36. Cam
Camus Comprix ist fasziniert, wie Musik die Welt verändern kann. Nur ein paar einfache Akkorde – das ist ein Kraftstoff, der mehr Energie in sich birgt als Uran, der Kraftstoff für seine Reise. Er hält Erinnerungsfragmente zusammen wie Sterne in einem Sternbild. Verbinde die Punkte, und du siehst das Ganze.
Nun, da er durch den dichten Kiefernwald wandert, mehr als zweitausend Kilometer von dem gemütlichen Stadthaus in D.C. entfernt, fragt er sich, was Roberta wohl gerade tut. Ihre Stärke ist ohne Zweifel die Schadensbegrenzung. Cam ist jetzt ein flüchtiger Verbundmensch, und das ist etwas völlig Neues in der Geschichte. Er fragt sich, ob die Jugendbehörde an der Suche beteiligt wird. Er ist ein Flüchtling, genau wie die Flüchtlinge, die er sucht. Der Gedanke erfüllt ihn gleichzeitig mit Furcht und Kraft.
Wenn er recht hat und Risa in dem Arápache-Reservat ist, was wird sie dann zu ihm sagen? Was wird er zu ihr sagen? Was tut er, wenn er den Flüchtling aus Akron vor sich sieht? So sehr er diese Begegnungen planen möchte, weiß er doch, dass er sich nicht darauf vorbereiten kann.
Als die Nacht hereinbricht, stößt er auf etwas, das überhaupt nicht in die Umgebung passt, doch er hat es erwartet: eine Steinmauer, die sich zu beiden Seiten endlos hinzieht und zehn Meter in die Höhe reicht.
Die Mauer scheint zunächst unüberwindbar zu sein, doch als Cam näher kommt, sieht er, dass viele der Granitblöcke Zacken haben, die aus der Mauer herausragen. Vielleicht sollen sie das Bauwerk verschönern, doch ihm scheint mehr dahinterzustecken. Je länger er die Vorsprünge betrachtet, desto klarer wird ihm, dass sie einem anderen Zweck dienen. Sie sind eine Botschaft. Eine Botschaft, die besagt: »Geh nicht weiter – es sei denn, dein Wunsch ist stärker als die Mauer hoch.«
Cam untersucht die jeweilige Position der herausstehenden Steine und beginnt dann, die Mauer hinaufzuklettern. Es ist gar nicht so einfach. Die Arápache gewähren offenbar nur Flüchtlingen Asyl, die diese Prüfung bestehen. Er fragt sich, wie viele wohl schon in den Tod gestürzt sind.
Oben auf der Mauer trifft ihn die Sonne, die weiter unten von der Granitwand abgeschirmt wurde, mit solcher Wucht, dass er fast den Halt verliert. Er hat angenommen, sie sei schon hinter dem Horizont untergegangen, dabei steht sie noch über den Wipfeln der Bäume. Ob ihn jemand sehen kann? In der Nähe ist niemand, und der Wald geht auf der anderen Seite der Mauer weiter. In der Ferne allerdings sieht Cam in einem Tal eine kleine Stadt liegen. Außerdem erkennt er eine Schlucht, in deren Fels offenbar Häuser gehauen wurden. Er kennt diesen Ort. Oder zumindest ein kleiner Teil von ihm kennt ihn.
Er klettert auf der anderen Seite der Mauer hinunter und wandert auf das Städtchen zu.
Es ist schon lange dunkel, als er aus dem Wald kommt. Das Städtchen ist gleichzeitig urig und modern. Die Häuser sind aus weiß getünchten Lehmbacksteinen und braunen Ziegeln, die Gehwege nicht aus Beton, sondern aus eingelassenen Mahagonibohlen. Überall stehen teure Autos, aber es gibt auch Holzstangen zum Anbinden von Pferden. Die Arápache führen ein gutes Leben und wählen die Technik, die sie verwenden, mit Bedacht aus, statt sich von ihr beherrschen zu lassen.
Das Städtchen ist klein, aber nicht so klein, dass es kein Nachtleben gäbe. Die Stadtmitte ist auch nach Einbruch der Dunkelheit belebt, die bunten und einladenden Restaurants und Läden für die Jüngeren sind gut besucht. Cam hält sich von ihnen fern und biegt stattdessen in eine Einkaufsstraße mit Banken und anderen Geschäften ab, die um diese Uhrzeit geschlossen sind. Wenn er jemandem begegnet, wird er entweder mit einem ›Hallo‹ oder einem ›Tous‹ begrüßt, das, wie er annimmt, dasselbe auf Arápache heißt. Mit Bestimmtheit kann er das nicht sagen, denn von Wil Tashi’nes Sprachzentrum hat er nichts abbekommen. Er erwidert den Gruß, achtet aber darauf, dass die Kapuze seines dunklen Sweatshirts Haare und Gesicht verbirgt.
Wil Tashi’ne würde sich an diese Straßen erinnern. Aber die meisten von Wils Erinnerungen sind für Cam nicht verfügbar, weil andere Leute sie in ihrem Kopf haben. Manche wabern durch sein Gehirn wie Gerüche im Wind, wirbelnd und strudelnd, lenken seine Beine in eine Richtung, die sein Bewusstsein nie ausloten könnte. Doch er weiß, dass er ihnen trauen kann.
Ein solcher Wirbel zieht ihn auch in eine Seitenstraße. Er weiß nicht einmal mehr, dass er abgebogen ist – es ist einfach geschehen, so gewohnheitsmäßig, dass er gar nicht darüber nachdenken musste. Der Geruch der Erinnerung ist hier sehr stark. Cam lässt sich zu der großen Holztür eines Ladens führen. Es brennt kein Licht, und der Laden ist zu, wie alle Geschäfte in diesem Sträßchen.
Er dreht am Türknauf, der jedoch verschlossen ist, wie er es sich schon gedacht hat. Aber hinter dieser Tür steckt mehr. Mit Nachdenken kann er ihr Geheimnis nicht lüften, doch seine Finger kribbeln. Er berührt das Mauerwerk direkt neben der Tür. Ja, seine Finger wissen mehr als der Rest von ihm! Er fährt über den Backstein, spürt die raue Oberfläche und den noch raueren Mörtel zwischen den Steinen, bis seine Finger finden, wonach sie suchen. In einer Lücke im Mauerwerk liegt ein Schlüssel. Was seine Hände alles wissen! Selbst als er den Schlüssel betrachtet, hat er keine bewusste Erinnerung daran.
Er steckt ihn ins Schloss, dreht ihn um und öffnet langsam die Tür.
Auf Anhieb erkennt er die Gegenstände, die da an der Decke hängen. Gitarren. Hat Wil hier gearbeitet? Cam durchforstet sein Gedächtnis, kann aber nichts finden. Dafür hat er Lieder von diesem Ort. Sie hallen in seinem Kopf wider, und wenn er ihnen eine Stimme gibt, entstehen neue Verknüpfungen.
Auf der Ladentheke liegt eine Gitarre. Sie muss erst kürzlich gespielt worden sein, denn sie ist gestimmt. Es ist ein zwölfsaitiges Instrument. Die hat er am liebsten. Er atmet den erdigen Geruch von Holz ein, der in dem Gitarrenladen in der Luft hängt, und beginnt zu spielen.