40. Bam

Bam geht durch die Tunnel und Kammern des Bergwerks und erhascht hier und dort einen Blick auf das Geschehen.

Ein Junge, aufgelöst in Tränen, trauert um seinen toten Freund.

Ein Neuankömmling, der entsetzliche Angst hat, wird von einem älteren Storch beruhigt.

Eine glücklose vierzehnjährige »Sanitäterin« versucht, mit Zahnseide eine Platzwunde zu nähen.

Bam sieht Szenen der Hoffnung und der Verzweiflung und weiß nicht, welche überwiegen.

Sie kommt an einem Jungen vorbei, der seine Essensration mit einem anderen teilt, während neben ihnen ein Mädchen einem jüngeren Mädchen zeigt, wie man ein Sturmgewehr bedient, das sie in Cold Springs konfisziert haben.

Und dann ist da der, der gezwungen wurde, den Ernte-Camp-Direktor zu erschießen. Er sitzt allein da und starrt ins Leere. Bam würde ihn gern trösten, aber dafür ist sie nicht die Richtige.

»Starkey ist stolz auf euch alle und freut sich über unseren heutigen Sieg«, erklärt sie den Kids. »Wir haben den Feind überfallen und Geschichte geschrieben!«

Sie muntert sie auf, in aller Bescheidenheit, denn sie darf Starkey nicht die Schau stehlen. Sie ist Bam, eine Art Apostel, der den Weg bereitet für den Erlöser der Storche.

»Er wird vor dem Abendessen alle zusammenrufen. Er hat euch viel zu sagen.« Im Grunde hat er ihnen nichts mitzuteilen, vielmehr sollen sie stärker zusammengeschweißt werden, sich auf die positiven Dinge konzentrieren, genau, wie er es Bam gesagt hat. Er wird tröstliche Worte für die Toten finden, doch dann geht es auch gleich weiter. Er wird alles Unangenehme unter den Teppich kehren und sein Publikum ablenken. Darin ist er richtig gut. Deshalb sind sie auch so weit gekommen. Bam bewundert, wie Mason Starkey die Welt um ihn herum verzaubern kann. Er hat dafür gesorgt, dass sie schon seit mehr als einem Monat praktisch unsichtbar sind, er hat sie gekleidet und ernährt mit Geld, das niemand zurückverfolgen kann. Ja, sie bewundert ihn, und mit jedem Tag fürchtet sie sich auch ein bisschen mehr vor ihm. Sie hält das für normal. Ein guter Anführer sollte mächtig sein und auch ein bisschen angsteinflößend.

Nachdem Bam den Storchen Starkeys Auftritt angekündigt hat, biegt sie in einen Seitengang ab. Zum x-ten Mal haut sie sich den Kopf an einem Stein an, der aus der Decke ragt. Die Stollen des Bergwerks sehen alle gleich aus, doch wenn sie an diesem verdammten Stein hängen bleibt, weiß sie wenigstens, wo sie ist. Der Gang wird breiter und öffnet sich zu einer breiten Höhle. Da die Lichter außen an den Wänden angebracht sind, herrscht in der Mitte des Raums eine seltsame Finsternis, gerade so, als befände sich dort ein schwarzes Loch.

Das ist das Lager, in dem Nahrungsmittel und andere Vorräte aufbewahrt werden. Hier ist auch Hayden beschäftigt. Er wird immer von einem bewaffneten Storch bewacht, der ihn beschützen, aber auch dafür sorgen soll, dass er keinen Blödsinn macht.

»Es besteht Fluchtgefahr, aber es darf nicht so aussehen, als wäre er ein Gefangener«, hat Starkey erklärt. »Wir sind schließlich nicht die Jugendbehörde.«

Natürlich ist Hayden ein Gefangener, aber so darf es um Himmels willen nicht aussehen.

Es war Bams Vorschlag, Hayden die Lebensmittelverteilung zu übertragen. Erstens hat er das bei seiner Ankunft auf dem Friedhof schon einmal gemacht, hat also Erfahrung darin. Zweitens ist der Verantwortliche heute umgekommen.

Bam trifft ihn bei der Inventur der Konserven an. Er quasselt mit dem Wachhabenden und quetscht ihn über den Flugzeugabsturz aus und darüber, was seither alles passiert ist: von den Überfällen auf die Supermärkte über ihren Aufenthalt in dem verlassenen Hotel in Palm Springs bis hin zu Camp »Red Heron« und der Egret Academy. Bam muss dafür sorgen, dass die Wachen künftig mit Hayden nur noch über Dosenfleisch und Maiskonserven reden.

