45. Hayden

Kollaboration mit dem Feind. So lautet das Vergehen, dessen Hayden im Gerichtshof der öffentlichen Meinung schuldig gesprochen wurde, ohne dass ihm der Prozess gemacht oder auch nur ein einziger Beweis vorgebracht worden wäre. In den Augen der Jugendlichen im Cold Springs Ernte-Camp ist er zu hundert Prozent schuldig, ungeachtet der Tatsache, dass er zu hundert Prozent unschuldig ist. Er hat Menard oder der Jugendbehörde nie auch nur den Hauch einer Information gegeben. Sein einziger Trost ist es, dass nur die Kids von Cold Springs ihn hassen. Für den Rest der Welt ist er immer noch der Hayden, der das Yolo-Manifest verfasste und zu einem zweiten Jugendaufstand aufrief, als er auf dem Friedhof gefangen genommen wurde. Wenigstens dieses eine Mal taten ihm die Medien einen Gefallen, als sie das sendeten.

Hayden kann nicht behaupten, dass er über Menards Tod unglücklich ist. Der Mann hat ihm sein luxuriöses Gefängnis zu einer wahren Hölle gemacht, und Hayden hätte ihn wohl selbst umgebracht, wenn er es gekonnt hätte. Die Art seines Todes jedoch, die von Starkey diktatorisch befohlene kaltblütige Exekution, war nicht in Ordnung. Das war keine Gerechtigkeit, sondern reine Grausamkeit. Hayden ist bestimmt nicht der Einzige, der diese Gedanken hegt, doch er kann sie nicht laut äußern, solange die Überlebenden von Cold Springs glauben, dass er sie an die JuPos verraten hat.

Mit der großzügigen Erlaubnis von Starkey, dem Herrn der Storche, hat Hayden Zugang zum Computer erhalten, damit er Jeevan helfen kann, das nächste Ziel auszumachen. Er will die Befreiung des Ernte-Camps so planen, dass nicht allzu viele Kids auf der Strecke bleiben.

Der »Computerraum« ist eine Art Rumpelkammer in der Nähe des Bergwerkseingangs, vollgestopft mit verrosteten Werkzeugen, einem riesigen Ventilator und Röhren, die eigentlich frische Luft in die Tiefen des Bergwerks bringen sollten. Da sie weit von jeder Zivilisation entfernt sind, hat Jeevan eine Satellitenschüssel, die neben dem Eingang der Mine im Gebüsch steckte, umgebaut und einen ahnungslosen Satelliten angezapft, der sie nun mit dem Internet verbindet.

Jetzt arbeitet Hayden also für Starkey. Zum ersten Mal hat er wirklich das Gefühl, mit dem Feind zu kollaborieren.

»Falls es dir hilft: Ich glaube nicht, was die Kids über dich sagen«, erklärt Jeevan, der hinter ihm sitzt und ihm über die Schulter sieht, während Hayden diverse Firewalls aus dem Weg schafft. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du der Jugendbehörde helfen würdest.«

Hayden sieht nicht vom Monitor auf. »Hilft mir das? Ich vermute, nicht besonders, wenn es von jemandem kommt, der Connor betrogen und Hunderte von Yolos den JuPos ausgeliefert hat.«

Jeevan schluckt mit einem hörbaren Klicken seines Adamsapfels. »Starkey sagt, das wäre sowieso passiert. Wenn wir nicht weggeflogen wären, hätte man uns auch geschnappt.«

Hayden würde gern widersprechen, doch er hat hier nicht viele Freunde. Da er es sich nicht leisten kann, die wenigen vor den Kopf zu stoßen, zwingt er sich, Jeevan anzusehen und einen einigermaßen glaubwürdigen Tonfall anzuschlagen.

»Es tut mir leid, Jeeves. Was passiert ist, ist passiert. Es war nicht deine Schuld.«

Jeevan ist sichtlich erleichtert über Haydens versöhnliche Geste. Bis heute ist Hayden für ihn so etwas wie ein vorgesetzter Offizier. Hayden darf diesen Respekt nicht verlieren.

