53. Bam
Sie führt Befehle aus. Sie kümmert sich um Neuankömmlinge. Sie zwingt sich, nicht über die »Fünf von MoonCrater« nachzudenken. So werden in den Medien die Ernte-Camp-Mitarbeiter genannt, die Starkey gehenkt hat. Sie sind jetzt Märtyrer und ein Beleg dafür – das sagen jedenfalls die politischen Beobachter –, warum unverbesserliche Teenager eben umgewandelt werden müssen.
In der Pseudoschlacht, die Bam vor dem Haupttor angezettelt hat, wurden zwei Storche getötet und sieben verwundet, denn Bam und ihr Team wollten zwar niemanden umbringen, die Wachleute, die auf sie schossen, aber schon. Dass sie es überhaupt wieder hinaus geschafft haben, grenzte an ein Wunder. Jedenfalls erfüllte der Angriff seinen Zweck. Er sah aus wie ein gescheiterter Einbruchsversuch – bis die Sicherheitskräfte die Abriegelung der Schlafsäle aufhoben und sahen, was dort geschehen war.
Fünf gelynchte Menschen im Schlafsaal von MoonCrater.
Die Bilder sind nicht weniger verstörend als viele, die Bam aus Geschichtsbüchern kennt.
Etwas tun. Sie muss sich beschäftigen. Die Storche wurden gleich nach der Ankunft im Bergwerk von den Nichtstorchen getrennt. Statt die Nichterwählten am Ende der Welt sich selbst zu überlassen, hat sich Bam darum gekümmert, dass sie nach Boise gebracht werden, die nächste größere Stadt. Dort sind sie zwar auf sich gestellt, aber zumindest können sie im Häusermeer und in der Menschenmenge untertauchen. Und wer weiß, vielleicht findet sie ja die Anti-Umwandlungs-Front, und man gewährt ihnen Zuflucht. Falls es die AUF überhaupt noch gibt.
Fünf Menschen.
Der leitende Ernte-Betreuer für die Jungs, ein Hausmeister, eine Büroangestellte, eine Schlachthauskrankenschwester und der Freund der Köchin, der zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war.
Und dank der einen Frau, deren Leben er verschonte, kennt nun jeder den Namen Mason Michael Starkey.
»Gratuliere«, sagte Bam, als sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie sprechen konnte, ohne gleich an die Decke zu gehen. »Du bist jetzt Staatsfeind Nummer eins.« Ungläubig musste sie feststellen, dass er ihre Worte mit einem zufriedenen Lächeln quittierte.
»Was soll daran gut sein, Mann?«
»Man fürchtet mich«, erwiderte er. »Ich bin einer, mit dem sie rechnen müssen. Das wissen sie jetzt.«
In den zwei Tagen seit der Befreiung von MoonCrater hat die glühende, fast krankhafte Verehrung, die ihm die Storche entgegenbringen, seinen Heiligenschein noch vergrößert. Und die Verehrung kommt nicht nur aus der Storchenbrigade. Ganze Online-Communities sind aus dem Nichts entstanden. »Storche, vereinigt euch!«, verkünden sie, und: »Mach sie fertig, Starkey, mach sie fertig!«, als wäre er so eine Art Jesse James, der Postkutschen überfällt. Jeder, der ihn von früher kennt, versucht offenbar, auf seine Kosten wenigstens eine Viertelstunde Berühmtheit zu erlangen, postet Geschichten und Bilder, damit die Welt auch noch das unbedeutendste Foto und das kleinste Detail aus der Zeit vor seiner Flucht zur Kenntnis nimmt.
So kommt auch ans Licht, dass er einen der JuPos erschossen hat, die ihn zu Hause abgeholt haben. Das lässt ihn noch gefährlicher aussehen, doch je mehr er in der bürgerlichen Gesellschaft verachtet wird, desto mehr Unterstützung erhält er von den Entrechteten.
Alles in allem hat Starkey erreicht, was er wollte: Er ist so berühmt, dass er Connor Lassiter in den Schatten stellt.
Weil er fünf Menschen kaltblütig gehenkt hat. Wer weiß, wie viele es nächstes Mal sind?
