58. Connor

Auf dem Autobahnschild steht: WILLKOMMEN IN AKRON, DER GUMMIHAUPTSTADT DER WELT. Der bedrohlich dunkle Himmel aber scheint sie nicht gerade willkommen zu heißen. Connor hat das Steuer so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Als er es merkt, löst er den Griff ein wenig. Ganz ruhig. Ganz ruhig. Es ist nur ein Schild.

»Der Schauplatz des Verbrechens«, bemerkt Cam von hinten, lenkt dann aber ein: »Das hängt natürlich davon ab, wie man ›Verbrechen‹ definiert.«

Grace, die noch neben Cam auf der Rückbank sitzt, liest und analysiert personalisierte Autokennzeichen. »›SSARK.‹ Krass rückwärts geschrieben. ›&SEOUL.‹ Ein Koreaner mit dem Herz eines Wandlers.« Grace scheint die Anspannung im Auto nicht zu spüren, bis sie sich einem Wagen der Autobahnpolizei nähern, der auf dem Standstreifen gehalten hat.

»Mach langsam! Langsam! Langsam!«, sagt sie.

»Keine Sorge, Grace«, beruhigt Connor sie. »Ich fahre nicht schneller als erlaubt.« Es wäre wirklich bescheuert, wenn man sie jetzt wegen Raserei erwischen würde.

Die Wälder werden von Vororten unterbrochen, und im Vorbeifahren sucht Connor nach der Stelle, an der Risas, Levs und sein Leben sich kreuzten. Er weiß nicht einmal, ob es dieselbe Autobahn war. Ihm kommt es vor, als wäre das nicht nur in einem anderen Leben, sondern in einer völlig anderen Welt passiert. Einer Welt, in die er nun wieder eintreten will. Er fühlt sich wie Frodo vor den Toren Mordors. Wer hätte gedacht, dass einem Ohio dermaßen düstere Vorahnungen in den Kopf setzen kann?

»Weißt du, wonach du suchst?«, fragt Cam vom Rücksitz. »Akron ist eine große Stadt.«

»So groß auch wieder nicht«, lautet Connors Antwort.

Dass er Cam mit auf die Reise nehmen musste, war ein notwendiges Übel. Doch Connor wünschte, er würde nicht direkt hinter ihm sitzen, denn dort kann er ihn nur durch den Rückspiegel sehen. Cam hat Connor mit den Informationen in der Cloud nicht für sich gewinnen können. Er hat etwas ausgesprochen Hinterhältiges und Undurchsichtiges an sich, oder zumindest sind seine Ziele undurchsichtig. Wenn Connor ihm vertrauen würde, könnte das ihrer aller Untergang sein.

»Du kennst Akron ziemlich gut, oder?«

»Überhaupt nicht«, erwidert Connor. »Ich war nur einmal hier.«

Da muss Cam lachen. »Aber man nennt dich den Flüchtling aus Akron!«

»Ja, komisch, wie so was manchmal kommt.« Connor, der aus einem weiter entfernten Vorort von Columbus stammt, hat in Akron Nelson betäubt. In Akron ist er berühmt-berüchtigt geworden. Er wusste damals nicht einmal, wo er sich eigentlich befand. Dass es Akron war, erfuhr er erst durch das ärgerliche Etikett, das ihm angeheftet wurde.

»Zentrum Nord!«, ruft Connor.

»Zentrum Nord was?«, fragt Grace.

»Das ist der Name der Schule. Zentrum-Nord-Highschool. Ich wusste doch, dass es mir wieder einfällt.«

»Wir suchen eine Schule?«

»Da fangen wir auf jeden Fall an. Wir suchen nach einem Antiquitätenladen in der Nähe der Schule. Ich erkenne ihn, wenn ich ihn sehe.«

»Bist du sicher?«, fragt Cam. »Mit der Erinnerung ist das so eine Sache.«

»Mit deiner vielleicht«, sagt Connor. Er gibt den Namen der Schule in das Navi ein, und eine freundliche Stimme leitet ihn zuversichtlich, wenn auch etwas seelenlos, durch die Stadt. Nach einer Viertelstunde sind sie im Osten von Akron. Als sie wieder einmal abbiegen, ist Connor plötzlich alles erschreckend vertraut.

Die Schule sieht genauso aus wie damals. Ein drei Stockwerke hoher typischer staatlicher Backsteinbau, der auf Connor nicht weniger einschüchternd wirkt als das Texas School Book Depository, damals, als er mit seiner Familie in Dallas eine Führung durch das berühmte Gebäude machte, aus dem Oswald auf Kennedy schoss. Connor atmet zitternd ein.

Es ist ein Dienstagvormittag, und es ist Unterricht. Etwa um diese Uhrzeit sprang damals der Feueralarm an, und die Hölle brach los. Connor fährt langsam am Gebäude vorbei. Gegenüber der Schule ist eine Wohnsiedlung, doch weiter vorne sieht er eine Einkaufsstraße.

»Etwas Bestimmtes, wonach wir suchen müssen?«, fragt Cam. »Hat der Antiquitätenladen irgendwelche besonderen Merkmale?«

»Ja«, sagt Connor. »Alten Kram.« Grace muss lachen.

Connor fragt sich, wie Sonia wohl reagiert, wenn sie ihn sieht. Dann kommt ihm ein schrecklicher Gedanke: Und wenn sie tot ist? Oder wenn sie verhaftet wurde, weil sie Wandlern Unterschlupf bot? Er spricht seine Bedenken nicht aus, aus Angst, sie würden dadurch womöglich wahr.

Connor tritt auf die Bremse, weil er fast eine rote Ampel übersehen hätte. Eine Fußgängerin starrt ihn beim Überqueren der Straße böse an.

»Autofahren ist wohl nicht deine Stärke«, meint Grace. Dann sagt sie zu Cam: »Weißt du, dass er Lev fast über den Haufen gefahren hätte?«

»Ich fahre ganz gut«, widerspricht Connor, »aber die Stadt hier bringt mich völlig durcheinander.« Er sieht sich um, während er auf Grün wartet. »Hier erkenne ich nichts wieder, dabei weiß ich, dass der Laden nur ein oder zwei Straßen weiter sein kann.«

»Dann fahr um die Schule herum, und mach die Kreise immer größer«, schlägt Grace vor. »Obwohl, die Straßen sind ja nicht rund, also fährst du so was wie eckige Kreise.«

»Das bezeichnet man übrigens als Ulam-Spirale«, wirft Cam ein. »Die graphische Darstellung von Primzahlen. Nicht, dass ihr so was wissen könntet.«

Connor wirft ihm durch den Rückspiegel einen angewiderten Blick zu. »Besteht dein innerer Trupp eigentlich nur aus Arschlöchern?«, fragt er. Das bringt Cam zum Schweigen.

Die Kreise um die Schule werden immer größer, bis Connor plötzlich auf die Bremse tritt, diesmal nicht, weil es Rot ist.

»Da ist es. Er ist noch da.«

An der wenig einladenden Front des Eckladens hängt ein bescheidenes Schild mit der Aufschrift: GOODYEAR HEIGHTS ANTIQUITÄTEN. Da das Geschäft zwei Blocks von der Hauptverkehrsstraße entfernt ist, kommen bestimmt nicht viele Kunden vorbei. Connor parkt auf der anderen Straßenseite. Die drei bleiben eine Weile schweigend sitzen, ehe Connor den Gurt löst.

»Dann gucken wir mal Antiquitäten«, sagt er.