31. Starkey
An einem sonnigen Augusttag rollt ein Transporter voller Wandler über eine kurvenreiche Straße. Obwohl er in Pastellfarben bemalt ist, in Blau-, Rosa- und Grüntönen, lässt sich die Abscheulichkeit seines Zwecks nicht verbergen.
Die Landschaft im Norden Nevadas ist öde und schroff. Die Berge sehen aus, als hätten sie bei ihrer Entstehung gesehen, wo die Reise hingeht, und Einhalt geboten, ehe sie vollständig von der Erde weggeschoben wurden. Alles in dieser Landschaft ist in dem neutralen Beige von Einheitsmöbeln gehalten. Jetzt weiß ich, warum die Steppenläufer ständig in Bewegung sind, denkt Starkey, der beobachtet, wie der Wind die kugeligen Pflanzen durch die Gegend treibt. Die wollen auch lieber woanders sein.
Starkey sitzt vorn neben dem Fahrer des Transporters. Er hat dem Mann eine Pistole zwischen die Rippen gedrückt.
»Keiner zwingt dich, so was zu tun«, sagt der Fahrer nervös.
»Die Sache hier ist größer als du, Schwuchtel. Mach einfach, was ich dir sage, dann darfst du vielleicht sogar weiterleben.« Starkey weiß nicht, wie der Mann heißt. Für ihn ist jeder Fahrer eines Wandlertransporters eine Schwuchtel.
Als sie ins Tal kommen und auf das Cold Springs Ernte-Camp zufahren, kann Starkey die Einrichtung gut überblicken. Wie alle Ernte-Camps soll es von außen die Illusion von Ruhe und Behaglichkeit vermitteln. In einem Ernte-Camp ist sogar das Haus, in das die Kids gehen und aus dem sie nie wieder herauskommen, so einladend wie Omas Wohnzimmer. Starkey schaudert bei dem Gedanken.
Die Erbauer des Cold Springs Ernte-Camps haben sich wohl bemüht, die umliegende Landschaft architektonisch in einem Westernstil wiederaufzunehmen. Doch angesichts der riesigen Oase aus grünem Kunstrasen zwischen stuckverzierten Gebäuden wird auch dem begriffsstutzigsten Besucher klar, dass an diesem Ort überhaupt nichts natürlich ist.
Der Fahrer trieft vor Schweiß, als sie an das Wachtor kommen.
»Hör auf zu schwitzen!«, zischt Starkey. »Die werden sonst misstrauisch.«
»Da kann ich doch nichts dafür!«
Für den Wachmann am Tor ist es Routine. Er prüft die Papiere des Fahrers und die Ladeliste. Dass der Fahrer schwitzt, scheint ihm egal zu sein, vielleicht merkt er es nicht einmal. Er achtet auch nicht auf Starkey, der den hellgrauen Overall der Transportleute trägt. Der Wachmann geht in sein Häuschen, drückt auf einen Knopf, und die Torflügel öffnen sich langsam.
Nun kommt auch Starkey ins Schwitzen. Bis hierher war alles Theorie. Noch als sie in das Tal und auf das Camp zufuhren, kam es ihm unwirklich vor, einen Schritt von der Realität entfernt. Aber nun, da er im Ernte-Camp ist, gibt es kein Zurück mehr. Nun nimmt alles seinen Lauf.
Sie fahren an eine Rampe, wo ein Team von Ernte-Betreuern schon darauf wartet, die Neuankömmlinge mit einem entwaffnenden Lächeln zu empfangen, sie aufzuteilen und in die Unterkünfte zu schicken, wo sie auf ihre Umwandlung warten. Aber dazu wird es heute nicht kommen.
Als sie die hintere Ladeklappe des Transporters öffnen, sehen sich die Mitarbeiter nicht etwa verschüchterten Teenagern gegenüber, sondern einer Armee. Jugendliche springen, schreiend und Waffen schwingend, auf die Rampe.
In der Sekunde, in der der Tumult einsetzt, springt der Fahrer aus dem Fahrzeug und rennt um sein Leben. Starkey ist es egal, der Mann hat seinen Job gemacht. Die Schreie weichen Schüssen. Camp-Mitarbeiter machen sich aus dem Staub, während Wachleute zum Unruheherd eilen.
Als Starkey aus der Fahrerkabine springt, sieht er gerade noch einige seiner wertvollen Storche zu Boden gehen. Der Ostturm bietet einen guten Blick auf die Rampe, und ein Scharfschütze knallt die Kids ab. Die ersten Schüsse betäuben nur, doch dann wechselt der Schütze die Waffe. Der Nächste, der zu Boden geht, wird nicht wieder aufstehen.
Scheiße, das ist echt das ist echt das ist …
Da zielt der Scharfschütze auf Starkey.
Starkey duckt sich, die Kugel saust über ihn hinweg und reißt ein Loch in die Transportertür. In Panik hechtet Starkey hinter einen Felsblock, schlägt sich dabei seine verletzte Hand an und flucht vor Schmerz.
Die Storche schwärmen aus. Einige werden getroffen, doch die meisten kommen gut voran. Manche benutzen Ernte-Betreuer als menschliche Schutzschilde.
Ich darf nicht sterben, denkt Starkey. Wer soll sie führen, wenn ich sterbe?