Nein! So darf Bam nicht denken. Ihr Job ist es, die positiven Seiten zu beleuchten: Hunderte von Wandlern gerettet, Status quo erschüttert. Bam darf nicht vergessen, dass sie sich bewusst entschieden hat, mitzumachen. Auf dem Flugzeugfriedhof schenkte ihr Starkey sein Vertrauen, als es sonst niemand tat. Er wählte sie als seine Stellvertreterin, die für alles verantwortlich ist. Sie ist, wenn auch nicht seine Vertraute, so doch sein Resonanzboden. Sie ist ihm Loyalität schuldig. Er hat es sich zur Mission gemacht, als Erlöser der Storche aufzutreten, den Stummen eine Stimme zu geben, und er hat Erfolg. Welches Recht hat sie, seine Methoden in Frage zu stellen?
Doch Hayden tut genau das, und zwar schon seit er hier ankam, auch wenn er es nur Bam gegenüber äußert und auch nur, solange sie es sich anhört. Als er von den Lynchmorden erfuhr, hat er Starkey allerdings die Stirn geboten und sich geweigert, an den Computer zurückzukehren. Mit der nächsten Befreiung will er nichts zu tun haben. Starkey war natürlich stinksauer. Er brüllte wie ein Stier, doch Hayden, von dem Bam immer dachte, er hätte kein Rückgrat, gab nicht nach.
»Ich arbeite nicht für einen Terroristen«, sagte Hayden. »Köpf mich hier und jetzt oder geh mir aus den Augen.« Wer weiß: Wären nicht nur Bam und Jeevan dabei gewesen, wäre Starkey einer altmodischen Enthauptung womöglich nicht abgeneigt gewesen, als Lektion für die Storche. Diejenigen, die noch an Haydens Kollaboration mit den JuPos glauben, hätten das begrüßt. Doch Starkeys Zorn war plötzlich verflogen, und er musste lachen, was seinen Machtanspruch in diesem Moment besser untermauerte als jeder Wutausbruch. Wenn man eine Auseinandersetzung nicht gewinnen kann, muss man sie durch den Kakao ziehen. Das war immer Haydens Motto gewesen, und Starkey hat es ihm geklaut.
»Versuch nie, ernst zu sein, Hayden, das ist einfach zu komisch.« Dann setzte er Hayden wieder ins Lebensmittellager, als hätte er das die ganze Zeit vorgehabt. »Hilfsarbeiten für einen mittelmäßig Begabten.«
Offenbar ist Hayden aber doch nicht so mittelmäßig, wie Starkey behauptet, denn eineinhalb Tage später schickt er Bam los, ihn wieder in den Computerraum zu locken. Als hätte sie mehr Einfluss auf Hayden als Starkey! Sanfte Überzeugungskraft ist nicht gerade Bams Stärke, und Hayden hat ja schon bewiesen, dass er sich nicht bevormunden lässt. Es ist vergeudete Zeit, aber mittlerweile vergeudet sie ihre Zeit ziemlich oft.
Sie findet Hayden im Lager, wo er an einen Pfosten gelehnt auf dem Boden sitzt, in der dunklen Mitte des Raums. Mit Inventur und Lebensmittelausgabe hat er im Moment offenbar nicht viel zu tun. Allerdings schreibt er etwas in ein Büchlein. Als der Junge, der als Wache für ihn abgestellt ist, Bam sieht, steht er auf, die Waffe im Anschlag. Er will wohl überspielen, dass er auf einem Sack Reis vor sich hin gedöst hat.
Hayden sieht nicht einmal auf, als sie in den Raum kommt.
»Warum schreibst du im Dunkeln?«
»Weil ich so eine Sauklaue habe, dass sie besser keiner sieht, nicht einmal ich.«
Als sie in die Dunkelheit tritt, stellt sie fest, dass es gar nicht so dunkel ist. Es sieht nur so aus, wenn man von den hellerleuchteten Wänden kommt. Hayden steht nicht auf, um sie zu begrüßen. Er schreibt einfach weiter.
