33. Connor
Geduld ist nicht gerade Connors Stärke. Schon bevor seine Eltern seine Umwandlungsverfügung unterschrieben, neigte er zu Rastlosigkeit und konnte mit Leerlauf nichts anfangen. Wenn er damals nichts zu tun hatte, grübelte über sein Leben nach. Das machte ihn wütend, und wenn er wütend war, stürzte er sich unbeherrscht in unverantwortliche, manchmal auch kriminelle Aktionen und bekam jedes Mal Ärger.
Seit dem Tag, an dem er von zu Hause floh, gab es keinen Leerlauf – zumindest nicht, bis er ins Arápache-Reservat kam. Selbst als er in Sonias Keller ausharrte, saß ihm die Angst ständig im Nacken. Ständig musste er auf der Hut sein, sich schützen, Risa schützen und Roland im Auge behalten, der ihn jeden Moment hätte ausschalten können.
Bis heute fragt er sich, ob Roland ihn unter anderen Umständen vielleicht doch umgebracht hätte.
Im Happy Jack lauerte er Connor auf, drückte ihn an die Wand und würgte ihn mit genau der Hand, die nun ein Körperteil von Connor war. Doch Roland zog es nicht durch. Vielleicht war er ja doch nur ein Hund, der bellte, aber nie biss. Niemand wird es je wissen.
Connor dagegen hat schon Menschen umgebracht.
Im Kampf gegen die JuPos auf dem Friedhof hat er tödliche Waffen abgefeuert, und einige seiner Kugeln haben getroffen. Ist er also ein Mörder? Wird er je Erlösung finden?
Deshalb hasst Connor Leerlauf. Diese ewige Grübelei treibt ihn noch in den Wahnsinn.
Tröstlich ist nur die Sicherheit, die Normalität, wenn an dieser Situation überhaupt etwas normal ist. Die Tashi’nes sind freundliche Gastgeber, trotz ihrer anfänglichen Zurückhaltung ihm gegenüber. Seit in der Öffentlichkeit bekannt wurde, dass Connor lebt, geben sie ihm wirklich das Gefühl, willkommen zu sein.
Am Tage ist allerdings niemand da. Kele ist in der Schule, und das ist gut so, weil Connor für Keles Ungeduld keine Geduld aufbringen könnte. Chal versucht, bei den Hopi Wunder zu wirken. Elina arbeitet tagsüber in der Kinderabteilung der Medizinhütte, und Pivane, der abends immer zum Essen kommt, ist tagsüber auf Jagd.
Connor, Grace und Lev, die nicht aus dem Haus gehen, um nicht entdeckt zu werden, sind sich selbst überlassen.
Es ist ein Spätnachmittag in der ersten Augustwoche, ihr zwanzigster Tag dort. Das Licht, das vom Bergrücken hinter der Schlucht reflektiert wird, fällt bernsteingelb durch die Fenster. Die Schatten werden rasch länger in diesen Häusern, die in den Fels gehauen sind. Sobald die Sonne untergeht, ist es gleich dunkel. In der Schlucht gibt es keine Dämmerung.
Grace, die sich recht gut selbst beschäftigen kann, hat schon am ersten Tag frohlockt: »Was es hier alles für Sachen gibt!« Heute hat sie wieder einen Schrank durchstöbert und den Inhalt mit erschreckender Präzision neu sortiert. Lev, der sich noch von dem Autounfall erholt, hat eine Matte mitten in den großen Raum auf den Marmorboden gelegt und macht Übungen, die Elina ihm beigebracht hat, während Connor auf einem zu weich gepolsterten Sofa sitzt. Er hat ein Taschenmesser gefunden, das dem verschollenen Wil gehört haben muss, weiß aber beim besten Willen nicht, was er schnitzen soll, und schnibbelt daher aus längeren Stöckchen kürzere Stöckchen.
»Du solltest die Zeit nutzen und etwas lernen«, hat Lev am ersten Tag zu Connor gesagt, als die drei im Haus der Tashi’nes allein blieben. »Als du abgehauen bist, warst du … lass mich überlegen … in der zehnten Klasse? Die Highschool hast du nie abgeschlossen. Wie sollst du da einen Job finden, wenn das hier alles vorbei ist?«
Bei dem Gedanken daran, dass eines Tages »alles vorbei« sein könnte, muss Connor lachen. Er versucht, sich vorzustellen, wie sein Leben in einem Paralleluniversum aussähe, wo es kein Privileg, sondern Normalität ist, nicht zerlegt zu werden. Wahrscheinlich könnte er mit seiner Begabung für Elektronik irgendwo Arbeit als Elektrotechniker finden. Doch wenn das hier wirklich »alles vorbei« ist und er durch ein Wunder ein normales Leben führen könnte, was für einen Sinn würde dieses Leben dann haben? Der Connor im Paralleluniversum wäre vielleicht glücklich damit, Kühlschränke zu reparieren, aber der Connor in diesem Universum findet die Vorstellung ziemlich gruselig.