»Es heißt, er ist am Leben«, sagt Jeevan. »Connor, meine ich. Eine Zeit lang dachten sie sogar, er wäre bei uns.«

»Tja, ich glaube, es ist das vierte seiner sieben Leben, da hat er noch ein paar übrig.«

Jeevan machen seine Worte völlig ratlos, und Hayden muss lachen. »Grüble nicht drüber nach, Jeeves. Das ist es nicht wert.«

»O!« Endlich geht Jeevan ein Licht auf. »Jetzt kapier ich’s: wie eine Katze!«

Es sind nun zwei Wachleute auf Hayden angesetzt, dazu kommt Jeevan. Eine Wache soll dafür sorgen, dass er nicht von wütenden Kids aus Cold Springs überfallen wird, die es ihm heimzahlen wollen. Die zweite Wache soll verhindern, dass er abhaut, da der Computerraum so nah am Haupteingang ist. Jeevans Aufgabe ist es, auszuspionieren, was Hayden online so treibt. Vertrauen hat in Starkeys Welt keinen Platz.

»Du landest immer wieder bei dem einen Ernte-Camp«, merkt Jeevan an.

»Bisher hat es das größte Potential.«

Jeevan deutet auf das Satellitenbild auf dem Bildschirm. »Aber schau mal, die vielen Wachtürme am Haupttor.«

»Genau. Die Sicherheitsvorkehrungen sind alle nach außen gerichtet.«

»Ahhh.«

Jeevan versteht nicht, was er meint, aber das macht nichts. Das kommt schon noch.

»Tad ist übrigens tot.«

Hayden hat das eigentlich nicht sagen wollen. Er hat nicht nachgedacht. Vielleicht wurde die Erinnerung durch die Hitze im Computerraum geweckt, die ihm den letzten schrecklichen Tag im ComBom ins Gedächtnis ruft. Der Tag, an dem Hayden und sein Technikteam gestorben wären, wenn er nicht die Cockpitscheibe des Flugzeugs zerschossen hätte. Wenn er schlecht drauf ist, glaubt er immer noch, dass es ein Fehler war. Dass er den Wunsch der anderen hätte respektieren und sie sterben lassen sollen, statt sich festnehmen zu lassen.

»Tad ist tot?« Jeevans entsetzter Gesichtsausdruck wirkt auf Hayden zugleich befriedigend und beunruhigend.

»Er ist im ComBom verbrannt. Aber keine Sorge. Das ist auch nicht Starkeys Schuld.« Hayden bezweifelt, dass Jeevan den Sarkasmus heraushört, nimmt er doch alles wörtlich wie einen Computercode. Vielleicht ist es am besten so.

»Ich habe Trace gar nicht gesehen. Er hat doch das Flugzeug geflogen, oder?«

Jeevan blickt betreten zu Boden. »Trace ist auch tot. Er hat den Absturz nicht überlebt.«

»Ja, das dachte ich mir schon«, sagt Hayden. Ob Trace bei dem Absturz oder durch menschliches Eingreifen ums Leben kam, wird Hayden wohl nie erfahren. Die Wahrheit ist mit Trace gestorben. Spurlos verschwunden sozusagen.

Hayden hört vom steil ansteigenden Stollen aus dem Innern des Bergwerks Schritte. Die unterwürfige Art, in der die Wache zur Seite tritt, sagt Hayden, wer der Besucher ist, ehe er ihn sehen kann.

»Wenn man vom Teufel spricht! Wir haben gerade über dich geredet, Starkey. Jeevan und ich haben uns an deine magischen Tricks erinnert. Vor allem den einen, als du ein Verkehrsflugzeug hast verschwinden lassen.«

»Es ist nicht verschwunden.« Starkey lässt sich nicht reizen. »Es liegt auf dem Grund des Saltonsees.«

»Er hat dich auch gar nicht als Teufel bezeichnet«, erklärt Jeevan. Er nimmt wirklich alles wörtlich.

»Wir haben einen gemeinsamen Feind«, erklärt Starkey, »nämlich die Teufel da draußen. Es ist höchste Zeit, dass sie bekommen, was sie verdienen.«

Mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung verscheucht Starkey Jeevan von seinem Sitz. Er nimmt seinen Platz ein und studiert das Bild auf dem Monitor.

»Ist das ein Ernte-Camp?«

»MoonCrater Ernte-Camp, um genau zu sein. Craters of the Moon in Idaho.«

»Was ist damit?«, fragt Starkey.

»Die Sicherheitsvorkehrungen sind alle nach außen gerichtet!«, platzt Jeevan heraus, als wüsste er, was das zu bedeuten hat.