»Und was ist das?«
»Ich schreibe Tagebuch. Wenn wir eines Tages gehenkt werden für das, was wir hier machen, gibt es einen Bericht darüber, was wirklich passiert ist. Ich nenne es ›Starkeys Inferno‹, bin mir allerdings nicht sicher, in welchem Bereich der Hölle wir hier sind.«
»Heute wird man nicht mehr gehenkt«, erwidert Bam. Dann fallen ihr Starkeys Lynchmorde ein. »Jedenfalls nicht offiziell.«
»Stimmt schon. Wahrscheinlich zerlegen sie uns einfach. Oder sie hülsen uns aus, wenn das Gesetz dafür durchgeht.« Er schließt das Büchlein und sieht zum ersten Mal zu ihr auf. »Die Ägypter waren die Ersten, die das Aushülsen praktiziert haben. Wusstest du das? Sie haben ihren Pharao mumifiziert, um den Körper für das Leben nach dem Tod zu erhalten. Aber bevor er auf diese freudlose Reise ging, haben sie ihm das Gehirn aus dem Kopf gezogen.« Er denkt kurz nach. »Echte Genies, diese Ägypter. Die wussten, das Gehirn ist das Letzte, was der Pharao braucht. Im Jenseits hätte er damit womöglich größten Schaden angerichtet.«
Endlich steht er auf und sieht Bam ins Gesicht. »Also, was ist, Bam? Was willst du?«
»Du sollst Jeevan mit den Firewalls helfen. Du musst es nicht selber machen, sondern sollst ihm nur zeigen, wie es geht.«
»Jeevan weiß, wie man durch Firewalls kommt, das hat er auf dem Friedhof auch schon gemacht. Wenn er es jetzt nicht macht, dann nur, weil er nicht will. Aber wahrscheinlich hat er Angst, es dem Herrn der Storche zu sagen.«
»Herr der Storche – wird er in den Medien jetzt so genannt?«
»Nein, das ist mein eigener Kosename«, sagt Hayden. »Starkey würde das bestimmt gefallen. Ich wette, er würde sich einen Altar aufstellen lassen, damit das einfache Volk ihm mit Hymnen und Opfergaben huldigen kann. Da fällt mir noch etwas anderes ein: Ich habe mir über einen angemessenen Salut für den Herrn der Storche Gedanken gemacht. So was wie der Hitlergruß, du weißt schon, aber mit dem Mittelfinger. So.« Als er es Bam zeigt, muss sie lachen.
»Hayden, du bist echt ein Arschloch.«
»Wenn es von dir kommt, nehme ich es als Kompliment.« Er bedenkt sie mit einem Anflug seines herablassenden Grinsens. Sie ist geradezu froh, es zu sehen.
Einen Moment zögert er und wirft dem Wachhabenden, der wieder auf dem Reissack vor sich hin döst, einen kurzen Blick zu. Dann tritt er einen Schritt näher an Bam heran und sagt leise: »Du würdest sie besser führen als Starkey, Bam.«
Es folgt ein Schweigen. Bam weiß nicht, was sie darauf antworten soll.
»Erzähl mir nicht, dass du das nicht auch schon gedacht hast«, sagt Hayden.
Er hat recht. Sie hat darüber nachgedacht. Und sie hat den Gedanken verworfen, ehe er sich festsetzen konnte. »Starkey hat eine Mission«, erklärt sie. »Er hat ein Ziel. Was habe ich?«
Hayden zuckt die Schultern. »Gesunden Menschenverstand? Überlebensinstinkt? Einen guten Knochenbau?«
Bam kommt zu dem Schluss, dass sie dieses Gespräch lieber nicht fortsetzen will. »Leg dein Tagebuch weg und mach deinen Job. Gestern gab es nicht genug zu essen. Sorg dafür, dass sich das heute Abend nicht wiederholt.«
Er salutiert mit dem Mittelfinger. Sie wirft im Gehen dem Wachhabenden eine Kartoffel an den Kopf.
Noch an diesem Nachmittag wird Bams Welt, die schon gefährlich in Schieflage geraten ist, vollends über den Haufen geworfen. Schuld daran sind die Zicken. So nennt Bam die Art Mädchen, die sie am meisten hasst. Niedliche kleine Dinger, die ein sorgloses Leben führen, die sich um nichts kümmern müssen als um Jungs und die Farbe ihres Nagellacks und deren Namen banal klingen, aber kompliziert geschrieben werden. Auch in der Storchenbrigade gibt es Mädchen, die alle Kriterien einer Zicke erfüllen, die launisch und eingebildet sind, obwohl sie nur noch Lumpen am Leib tragen. Trotz all der Not, die sie erfahren haben, gelingt es ihnen irgendwie, hübsch und entzückend und oberflächlich zu sein, mit dem Tiefgang einer Wasserpfütze.
