65. Roberta

Sie betritt das Haus erst, als sie ein Zeichen vom Einsatzführer bekommt, dass alles glattgelaufen ist. Die Männer im Haus sind weiter in höchster Alarmbereitschaft, haben aber ihr Opfer geschnappt. Die Schreie eines kleinen Kindes schrillen durch die Nacht wie eine Alarmanlage.

»Wir haben die Mutter betäubt«, erklärt ihr der Anführer, »aber beim Kind haben wir es nicht gewagt. Die Dosis könnte es umbringen.«

»Gute Entscheidung«, sagt Roberta. »Wir nutzen den Überraschungseffekt, aber wir sind ja keine Unmenschen.« Trotzdem, das schreiende Kind nervt. »Schließt die Zimmertür. Bestimmt weint es sich wieder in den Schlaf.«

Sie folgt dem Anführer nach oben, wo zwei weitere Mitglieder vom Sonderkommando des Proaktiven Bürgerforums Cam gegen die Wand des dunklen Schlafzimmers drücken und ihm gerade die Hände hinter dem Rücken fesseln. Roberta macht das Licht an.

»Muss so was denn immer im Dunkeln passieren?«

Als die Handschellen einschnappen, geht sie noch einen Schritt auf ihn zu. »Dreht ihn um, damit er mich sehen kann.«

Sie tun wie geheißen, und Roberta mustert ihn. Er sagt nichts. »Du scheinst ja alles unbeschadet überstanden zu haben.«

Er starrt sie finster an. »Das Flüchtlingsleben tut mir gut.«

»Das ist Ansichtssache.«

»Wie habt ihr mich gefunden?«

Sie fährt ihm mit den Fingern durchs Haar, obwohl sie weiß, wie sehr er das hasst. Aber mit seinen Handschellen kann er nichts dagegen tun. »Als ich gemerkt habe, dass du weg warst, hatte unser Standardraster dich schon verloren. Ich dachte, du hättest das Land verlassen, aber dafür warst du zu schlau. Nie hätte ich gedacht, dass du in einem Reservat der Glücksmenschen Zuflucht suchst – oder dass sie dich überhaupt aufnehmen würden. Aber das Glücksvolk ist unberechenbar, nicht wahr? Doch dann tauchte dein Fingerabdruck auf – oder ich sollte wohl besser sagen, Wil Tashi’nes Fingerabdruck –, als die Identität eines gewissen Bees-Neb Hebííte in einem iMotel eingescannt wurde.«

Er verzieht das Gesicht. Bestimmt weiß er noch genau, wo und wann er den belastenden Fingerabdruck auf dem Ausweis hinterließ.

Roberta schnalzt mit der Zunge. »Also wirklich, Cam, ein iMotel? Du wurdest für das Fairmont und das Ritz gemacht.«

»Und wofür bin ich jetzt gemacht?«

»Das ist noch nicht entschieden.« Sie betrachtet den bewusstlosen jungen Mann auf dem Bett. »Ich darf wohl annehmen, dass ich das Vergnügen habe, Mr Hebííte vor mir zu sehen?«

Es folgt eine Pause, ehe Cam sagt: »Genau. Das ist er.«

Sie setzt sich auf das Bett, ohne sich weiter um den bewusstlosen Jungen zu kümmern. »Du warst bestimmt der Star des Reservats, und sie haben dich überall herumgezeigt«, sagt Roberta, um Cam zum Reden zu bringen. »Wenn du im Reservat geblieben wärst, hätten wir dich nicht so schnell gefunden. Warum bist du weggegangen?«

Cam zuckt die Schultern und schenkt ihr schließlich sein berühmtes Grinsen. »Phileas Fogg«, sagt er. »Ich wollte die Welt sehen.«

»Tja, achtzig Tage hast du nicht ganz geschafft, aber ich hoffe, es war ausreichend.« Sie wendet sich an den Einsatzleiter. »Bringen wir es zu Ende.«

»Nehmen wir die anderen mit?«

»Unsinn«, erwidert Roberta. »Wir haben, was wir wollten. Ich habe nicht vor, die Sache durch eine Entführung noch komplizierter zu machen.«

»Aber wenn ihr mich mitnehmt, ist das keine Entführung?«, fragt Cam.

»Nein.« Roberta nimmt das Stichwort dankbar auf. »Nach dem Gesetz handelt es sich wohl um das Zurückholen gestohlenen Eigentums. Ich könnte jeden, der sich in diesem Haus aufhält, anzeigen, aber das mache ich nicht. Ich bin ja nicht nachtragend.«

Sie schleppen ihn ins Auto, auf Robertas Anweisung hin allerdings relativ behutsam. Das Kind im Obergeschoss weint weiter, doch das Geräusch ist nur noch gedämpft zu hören, als sie die aufgebrochene Vordertür zuziehen. Wenn die Mutter und der Rest dieser Bande wieder zu Bewusstsein kommt, können sie sich um das aufgelöste Kleinkind kümmern, voraussichtlich erst, wenn es hell wird.

Sie fahren los. Cam sitzt neben Roberta auf dem Rücksitz der Limousine, noch immer in Handschellen, gegen die er sich jetzt nicht mehr wehrt. Das Grinsen sitzt wie festgeklebt in seinem Gesicht. Roberta kann nicht leugnen, dass es sie ein wenig nervt.

»Ich vermute, der Senator und der General haben bei meinem Verschwinden vor Wut geschäumt?«

»Ganz im Gegenteil«, erwidert Roberta fröhlich. »Sie wissen gar nicht, dass du weg warst. Ich habe ihnen gesagt, dass wir beide für ein paar Wochen nach Hawaii gehen, ehe du dich wieder bei ihnen meldest. Dass du dich in der Klinik einer Motivationsbehandlung unterziehen willst. Und genau das werden wir jetzt tun: deine Hirnrinde ein wenig modifizieren.«

»Hirnrinde …«, wiederholt er.

»Es war nicht anders zu erwarten«, sagt Roberta. »Seit deiner Erschaffung spuken dir allen möglichen merkwürdigen Gedanken durch den Kopf. Aber ich bin glücklich, sagen zu können, dass ich eine wirksame Methode gefunden habe, alles, was in diesem wunderbaren Köpfchen falsch läuft … korrigieren zu können.«

Roberta kann nicht anders: Als das Grinsen aus seinem Gesicht weicht, genießt sie ihren Sieg.