Als der Wachhabende fragt, ob er auf die Toilette gehen kann, die von dieser Stelle der Höhle aus ziemlich weit weg ist, lässt Bam ihn ziehen. »Ich passe auf Hayden auf, bis du wieder da bist.« Er bietet ihr seine Uzi an, die sie jedoch ablehnt.

Hayden hat einen Block in der Hand und notiert die Lebensmittelvorräte.

»Wir haben viel zu viel Chili«, sagt er und deutet auf einen Stapel von Fünfliterkanistern. »Das lässt sich nicht besonders vielseitig einsetzen.«

Bam verschränkt die Arme. »War ja klar, dass du dich beschweren würdest. Falls du es vergessen hast: Wir haben dich gerade befreit. Du solltest dankbar sein.«

»Bin ich ja auch. Ich bin geradezu verzückt. Aber die Gefangenschaft im Ernte-Camp muss einen Hirnschaden bei mir hinterlassen haben, denn plötzlich stelle ich das Wohl der Gruppe über mein eigenes.«

»Indem du zum Beispiel feststellst, dass zu viel Chili da ist?«

Er bleibt ihr die Antwort schuldig und fährt mit seiner Inventur fort. Bam sieht sich um, ob der Wachhabende wiederkommt. Sie ist hier, weil sie es als ihre Aufgabe betrachtet, Hayden im Auge zu behalten, doch sie mag ihn nicht, mochte ihn noch nie. Hayden ist einer, der sich bei anderen im Kopf festsetzt und dort seinen Schabernack treibt.

Als er von seinem Block aufsieht, begegnet er Bams Blick. Er hält ihn nur ein ganz klein wenig zu lang, als dass er flüchtig zu nennen wäre. Dann konzentriert er sich wieder auf seine Inventur. Oder auch nicht.

»Du weißt schon, dass er euch alle noch den Hals kosten wird, oder?«

Bam ist überrumpelt. Nicht von Haydens Worten, sondern weil sie sie so wütend machen. Sie spürt, wie ihre Wangen vor Zorn rot anlaufen. Sie darf es nicht zulassen, dass er ihr Zweifel in den Kopf pflanzt. Zumal sie schon da sind.

»Noch ein Wort über Starkey, und das Nächste, was du hörst, ist das Krachen deines Schädels, wenn er am Boden zerplatzt wie ein Ei.«

Hayden lächelt spöttisch. »Das ist clever, Bam. Ich wusste gar nicht, dass du zur cleveren Fraktion gehörst.«

Sie sieht ihn düster an, denn sie weiß nicht recht, ob sie das als Kompliment oder als Beleidigung auffassen soll. »Halt einfach den Mund und mach, was man dir sagt. Dann wirst du auch nicht wie ein Gefangener behandelt.«

»Ich schlage dir einen Handel vor«, sagt Hayden. »Ich rede mit niemand anderem, aber dir sage ich offen, was ich denke. In Ordnung?«

»Nein! Wenn du es versuchst, reiße ich dir deine lausige Zunge heraus und verkaufe sie an den Höchstbietenden.«

Da muss er schallend lachen. »Punkt an Bam! Was Gruselbilder angeht, bist du jedenfalls unschlagbar. Bei Gelegenheit kannst du mir das mal beibringen.«

Sie schubst ihn, nicht stark genug, dass er fällt, aber immerhin so kräftig, dass er kurz das Gleichgewicht verliert. »Wie kommst du darauf, dass ich auch nur ein Wort von dem hören will, was aus deinem Mund kommt? Und wie kommst du darauf, dass du besser bist als Starkey? Was er leistet, ist phantastisch! Hast du eine Ahnung, wie viele Kids wir heute gerettet haben?«

Hayden seufzt und betrachtet die Konserven, die er soeben gezählt hat, als stünde jede für ein gerettetes Kind. »Ich gönne Starkey ja seine Statistik geretteter Wandler«, sagt er. »Aber ich frage mich, was das auf lange Sicht bedeutet.«

»Es bedeutet, dass die Kids nicht umgewandelt werden.«

»Vielleicht … oder es bedeutet, dass sie schneller umgewandelt werden, wenn man sie erwischt, ebenso wie alle anderen Jugendlichen, die auf ihre Umwandlung warten.«

