber absichtlich vor den Kopf, um sie zu retten. Doch er wird sie nicht retten. Risa wird Widerstand leisten und sich dagegen wehren, dass er ihr die kalte Schulter zeigt. Sie wird sich umso rücksichtsloser in den Krieg gegen die Umwandlung stürzen. Mit seinem Rettungsversuch bringt er sie womöglich um.

Und Risa: Sie wäre hiergeblieben, wenn Connor nicht aufgetaucht wäre, aber jetzt steht das nicht mehr zur Diskussion, darauf kann Connor also lange warten. Er kennt sie bei weitem nicht so gut, wie er denkt.

Und Cam: Der ist wirklich unberechenbar. Er springt begierig und völlig ohne Sinn und Verstand auf jede kleine Aufmerksamkeit an, die ihm Risa schenkt, egal, ob sie nun echt ist oder reine Berechnung. Am Ende wird ihm das alles aber nicht reichen. Er wird sich verraten und ausgenutzt vorkommen, und sogar wenn Risa ihn Connor vorzieht, wird er es nicht glauben. Er wird der Sache nicht trauen. Seine Wut wird gären. Eines Tages, vielleicht schon bald, fürchtet Grace, wird Cam in die Luft gehen. Und Gott steh denen bei, die dann in seiner Nähe sind.

Deshalb spielt Grace mit der harmlosen kleinen Dierdre, hört aber jedes Wort, sieht jeden Schritt der anderen und weiß doch, dass sie dieses vermaledeite Spiel nicht beeinflussen kann.

 

Grace liegt an diesem Abend wach und starrt nach oben. Jedes vorbeifahrende Auto lässt unheilvoll die Schatten des Baums draußen vor dem Fenster über die Decke ihres Zimmers kriechen.

Risa steht auf und geht leise zur Tür.

»Nicht«, sagt Grace. »Bitte tu es nicht.«

»Ich geh nur aufs Klo.«

»Nein, tust du nicht.«

Risa zögert und dreht sich zu ihr um. »Ich muss.« Dann fügt sie hinzu: »Es geht dich sowieso nichts an.« Aber da täuscht sie sich.

Als Risa geht, schließt Grace die Augen und hört, wie sich die Tür zum Jungenzimmer quietschend öffnet. Sie weiß, was dort geschehen wird.

Risa wird sich zu Connor auf den Rand der Liege setzen und ihn sanft wecken, falls er nicht schon wach ist. Cam, der auf dem Boden liegt, wird wach sein, aber so tun, als schliefe er. Er wird alles hören.

Risa wird Connor zuflüstern, dass sie reden müssen, und Connor wird versuchen, es hinauszuschieben. »Morgen früh«, wird er sagen. Doch sie berührt sein Gesicht, und er sieht sie an. Sie sehen die Augen des anderen nicht, nur die Lichtpunkte in ihren Pupillen, die die Straßenlampe reflektieren. Mehr braucht es nicht. Trotz der Dunkelheit fällt Connors Fassade in sich zusammen, und Risa weiß alles. Sie reden nicht, denn Worte waren nie wichtig. Zwischen ihnen ist eine Verbindung ohne Worte, eine Verbindung, die sich nicht leugnen lässt. Sie gehen durch die Tür. Schließen sie nicht ganz, sondern lehnen sie an, damit man es nicht hört.

Die Initiative zum Kuss geht von Connor aus, doch Risa erwidert ihn mit doppelter Leidenschaft. Jeder Zweifel an ihren Gefühlen füreinander verfliegt in diesem Moment, den, wie sie glauben, nur sie beide teilen. Nur ein Kuss, und Risa wird wieder ins Bett gehen und den Rest der Nacht schlafen, zufrieden wie ein Baby.

Doch Cam wird es wissen. Und er wird Pläne schmieden.

Grace hat keine Ahnung, was für Pläne das sein werden, doch sie werden niemandem helfen. Nicht einmal Cam.

Sie hat keine Hoffnung auf ein gutes Ende – bis etwas Unerwartetes geschieht. Es beginnt damit, dass der Schatten ausbleibt. Die Decke ist dunkel, es fehlen die verzerrten Linien des Baums an ihrer Decke, dabei hört sie das tiefe Brummen eines Autos. Nein, es sind zwei Autos, aber ohne Scheinwerfer. Warum sollte jemand um diese nachtschlafende Zeit ohne Scheinwerfer fahren?

Als Grace aus dem Fenster blickt, stehen ein dunkler Van und eine dunkle Limousine am Straßenrand. Die Heckklappe des Vans ist offen, bewaffnete Männer steigen aus und laufen geräuschlos über den Rasen auf das Haus zu.

Grace’ Herz rast, ihre Ohren und Wangen glühen vom Adrenalinschub, der ihr durch den Körper fährt. Man hat sie gefunden!

Sie hört flüsternde Stimmen und lauscht angestrengt, in der Hoffnung, dass das, was die Männer sagen, ihr irgendwie weiterhelfen könnte.

»Ihr drei hinten rum«, wispert der Anführer. »Wartet auf das Signal.«

Dann flüstert jemand: »Er ist hier. Ich kann ihn fast riechen.«

Plötzlich weiß Grace alles, was sie wissen muss.

Sie rast aus dem Zimmer und findet Risa und Connor im Flur vor, genau so, wie sie es erwartet hat.

»Grace!«, sagt Risa. »Was ist …«

Doch ehe sie den Satz beenden kann, hören sie schon das Krachen der Vorder- und der Hintertür, die zeitgleich eingetreten werden. Grace stößt die beiden in das Nähzimmer und schließt die Tür. Cam springt auf, hellwach, wie Grace es vorhergesehen hat. Sie übernimmt das Kommando, denn sie haben keine Zeit. Und Grace’ Plan hat bestenfalls eine Erfolgschance von fünfzig Prozent.

»Risa!«, flüstert sie. »Kriech unter das Bett. Connor – Gesicht nach unten auf das Kissen. Sofort!« Dann dreht sie sich zu Cam um. »Und du bleibst genau da, wo du bist!«

Cam starrt sie ungläubig an. »Bist du verrückt? Sie wissen, dass wir hier sind!«

Polternde Schritte auf der Treppe. Sie haben nur noch Sekunden.

»Nein«, erwidert Grace, ehe sie sich neben Risa unter das Bett quetscht. »Sie wissen, dass du hier bist.«