Dass er so viel Zeit zum Nachdenken hat, macht ihn wieder wütend, und er verfällt in sein altes Muster. Zwar lässt er sich nicht zu einem Wutausbruch hinreißen, doch es beunruhigt ihn, dass sich das alte Programm in ihm abspult. Denn er weiß, dass damit auch andere Dinge, andere Gefühle wieder hochkommen.
»Ich hasse das!« Connor wirft das nutzlose Stöckchen, an dem er schnitzt, auf den Boden.
Lev beendet eine merkwürdig aussehende Stretchübung und bedenkt ihn mit seinem typischen Blick. So ähnlich muss ein neugieriges Oppossum aussehen.
»Ich hasse das«, wiederholt Connor. »Im Haus von Leuten zu sein, die sich ›um uns kümmern‹. Das macht etwas aus mir, das ich nicht bin – oder zumindest nicht mehr.«
Lev sieht Connor weiter unverwandt an, bis ihm sein Blick unbehaglich wird.
»Als Teenager warst du nie besonders gut geeignet, oder?«, sagt Lev.
»Was?«
»Da warst du richtig mies. Du hast es total vermasselt. Du warst die Sorte Teenager, die ein armes ahnungsloses Zehntopfer als menschlichen Schutzschild nimmt.«
»Ja, ja«, sagt Connor, nun schon ziemlich sauer. »Aber vergiss nicht, dass ich dem Zehntopfer das Leben gerettet habe!«
»Das war eine Begleiterscheinung, aber doch wohl nicht der Grund, warum du mich damals geschnappt hast, oder?«
Connor sagt nichts, weil sie beide wissen, dass er recht hat, und das bringt Connor schon wieder auf die Palme.
»Worauf ich hinauswill: Du hast Angst, wieder denselben Mist zu bauen wie vor zwei Jahren. Aber ich glaube, das passiert nicht.«
»Und warum wohl, o du weiser Zehntopfer-Klatscher?«
Lev wirft ihm einen bösen Blick zu, geht aber nicht darauf ein. »Du bist ein bisschen wie Humphrey Dunfee, wir beide sind so. Zerrissen von allem, was mit uns passiert ist, und dann wieder zusammengefügt. Was du jetzt bist, hat nichts mit dem zu tun, was du einmal warst.«
Connor denkt nach und nickt dann. Es ist tröstlich, zu wissen, dass Lev glaubt, er habe sich verändert. Doch Connor ist noch nicht davon überzeugt.
Beim Abendessen passieren an jenem Tag zwei Dinge. Was schwerer wiegt, hängt von der Sichtweise ab.
Elina kommt kurz nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause, gefolgt von Pivane. Er bringt einen Kanincheneintopf mit, den er den ganzen Tag hat köcheln lassen. Connor ist dankbar, dass er nicht beim Häuten und Zerlegen des Tiers zusehen musste. Solange in dem Eintopf kein Gesicht zu sehen ist, geht es für ihn in Ordnung. Beim Abendessen beschwert sich Kele ausführlich über Schulkameraden, die ein Raubtier als Geistführer haben und andere mit ihren ungefährlichen Tiergeistern aufziehen.
»Das ist so was von unfair! Und viele denken sich die Tiere auf der Visionssuche sowieso nur aus.«
Connor muss an Lucas denken, seinen eigenen Bruder, der aus jedem noch so kleinen Vorfall in der Schule ein Drama machte. Die Erinnerung jagt Connor einen kalten Schauer über den Rücken. Nicht weil er an seinen Bruder denkt, sondern weil ihm klar wird, wie lange er schon nicht mehr an ihn gedacht hat. Lucas ist jetzt fast so alt wie Connor bei seiner Flucht.
»Kann mir mal jemand den Eintopf rüberschieben?«, fragt Connor. Statt sich durch das Minenfeld seiner Gedanken zu quälen, konzentriert er sich lieber aufs Essen.
»Das hört bestimmt von allein wieder auf«, sagt Pivane zu Kele. »Und wenn nicht, müssen sie es am Ende selber ausbaden. Die Vögel fliegen nach Norden und nach Süden.« Was, so vermutet Connor, bei den Arápache wohl so viel heißt wie: Was man sät, das wird man ernten.
»Hallo!«, ruft Connor am anderen Ende des Tisches. »Wir könnten hier unten den Eintopf gebrauchen.«
Während Lev geduldig wartet, siegt bei Connor der Hunger.