In den vergangenen Wochen haben drei von ihnen ihre eigene kleine Clique gebildet. Zwei sind siena, eine umbra und alle drei unverschämt hübsch. Sie haben an keiner Ernte-Camp-Befreiung teilgenommen, ja, anscheinend haben sie überhaupt nicht viel zu tun, außer zu tratschen und über andere herzuziehen. Mehr als einmal hat Bam sie hinter ihrem Rücken über ihre Größe, ihre zugegebenermaßen männliche Figur und ihr allgemeines Auftreten lästern hören. Aus Prinzip geht sie ihnen aus dem Weg, doch heute ist Bam streitlustig – und wer eignet sich wohl besser zum Zusammenstauchen als Zicken?
Sie trifft sie in dem Bereich des Bergwerks an, der mit dem Hinweis »Nur für Mädchen« gekennzeichnet ist. Dort können sie sich vor Zudringlichkeiten hormongesteuerter männlicher Mitglieder der Storchengemeinschaft zurückziehen, wenn sie das Flirten satt haben. Komisch eigentlich, in letzter Zeit haben sie gar nicht geflirtet.
»Starkey möchte, dass die Munition tiefer in die Stollen gebracht wird«, sagt Bam zu ihnen. »Ich habe euch drei dafür vorgesehen. Passt auf, dass ihr nicht in die Luft geht.«
»Warum sollen wir das machen?«, fragt Kate-Lynn. »Besorg dir doch ein paar Jungs dafür.«
»Nein. Heute seid ihr dran.«
»Ich soll keine schweren Sachen heben«, jammert Emmalee.
»Stimmt«, sagt Makayla. »Sollen wir alle nicht.«
»Wer sagt das?«
Sie sehen einander verstohlen an, keine will damit herausrücken. Schließlich schwingt sich Emmalee zur Sprecherin der Clique auf. »Na ja … Starkey sagt das.«
Dass Starkey den Zicken besondere Privilegien zugesteht, ärgert Bam erst recht. Aber sie ist schließlich seine Stellvertreterin und kann Privilegien auch nach Belieben wieder streichen.
»Jeder Storch leistet seinen Beitrag«, sagt Bam. »Setzt euren faulen Arsch in Bewegung und geht an die Arbeit.«
Makayla flüstert Kate-Lynn etwas ins Ohr, und Kate-Lynn wirft Emmalee eine Art telepathischen Blick zu. Diese schüttelt den Kopf und wendet sich wieder an Bam. Sie schenkt ihr ein falsches versöhnliches Lächeln.
»Wir haben wirklich eine Spezialerlaubnis direkt von Starkey«, sagt sie.
»Erlaubnis zum Nichtstun? Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Nichts zu tun und gut auf uns aufzupassen. Und aufeinander«, sagt Kate-Lynn.
»Genau«, plappert Makayla nach. »Auf uns und aufeinander.«
Bei jedem Wort, das aus ihrem Mund kommt, würde Bam ihnen am liebsten eine kleben. »Was soll das denn heißen?«
Die drei tauschen wieder einen telepathischen Blick. Dann sagt Emmalee: »Wir sollten wirklich nicht mit dir darüber reden.«
»Ach was. Hat Starkey das auch gesagt?«
»Eigentlich nicht.« Schließlich steht Emmalee auf und sieht Bam ins Gesicht. Sie spricht nun sehr langsam. »Wir sollen gut auf uns aufpassen … weil Starkey dafür gesorgt hat, dass wir nicht umgewandelt werden können.« Bam ist nicht dämlich. In der Schule hat sie zwar nicht viel mitbekommen, weil sie ständig angeeckt ist, aber in der Schule des Lebens hat sie schon immer schnell gelernt. Was sie soeben gehört hat, ist allerdings so weit von Bams Realität entfernt, dass sie es einfach nicht kapiert.
Nun stehen auch die anderen Zicken. Makayla legt Bam mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Neun Monate lang keine Umwandlung«, sagt sie. »Verstehst du jetzt?«
Die Erkenntnis trifft sie wie die Explosion einer Landmine. Sie stolpert sogar rückwärts gegen die Wand. »Ihr lügt! Das kann nicht wahr sein!«
Aber nun, da es heraus ist, tritt ein seltsam ekstatischer Blick in die Augen der drei. Sie sagen die Wahrheit! Mein Gott, sie sagen die Wahrheit!