Aber er kann auch nicht hinter dem Felsblock hocken bleiben. Sie müssen ihn kämpfen sehen. Sie sollen sehen, dass er das Sagen hat – nicht nur die Storche, auch die Jugendlichen, die er befreien will.
Er reckt den Hals und zielt mit der Pistole auf die schattenhafte Gestalt auf dem Turm, die jetzt die rennenden Storche auf dem Kunstrasen im Visier hat. Starkeys vierter Schuss sitzt, der Scharfschütze geht zu Boden.
Aber es gibt noch andere Wachen, andere Türme.
Am Ende kommt die Rettung von den Lagerinsassen selbst, denn das Gelände wimmelt von Wandlern. Sie gehen ihrer täglichen Beschäftigung nach, treiben Sport und machen Geschicklichkeitsübungen, die den Wert ihrer Teile steigern und sie auf die Umwandlung vorbereiten sollen. Als sie sehen, was los ist, lassen sie alles stehen und liegen, überwältigen die Ernte-Betreuer und verwandeln den Überfall in einen Aufstand.
Starkey stürzt sich ins Getümmel, fasziniert von dem, was er da sieht: Angestellte, die in Panik wegrennen, überwältigte Wachleute, deren Waffen dem Arsenal der Storche zugeschlagen werden. Eine Frau im weißen Kittel läuft über den Kunstrasen und hinter ein Gebäude, wo sie ihr Smartphone aus der Tasche zieht. Doch das nützt ihr gar nichts, denn noch ehe die Storche den Transporter überfielen, hatten Jeevan und ein Team aus Technikfreaks das Festnetzkabel gekappt und die beiden Sendeantennen zerstört, die das Tal versorgten. Diesen Ort verlässt keine Nachricht, egal, welcher Art, es sei denn, sie wird auf zwei Beinen befördert.
Die Rebellion wächst, befeuert von Verzweiflung und unerwarteter Hoffnung. Sie nimmt an Intensität zu, bis sogar die Wachen fliehen, nur um von Dutzenden von Kids eingefangen und mit ihren eigenen Handschellen kampfunfähig gemacht zu werden. Genau wie im Happy Jack!, denkt Starkey. Nur dass es diesmal eine runde Sache wird. Weil ich das Sagen habe.
Die Belegschaft wird von der schieren Übermacht überrollt, und innerhalb von fünfzehn Minuten ist das Camp befreit.
Die Jugendlichen sind außer sich vor Freude. Einige sind nach der Aufregung in Tränen aufgelöst, andere kümmern sich um tote und sterbende Freunde. Noch ist der allgemeine Adrenalinspiegel hoch, und Starkey beschließt, das zu nutzen. Die Toten sind tot, er muss die Kids jetzt dazu bringen, dass sie sich auf das Leben konzentrieren. Er schreitet in die Mitte der Kunstrasenfläche und stellt sich neben den Flaggenmast, um sie von den Opfern abzulenken, die diese Aktion gekostet hat.
Er schnappt sich ein Sturmgewehr von einem der Storche und ballert in die Luft, bis er die Aufmerksamkeit der Menge hat.
»Ich heiße Mason Michael Starkey!«, ruft er, so laut und gebieterisch, wie es ihm nur möglich ist. »Und ich habe euch soeben vor der Umwandlung gerettet!«
Jubel überall. So muss es sein. Er befiehlt ihnen, sich in zwei Gruppen aufzuteilen. Storche auf die linke, die anderen auf die rechte Seite. Sie zögern, doch seine Storche fuchteln mit ihren Waffen herum, bis sein Befehl befolgt wird. Die Kids teilen sich auf. Es scheint etwa hundert Storche und dreihundert andere Jugendliche zu geben. Zum Glück keine Zehntopfer. Starkey spricht zuerst die größere Gruppe an und deutet auf den Haupteingang.
»Das Tor ist weit offen. Da ist euer Weg in die Freiheit. Ich schlage vor, ihr geht ihn.«
Einen Augenblick sind sie unschlüssig, trauen ihm nicht. Dann drehen sich ein paar von ihnen um und gehen auf das Tor zu, es folgen weitere, und kurz darauf beginnt ein Massenexodus. Starkey blickt ihnen nach und wendet sich dann an die verbliebenen Storche.
»Euch lasse ich die Wahl«, erklärt er ihnen. »Ihr könnt mit den anderen abhauen, oder ihr könnt Teil von etwas werden, das größer ist als ihr. Euer ganzes Leben hat man euch behandelt wie Bürger zweiter Klasse, hat euch die ultimative Kränkung zugefügt, als man euch hierhergeschickt hat.« Er breitet theatralisch die Arme aus. »Wir sind alle Storche, wir wurden zur Umwandlung verdammt, aber wir haben uns unser Leben zurückgeholt, und jetzt üben wir Rache. Deshalb frage ich euch: Wollt ihr Rache?« Er wartet, und als nur ein paar vorsichtige Reaktionen kommen, hebt er die Stimme: »Ich fragte: Wollt ihr Rache?«
Nun sind sie gewappnet, und die Antwort kommt als lauter Chor: »Ja!«
»Dann seid willkommen!«, ruft Starkey. »Willkommen in der Storchenbrigade!«