Grace, die immer neben Elina sitzt, hat ihren Suppenteller bis an den Rand gefüllt. Der Topf steht vor Elina, die Connor aber nicht hört, weil Keles dramatische Geschichte sie völlig in Anspruch nimmt.
»Ich kann euch gar nicht sagen, wie viele Verletzungen ich in der Medizinhütte behandeln muss, weil die Kids glauben, dass ihr Tiergeist sie vor Knochenbrüchen schützt.«
Da ruft Connor laut und deutlich: »Mom! Gib mal den Eintopf rüber!«
Erst als Lev ihn von der Seite ansieht, merkt Connor, was er soeben gesagt hat. Das Gefühl der Normalität, die Erinnerung an seine Familie – das Wort ist ihm herausgerutscht wie ein unerwarteter Rülpser.
Die anderen sehen Connor an, als hätte er etwas Unanständiges gesagt.
»Ich meine … gibst du mir bitte den Eintopf?«
Elina reicht ihm die Schüssel, und Connor glaubt schon, sein Patzer sei vergessen, als Kele sagt: »Du lässt ihn jetzt Mom zu dir sagen? Ich darf das nicht.«
Da keiner weiß, was er sagen soll, macht Elina Nägel mit Köpfen.
»Erinnere ich dich an sie, Connor?«
Connor antwortet, während er sich Eintopf in den Teller schöpft, ohne sie anzusehen: »Eigentlich nicht. Aber das Abendessen schon.«
»Ich wette, es gab kein Kaninchen«, sagt Grace mit vollem Mund.
Connor würde am liebsten in einem schwarzen Loch verschwinden, damit ihn die anderen nach seinem peinlichen Aussetzer nicht weiter anstarren. Aber nur einen Herzschlag später hat er schon ganz andere Sorgen.
Das große Fenster birst, und Steinsplitter spritzen aus einem kleinen Loch in der Rückwand ins Zimmer – ein Loch, das vor einer Sekunde noch nicht da war.
»Runter!«, brüllt Connor. »Unter den Tisch! Sofort!« Ohne zu zögern, schaltet er auf Kampfmodus um und übernimmt die Regie. Er weiß nicht, ob sich die anderen schon bewusst sind, dass es eine Kugel war, aber sie werden es bestimmt noch merken. Vor allem muss er sie jetzt aus der Schusslinie bekommen. Nicht alle tun, wie geheißen. »Kele – nein, hier rüber – weg vom Fenster!«
Als Kele mit den anderen unter dem Tisch kauert, stürzt Connor zum Schalter und macht das Licht aus, damit sie in der Dunkelheit für den Schützen nicht zu sehen sind. Der plötzliche Adrenalinstoß gelangt offenbar bis in die Netzhaut, denn Connors Augen gewöhnen sich erstaunlich schnell an die Finsternis.
»Pivane!«, sagt Elina. »Ruf die Polizei.«
»Wir können die Polizei nicht rufen«, erwidert er.
Die Erkenntnis trifft nun auch die anderen. Wenn sie die Polizei rufen, müssen sie erklären, warum auf sie geschossen wurde. Connor, Lev und Grace würden auffliegen.
Da steht Pivane auf und geht zum kaputten Fenster.
»Pivane!«, brüllt Connor. »Bist du verrückt? Runter!«
Doch Pivane steht nur da. Es ist Grace, die den anderen erklärt, was nur sie und Pivane begriffen haben.
»Der Schuss ging durch den ganzen Raum«, sagt sie. »Das ist so ähnlich wie in den alten Kriegsfilmen. Ein Schuss vor den Bug. Die wollten keinen umbringen.«
»Eine Warnung?«, fragt Lev.
»Eine Botschaft«, erwidert Pivane. Dennoch zögern die anderen, unter dem Tisch hervorzukriechen.
Connor stellt sich neben Pivane und späht hinaus in die Dunkelheit. In den Häusern auf der anderen Seite der Schlucht brennen Lichter. Der Schuss hätte von überall her kommen können. Es fällt kein zweiter.
»Jemand weiß, dass wir hier sind«, sagt Connor. »Und er will, dass wir gehen.«
»Das tut mir so leid!«, jammert Kele. »Nova hat versprochen, dass sie es niemandem erzählt, aber wahrscheinlich hat sie sich doch verplappert. Es ist alles meine Schuld.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Pivane wendet sich an Connor. »Egal, ihr seid jedenfalls in diesem Haus nicht mehr sicher. Wir müssen euch woanders hinbringen.«
»Die alte Schwitzhütte?«, schlägt Kele vor. Das klingt schon fast logisch, denn ins Schwitzen gekommen sind sie jetzt alle.
Pivane schüttelt den Kopf. »Ich weiß etwas Besseres.«