»Er wird einmal ein großer Mann sein«, sagt Kate-Lynn. »Das ist er heute schon.«
»Wir sind alle Storche, aber seine Kinder werden es nicht sein«, sagt eine der anderen – Bam kann sie nicht mehr auseinanderhalten, für sie sind sie alle gleich. Drei quasselnde Köpfe auf einem einzigen Körper, wie eine schreckliche wunderschöne Hydra.
»Er hat versprochen, dass er sich um uns kümmern wird.«
»Um uns alle.«
»Er schwört es.«
»Du weißt ja nicht, wie das ist.«
»Du kannst nicht wissen, wie das ist.«
»Von ihm erwählt zu werden.«
»Von wahrer Größe berührt zu werden.«
»Deshalb können wir die Munition heute nicht tragen.«
»Oder morgen.«
»Oder an einem anderen Tag.«
»Tut uns leid, Bam.«
»Ja, tut uns so leid.«
»Wir hoffen, du verstehst das.«
Bam stürmt durch das Labyrinth der Stollen, auf der Suche nach Starkey. Sie verliert den Überblick, wo sie schon gewesen ist, denn ihre Gedanken und Gefühle sind dermaßen in Aufruhr, dass sie fürchtet, in die Luft zu gehen wie ein Klatscher.
Sie findet Starkey vor dem Computer, wo er Jeevan über die Schulter sieht und das nächste Ziel begutachtet. Doch in diesem Moment ist auf Bams Radar kein Platz für so etwas. Völlig außer Atem, nachdem sie durch das gesamte Bergwerk gerannt ist, brodeln ihre Gefühle so dicht an der Oberfläche, dass sie durchschimmern wie eine Ader unter der Haut. Sie hätte einfach tiefer in die Stollen rennen und noch ein wenig vor sich hin kochen sollen, bis ihre Wut und ihre Empörung abgeklungen sind, aber das ging einfach nicht.
»Wann wolltest du es mir sagen?«
Starkey betrachtet sie kurz, nimmt einen Schluck aus seiner Feldflasche und schickt Jeevan hinaus. Er sieht ihr an, was sie meint.
»Warum sollte dich das was angehen?«
»Ich bin deine Stellvertreterin. Du darfst keine Geheimnisse vor mir haben!«
»Es gibt einen Unterschied zwischen einem Geheimnis und Diskretion.«
»Diskretion? Sprich nach deinem kleinen Hattrick bloß nicht von Diskretion!«
»Was ich hier mache, ist gefährlich. Das sehe ich doch auch. Es kann immer etwas schiefgehen, aber falls ich nicht überlebe, will ich wenigstens etwas zurücklassen. Und ich musste sie ja nicht gerade zwingen.«
»Du zwingst nie jemanden, stimmt’s, Mason? Du hypnotisierst die Leute einfach. Du blendest sie. Und im Handumdrehen sind sie bereit, alles für dich zu tun.«
Da spricht Starkey etwas aus, was schon länger zwischen ihnen in der Luft liegt. Es ist das Letzte, was er in diesem Moment sagen dürfte.
»Du bist nur sauer, weil du nicht dabei bist.«
Bam schlägt so hart zu, dass er stolpert und fast auf den Computer knallt. Als er sich ihr mit wuterfüllten Augen stellt, ist sie bereit. Sie packt seine kaputte Hand und drückt zu. Brutal. Die Reaktion kommt sofort. Seine Beine geben nach, und er fällt auf die Knie. Bam drückt stärker zu.
»Lass … los …«, quietscht er. »Bitte … lass … los …«
Sie presst seine Hand noch einen Augenblick länger, dann gibt sie ihn frei, bereit für alles, was da kommen möge. Soll er sie doch auf den Boden werfen. Soll er ihr ins Gesicht spucken. Soll er sie schlagen und noch mal schlagen. Das wäre zumindest etwas. Das wäre zumindest Leidenschaft.
Statt es ihr heimzuzahlen, hält er sich nur die kaputte Hand, steht auf und schließt die Augen, bis der Schmerz nachlässt.