»Starkey ist ein Visionär!«, ruft Bam. Ihre Stimme ist so laut, dass sie von den Felsen ringsum widerhallt. Sie fragt sich, ob sie wohl jemand gehört hat. In diesem Bergwerk hört immer jemand zu. Sie zwingt sich, die Stimme zu einem wütenden Zischen zu senken. »Für Starkey geht es nicht nur darum, Ernte-Camps zu überfallen. Er will sich für Storche einsetzen.« Während sie spricht, schreitet sie langsam auf Hayden zu, der zurückweicht, um eine gesunde Distanz zu wahren. »Kapierst du nicht, dass er eine Storchenrevolution lostritt? Andere Storche, die keine Zukunft sehen, die als Bürger zweiter Klasse gelten, werden sich erheben und eine faire Behandlung fordern.«

»Und das macht er mit Terroranschlägen?«

»Guerillakrieg!«

Mittlerweile hat sie Hayden so weit zurückgedrängt, dass er mit dem Rücken zur Wand steht. Trotzdem wirkt er entspannt. Dafür fühlt sie sich in die Enge getrieben.

»Jeder Geächtete wird irgendwann geschnappt, Bam.«

Bam verscheucht den Gedanken mit einem Kopfschütteln. »Nicht, wenn er den Krieg gewinnt.«

Hayden schlüpft zur Seite weg, durchquert den Raum und setzt sich auf einen Chilikanister. »Auch wenn es mir mindestens genauso auf den Magen schlägt wie das Chili hier, muss ich dir zumindest in einer Sache recht geben«, sagt er. »Es stimmt schon, die Menschheitsgeschichte ist voll von aufgeblasenen Psychopathen, die es geschafft haben, sich die Macht zu krallen und mit ihrer Gefolgschaft Triumphe zu feiern. Aus dem Stegreif fällt mir keiner ein, aber es gibt bestimmt welche.«

»Alexander der Große«, schlägt Bam vor. »Napoleon Bonaparte.«

Hayden legt den Kopf leicht zur Seite und kneift die Augen zusammen, als versuche er, sich etwas vorzustellen. »Wenn du Mason Starkey siehst, dann erkennst du also die Qualitäten eines Alexander oder eines Napoleon in ihm – abgesehen davon, dass er klein ist?«

Bam beißt die Zähne zusammen und sagt: »Genau.«

Da ist es wieder, dieses feixende Grinsen. »Es tut mir leid, Miss«, sagt Hayden, »aber wenn du den Part übernimmst, musst du ihn schon ein bisschen besser spielen.«

Bam würde Hayden am liebsten ein paar seiner wunderbar geraden Zähne herausschlagen, lässt aber nicht zu, dass ihr Zorn die Oberhand gewinnt. Nicht, nachdem sie Starkeys Wutausbruch erlebt hat. »Wir sind hier fertig«, sagt sie. Sie will doch nicht warten, bis der Wachhabende wieder da ist.

Haydens Grinsen weitet sich zu einem herablassenden Lächeln, das sie noch wütender macht. Vielleicht haut sie ihm doch noch eine rein. »Aber das Beste hast du noch gar nicht gehört«, sagt er.

Sie sollte besser gehen, bevor er den nächsten Witz auf ihre Kosten reißt, aber sie schafft es einfach nicht. »Und was soll das sein?«

Hayden schlendert auf sie zu. Offenbar fürchtet er nicht, dass ihn das, was er zu sagen hat, ein paar Zähne kosten könnte. »Starkey und du, ihr werdet weiter Ernte-Camps befreien, so oder so«, sagt er. »Und da das so ist, möchte ich dazu beitragen, dass mehr von euren Storchen am Leben bleiben. Vergiss nicht, auf dem Friedhof war ich Technikchef. Ich weiß ein paar Sachen, die euch helfen könnten.«

Nun muss Bam grinsen. Sie kennt Hayden zu gut.

»Und was willst du dafür?«

»Wie ich schon gesagt habe, ich will nur dein Ohr – völlig ohne Umwandlung.« Dann schweigt er. Wird ernst. Sie hat Hayden noch nie ernst gesehen, das ist etwas Neues. »Du sollst versprechen, dass du mir zuhörst, mir wirklich zuhörst, wenn ich etwas zu sagen habe. Es muss dir nicht gefallen, du sollst es dir nur anhören.«

Nachdem sie fünf Minuten vorher noch abgelehnt hat, ist sie nun einverstanden. Obwohl sie das Gefühl hat, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen.