28. Risa
»Machen Sie die Augen zu«, sagt Risa. »Sonst bekommen Sie Shampoo rein.«
Die Frau legt den Kopf zurück, ihr Zwergspitz sitzt auf ihrem Schoß. »Prüfen Sie das Wasser. Ich mag es nicht, wenn es zu heiß ist.«
Heute ist Risas vierter Tag in Audreys Salon. Jeden Tag sagt sie sich, dass sie weggeht, und dann bleibt sie doch.
»Und nehmen Sie auch auf jeden Fall das Shampoo für trockenes Haar«, verlangt die Frau. »Aber nicht das für sehr trockenes Haar, sondern das für normales bis trockenes Haar.«
Das liegt alles nur an ihrem ersten Abend. Audrey hatte die Nacht zusammen mit Risa im Salon verbracht, weil »ein Mädchen nach so was nicht allein sein sollte«. Was, wie sie annimmt, für Mädchen gilt, die den Luxus haben, nicht allein zu sein. Risa hat diesen Luxus nur selten und freute sich umso mehr über die Gesellschaft. Offenbar hatte der Angriff sie sehr viel tiefer berührt, als sie gedacht hatte, denn sie wurde die ganze Nacht von Albträumen heimgesucht. Erinnern kann sie sich aber nur an den wiederkehrenden Traum von den zahllosen bleichen Gesichtern, die sich über sie beugen, und das Gefühl, dass sie ihnen nicht entkommen kann. In dieser Nacht konnte es nicht schnell genug Tag werden.
»Sie sind nicht das übliche Shampooniermädchen, nicht wahr? Ich bin mir sicher, denn die andere hatte abscheulichen Mundgeruch.«
»Ich bin neu. Bitte halten Sie die Augen geschlossen, während ich Sie shampooniere.«
Bisher hatte Risa sich für Audreys Freundlichkeit revanchiert, indem sie das Lager aufräumte. Aber als sich heute eine Friseurin krankmeldete, bat Audrey sie, am Shampoonierbecken in einer Nische hinten im Salon zu arbeiten.
»Und wenn mich jemand erkennt?«
»Ich bitte dich!«, hatte Audrey gesagt. »Du hast einen total neuen Look. Außerdem haben diese Frauen nur Augen für ihr Spiegelbild.«
Und das stimmte. Aber reichen Frauen die Haare zu waschen, ist nicht gerade Risas Lieblingsjob. Es ist noch undankbarer, als auf dem Friedhof Erste Hilfe zu leisten.
»Ich möchte an der Spülung riechen. Mag ich nicht. Holen Sie eine andere.«
Heute Abend ist Schluss, denkt Risa. Aber der Abend kommt, und wieder bleibt sie. Sie ist sich nicht ganz sicher, ob ihre Trägheit ein Problem oder ein Segen ist. Auch wenn sie kein bestimmtes Ziel hatte, bevor sie hier ankam, hatte sie doch immer eine Richtung gehabt. Die änderte sich zwar von Tag zu Tag, je nachdem in welcher Richtung das Überleben am wahrscheinlichsten war, aber wenigstens bewegte sie sich. Jetzt ist ihr der Schwung ausgegangen. Wohin soll sie, wenn sie hier weggeht? An einen Ort, der noch sicherer ist? Sie zweifelt daran, dass es einen solchen Ort gibt.
Als Audrey an diesem Abend den Laden zuschließt, hat sie eine ganz besondere Belohnung für Risa.
»Wie ich sehe, sind deine Nägel in einem ziemlich schlechten Zustand. Ich möchte dir eine Maniküre verpassen.«
Risa muss lachen. »Bin ich jetzt deine Barbiepuppe?«
»Ich führe einen Schönheitssalon«, sagt Audrey. »Das gehört einfach dazu.« Dann macht sie etwas sehr Merkwürdiges. Sie nähert sich Risa mit einer Schere, schneidet an einer unauffälligen Stelle eine Haarsträhne ab und schiebt sie in eine kleine Maschine, die wie ein elektrischer Spitzer aussieht. »Hast du so was schon mal gesehen?«
»Was ist das?«
»Eine elektronische Nagelmaschine. Haare und Nägel bestehen im Prinzip aus denselben Bausteinen. Diese Maschine spaltet die Haare auf und bringt sie dann in dünnen Schichten auf deine Nägel auf. Leg einen Finger hier rein.« Das Loch hat, wie Risa jetzt erkennt, nicht die Größe eines Bleistifts, sondern ist groß genug für die Fingerkuppe einer Frau. Sie zögert, denn den Finger in ein dunkles Loch zu stecken, läuft jedem Instinkt zuwider, aber schließlich fügt sie sich, und Audrey stellt die Maschine an. Ein oder zwei Minuten lang brummt, vibriert und kitzelt es, und als Risa ihren Finger herauszieht, ist der Nagel, der uneben und eingerissen gewesen war, wieder glatt und perfekt geformt.
»Ich habe die kürzeste Länge eingestellt«, erklärt Audrey. »Irgendwie kann ich mir dich mit langen Nägeln nicht vorstellen.«
»Ich auch nicht.«
Risa nimmt die Prozedur für alle zehn Nägel auf sich. Es dauert fast eine Stunde.
»Nicht sehr effizient, was?«
»Nein. Man möchte meinen, sie würden eine Maschine bauen, in die man die ganze Hand stecken kann, tun sie aber nicht. Hat irgendwas mit Begrenzungen des Patents zu tun. Egal, ich nehm sie nur, wenn jemand Geduld hat und das Ding wirklich zu schätzen weiß.«
»Dann ist es nicht oft im Einsatz, oder?«
»Nö.«
Audrey ist wahrscheinlich ungefähr so alt wie ihre leibliche Mutter, wer immer sie sein mag. Risa überlegt, ob eine Mutter-Tochter-Beziehung vielleicht so ähnlich wäre wie ihre Beziehung zu Audrey. Sie kann das nicht beurteilen. Alle Kinder, mit denen sie zusammen aufwuchs, waren elternlos, und nachdem sie das staatliche Waisenhaus verlassen hatte, kannte sie nur Jugendliche, die von ihren Eltern im Stich gelassen worden waren.
Audrey verabschiedet sich für die Nacht, und Risa zieht sich in ihre komfortable Schlafnische zurück, die sie sich im Lagerraum eingerichtet hat, komplett mit Schlafsack und Daunendecke, die Audrey zur Verfügung gestellt hatte. Audrey hatte ihr auch das Klappbett in ihrer Wohnung angeboten, und sogar die Stylisten, die ebenso liebenswürdig sind wie Audrey, wollten sie bei sich beherbergen, aber das Maß an Gastfreundschaft, das Risa annehmen kann, ist begrenzt.
In dieser Nacht träumt sie wieder von der kalten, teilnahmslosen Menge. Sie spielt auf einem hoffnungslos verstimmten Klavier viel zu schnell eine Etüde von Bach, und direkt vor ihr sind die zahllosen, drohend näher rückenden Gesichter aufgereiht, stapeln sich wie Regale voller Trophäen. Leichenblass. Körperlos. Am Leben und doch nicht im Leben. Sie öffnen ihre Münder, aber sie sprechen nicht. Sie wollen nach ihr greifen, aber sie haben keine Hände. Risa kann nicht sagen, ob sie ihr Böses wollen, aber sie sind ihr gewiss nicht wohlgesinnt. Ihr Verlangen ist fast mit Händen greifbar, und der schlimmste Schrecken des Traumes besteht darin, nicht zu wissen, was sie so verzweifelt von ihr wollen.
Als sie sich aus dem Traum herausreißt, trommeln ihre Finger mit den neuen Nägeln auf die Decke, als würde sie sich immer noch an der Etüde versuchen. Sie muss das Licht einschalten und es den Rest der Nacht brennen lassen. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie immer noch die Gesichter wie Nachbilder auf ihrer Netzhaut. Kann man das Nachbild eines Traums haben? Sie hat nämlich das Gefühl, dass sie diese Gesichter schon zuvor gesehen hat, und zwar nicht nur im Traum. Es ist etwas Reales, etwas Greifbares an ihnen, das sie nicht einordnen kann. Was immer es ist, sie hofft, dass sie es niemals wiedersieht – dass sie sie niemals wiedersieht.
Am nächsten Morgen, nur fünf Minuten nach Öffnung des Salons, treten zwei JuPos ein. Risa bleibt fast das Herz stehen. Audrey ist schon da, aber keiner der Stylisten. Risa weiß, dass es nicht gut ankommen würde, wenn sie auf dem Absatz kehrtmachte und wegliefe. Deshalb lässt sie ihre Haare ins Gesicht fallen und wendet den JuPos den Rücken zu, während sie so tut, als würde sie eine der Frisierstationen mit Material auffüllen.
»Habt ihr auf?«, will einer der beiden wissen.
»Das kommt drauf an«, antwortet Audrey. »Was kann ich für Sie tun, Officer?«
»Meine Partnerin hat Geburtstag. Ich spendiere ihr eine Verschönerung.«
Jetzt riskiert Risa einen Blick. Einer der JuPos ist eine Frau. Aber keiner von beiden beachtet sie.
»Vielleicht könnten Sie noch mal kommen, wenn meine Stylisten da sind.«
Er schüttelt den Kopf. »Die Schicht fängt in einer Stunde an. Muss jetzt passieren.«
»Alles klar, dann müssen wir wohl.« Audrey kommt zu Risa herüber und sagt in gedämpftem Ton: »Hier ist ein bisschen Geld. Hol uns Donuts. Geh zum Hinterausgang raus und komm erst wieder zurück, wenn sie weg sind.«
»Nein.« Erst als das Wort raus ist, merkt Risa, dass sie es aussprechen will. »Ich übernehme das Shampoonieren.«
Die JuPo hat keinen Hund auf dem Schoß, aber sie ist gereizt: »Ich stehe nicht auf schrill oder so«, sagt sie. »Einfach ganz normal.«
»Kein Problem.« Risa legt ihr einen Umhang um und drückt die Rückenlehne zum Waschbecken hinunter. Dann stellt sie das Wasser an und vergewissert sich, dass es schön heiß ist.
»Ich möchte Ihnen persönlich danken«, sagt Risa. »Weil Sie die Straßen sicher machen vor all diesen bösen Jungen und Mädchen.«
»Sicher und sauber«, sagt die Jugendpolizistin. »Sicher und sauber.«
Risa wirft einen Blick hinaus in den Wartebereich, wo der Partner der Polizistin offensichtlich eine Zeitschrift liest. Audrey späht nervös zu Risa herüber und fragt sich, was sie im Schilde führt. Mit dieser Frau vor sich, die den Kopf nach hinten legt und ihr damit vollkommen ausgeliefert ist, fühlt sich Risa wie der teuflische Barbier aus Omaha: bereit, ihr die Kehle durchzuschneiden und sie in Einzelteilen in Pies einzubacken. Aber stattdessen träufelt sie ihr nur Shampoo in die Winkel der geschlossenen Augen.
»Au! Das brennt.«
»O, ’tschuldigung. Lassen Sie die Augen einfach zu. Dann ist alles okay.«
Risa spült die Haare mit so heißem Wasser aus, dass sie es selbst kaum aushält, aber die Frau beschwert sich nicht.
»Gestern einen flüchtigen Wandler gefangen?«
»Ja, in der Tat. Normalerweise gehen wir nur Streife bei der Haftanstalt. Gestern ist in unserer Schicht ein Junge geflohen, der für die Umwandlung vorgesehen war. Aber wir haben ihn gestoppt. Haben ihn aus knapp fünfzig Metern Entfernung betäubt.«
»Meine Güte, das muss … aufregend gewesen sein.« Risa kann gerade noch an sich halten, sie nicht zu würgen. Stattdessen entscheidet sie sich für eine konzentrierte Bleiche, die sie ihr unregelmäßig in das dunkle Haar reibt, nachdem sie das Shampoo ausgespült hat. In diesem Augenblick greift Audrey ein, allerdings zu spät, um sie noch zu stoppen.
»Darlene! Was machst du da?« Darlene ist Risas Salon-Pseudonym. Nicht ihre Wahl, aber er funktioniert.
»Nichts«, sagt sie unschuldig. »Nur ein bisschen Spülung.«
»Das war keine Spülung.«
»Ups.«
Die Polizistin will die Augen öffnen, aber sie brennen immer noch zu sehr. »Ups? Was heißt hier ups?«
»Nichts«, beruhigt Audrey sie. »Am besten, ich übernehme jetzt.«
Risa zieht die Gummihandschuhe von ihren Händen und wirft sie in den Müll. »Ich geh dann mal die Donuts holen.« Als die Frau sich darüber beklagt, dass ihre Kopfhaut brennt, ist sie schon aus der Tür.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
Risa versucht gar nicht erst, sich Audrey gegenüber zu rechtfertigen, und sie weiß, dass Audrey das eigentlich auch gar nicht erwartet. Aber es ist eine mütterliche Frage, die Risa viel bedeutet.
»Ich habe mir gedacht, dass es Zeit für mich wird, zu gehen.«
»Das musst du nicht«, sagt Audrey. »Vergiss diesen Morgen. Wir tun so, als wäre nichts geschehen.«
»Nein!« Es wäre für Risa so leicht, das zu tun. Aber dass sie einer Jugendpolizistin so nahe war und gehört hat, was sie zu sagen hatte – ihre offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal eines flüchtigen Wandlers, den sie gestoppt haben –, all das hat Risa aus diesem lokalen Kehrwasser gerissen und ihr wieder ein Ziel gegeben. »Ich muss die Überreste der AUF finden und alles tun, was in meiner Macht steht, um Jugendliche vor solchen Polizisten zu retten, wie wir sie heute Morgen gesehen haben.«
Audrey seufzt und nickt widerstrebend. Sie kennt Risa inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie nicht davon abzubringen sein wird.
Inzwischen versteht Risa ihren wiederkehrenden Albtraum von den körperlosen Gesichtern. Es sind die Gesichter der Wandler, die sie verfolgen, die für immer von allem getrennt sind, was sie waren, und die verzweifelt flehend über ihr schweben und sie bitten, wenigstens dafür zu sorgen, dass ihre Zahl nicht wächst, wenn sie sie schon nicht rächen kann. Zu lange ist sie gleichgültig gewesen. Sie kann ihr Flehen nicht mehr ignorieren. Die bloße Tatsache, dass sie lebt, dass sie überlebt hat, verpflichtet sie, ihnen zu Diensten zu sein. Und einer JuPo böswillig die Frisur zu ruinieren, ist zwar befriedigend für sie selbst, trägt aber nichts dazu bei, jemanden vor der Umwandlung zu bewahren. Ihr Platz ist nicht in Audreys Salon.
An diesem Nachmittag verabschiedet Risa sich. Audrey besteht darauf, sie mit Proviant und Geld und einem robusten neuen Rucksack ohne Herzchen oder Pandas auszustatten.
»Ich schätze mal, ich kann’s dir auch jetzt sagen«, sagt Audrey, kurz bevor sie geht.
»Was denn?«
»Was gerade in den Nachrichten kam: Dein Freund Connor ist noch am Leben.«
Das ist die beste Nachricht, die Risa seit langem gehört hat … Aber dann wird ihr klar, dass diese Nachricht überhaupt nicht gut ist. Wenn die Jugendbehörde weiß, dass er lebt, wird sie intensiv nach ihm suchen.
»Haben sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«, fragt Risa.
Audrey schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Sie glauben sogar, dass er bei dir ist.«
Wenn das nur stimmen würde. Aber selbst wenn Connor in ihren Träumen erscheint, ist er nicht bei ihr. Er rennt. Er rennt immer.