»Nach allem, was ich für dich getan habe«, sagt sie. »Nach allem, was ich für dich war, gibst du dich mit denen ab?«
»Bambi, bitte …«
»Nenn mich nicht so! Nenn mich nie wieder so!«
»Wenn du an deren Stelle wärst, könntest du nicht mit mir die Welt verändern, oder? Es wäre zu gefährlich!«
»Du hättest mir die Wahl lassen können!«
»Und dann? Wie könntest du meine Stellvertreterin sein, wenn zwischen uns so etwas liefe?«
Darauf hat Bam keine Antwort. Starkey weiß offenbar genau, dass er zu ihr durchgedrungen ist, denn er kommt einen Schritt näher. Seine Stimme wird freundlicher. »Weißt du denn nicht, wie viel du mir bedeutest, Bam? Was zwischen uns ist, werde ich mit diesen Mädchen nie haben.«
»Und was zwischen euch ist, werde ich nie haben.«
Er betrachtet sie. Abschätzend. Abwägend. »Willst du das denn, Bam? Würde dich das glücklich machen? Wirklich?« Dann tritt er noch näher an sie heran. Als er direkt vor ihr steht, wirkt er noch kleiner, als er wirklich ist.
Er reckt den Hals, um sie zu küssen, doch ihre Lippen sind zu weit weg. Statt sich die Demütigung anzutun, auf die Zehenspitzen zu gehen, zieht er ihren Kopf zu sich herunter. Der Kuss ist wie ein Zaubertrick. Er ist kunstvoll, er verdient Applaus, er ist alles, wovon Bam je geträumt hat – doch ohne jeden Zweifel ist er eben genau das, nur ein Trick. Und heute ist kein Publikum zum Applaudieren da.
»Es tut mir leid, dass ich dir weh getan habe, Bam. Du hast recht. Du verdienst Aufrichtigkeit.«
»Das war nicht aufrichtig, Mason.«
Er verzieht das Gesicht, halb Grinsen, halb Grimasse. »Das war das Aufrichtigste, was ich hinkriege.«
Bam wandert durch die Stollen. Sie fühlt sich völlig ausgelaugt und weiß nicht, wohin mit ihrer Wut auf Starkey. Oder mit ihren Gefühlen. Sie spürt eine Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem, das verlorengegangen ist. Wenn sie naiver wäre, würde sie es als Unschuld bezeichnen, aber unschuldig ist Bambi Ann Covalt schon lange nicht mehr.
Sie schlägt mit dem Kopf hart gegen einen Stein, der in dem niedrigen Gang aus der Decke ragt. Bis dahin hat sie nicht einmal gemerkt, wo sie hingeht.
»Du schon wieder?«, sagt Hayden, als er sie sieht. Diesmal belädt er einen Leiterwagen mit Lebensmitteln für das Abendessen.
Bam wendet sich an den Wachhabenden. »Geh und hol mir etwas zu trinken.«
Er sieht sie verwirrt an. »Aber Wasser und so ist doch alles hier.«
»Gut. Dann geh und hol mir Sushi.«
»Hä?«
»Bist du wirklich so dämlich? Mach die Biege, verdammt nochmal!«
»Ja, Miss Bam.« Im Davonrennen stolpert er fast über seine Waffe.
Hayden sieht sie amüsiert an. »Miss Bam. Klingt nach Kindergärtnerin. Hast du schon mal drüber nachgedacht, Erzieherin zu werden?«
»Ich mag keine Kinder.«
»Aber Erwachsene magst du auch nicht besonders. Oder die Altersstufen dazwischen.«
Sie weiß nicht, warum, aber in ihr steigen plötzlich Tränen hoch wie Galle. Sie schluckt sie hinunter, damit Hayden sie nicht zu sehen bekommt.
»Du blutest«, sagt Hayden. Als er besorgt einen Schritt auf sie zugeht, macht sie eine abwehrende Handbewegung.
»Mir fehlt nichts.« Sie fasst sich an den Kopf. An der Stelle, wo sie gegen den Fels geknallt ist, hat sie eine kleine Platzwunde. Das ist das geringste ihrer Probleme. Sie kann sie sich ja von der Sanitäterin mit Zahnseide nähen lassen. »Wir müssen reden.«
»Worüber?«
Sie schaut sich um, ob die Wache nicht etwa zurückgekommen ist, aber sie sind allein. »Ich habe dir versprochen, dass ich dir mein Ohr leihe. Du kannst es haben. Jetzt.«