»Genau«, sagt Hayden. »Aber im Hinterkopf haben sie keine Augen.«

Starkey verschränkt die Arme, um deutlich zu machen, dass er nicht den ganzen Tag Zeit hat. »Und warum sollte das wichtig sein?«

»Darum.« Hayden zieht ein anderes Bild auf den Monitor, das den Grundriss zeigt, und ein drittes, auf dem die geologischen Gegebenheiten zu sehen sind. »Der Craters-of-the-Moon-Nationalpark ist ein Lavafeld, das von Höhlen durchlöchert ist, und sämtliche Rohrleitungen des Lagers verlaufen durch diese Höhlen. Elektrizität, Abwasser, Belüftung, einfach alles.« Hayden zoomt einen Grundriss des größten Schlafsaals im Camp heran. »Wenn wir am Haupttor mitten in der Nacht ein Täuschungsmanöver starten – ein bisschen Zirkus sozusagen –, dann können wir damit ihre ganze Aufmerksamkeit bündeln. Während die Sicherheitskräfte am Tor beschäftigt sind, gehen wir im Keller hier durch die Versorgungstür hinein, bringen die Kids in die Höhlen und von dort zu einem Ausgang, der fast eineinhalb Kilometer weit weg ist.«

Starkey ist schwer beeindruckt. »Und bis die merken, dass ihre Wandler weg sind, sind wir schon über alle Berge.«

»Das wäre der Plan. Und niemand kommt zu Schaden.«

Starkey klopft Hayden auf den Rücken, dass es weh tut. »Das ist genial, Hayden! Genial!«

»Ich hab mir schon gedacht, dass dir die Variante mit dem ›Wegzaubern‹ gefallen würde.« Hayden tippt auf den Bildschirm, verändert die Ansicht des Grundrisses und zeigt Starkey die verschiedenen Ebenen der Schlafsäle. »Die Jungs sind im Erdgeschoss, die Mädchen im ersten Stock und die Angestellten im zweiten. Es gibt nur zwei Treppenhäuser. Wenn wir die bewachen und jeden betäuben, der kommt, könnten wir theoretisch rein und raus, ohne dass jemand merkt, was los ist.«

»Wann kann’s losgehen?«

In Starkeys Augen steht eine Gier, die Hayden dazu veranlasst, die Fenster auf dem Monitor zu schließen, damit sie nicht gleich mit der Planung weitermachen können. »Na ja, nach Cold Springs dachte ich, du bleibst vielleicht lieber eine Weile unsichtbar.«

»Auf keinen Fall«, sagt Starkey. »Wir sollten zuschlagen, solange das Eisen heiß ist. Links-Rechts-Kombination. Du planst die Flucht. Ich kümmere mich um das Ablenkungsmanöver. Ich will, dass wir das in weniger als einer Woche durchziehen.«

Hayden schüttelt es bei dem Gedanken, dass seine Idee so schnell Realität werden soll. »Ich glaube wirklich nicht …«

»Vertrau mir. Wenn du dein Ansehen bei den Kids aufmöbeln willst, dann geht es so am besten, mein Freund.« Starkey steht auf. Er scheint fest entschlossen. »Kümmere dich darum, Hayden. Ich zähle auf dich.«

Und Starkey geht, ehe Hayden weitere Einwände vorbringen kann.

Als Starkey weg ist, setzt sich Jeevan wieder neben ihn. »Er hat dich ›mein Freund‹ genannt«, sagt er. »Das ist echt gut!«

»Ja«, sagt Hayden. »Reißt mich glatt vom Hocker.« Wie Hayden es sich gedacht hat, überhört Jeevan den Spott.

Sie hätten einen gemeinsamen Feind, hat Starkey gesagt. Dann ist also der Feind meines Feindes mein Freund?, fragt sich Hayden. Irgendwie stimmt der alte Spruch nicht mehr, wenn dieser Freund Mason Starkey ist.

 

Sechs Tage später schlägt die Storchenbrigade im MoonCrater Ernte-Camp zu. Hayden und sein Team, das fast ausschließlich aus Kids vom Friedhof besteht, erkunden zwei Tage im Voraus die Höhlen. Als es dann so weit ist, kommandiert Starkey auf Grundlage der Informationen, die sie gesammelt haben, seine Armee, ordnet aber an, dass auch Hayden und sein Team dabei sind. Sie passieren die mit Gasfackeln erleuchteten zerklüfteten Lavatunnel und erreichen um 1:30 Uhr nachts das Rohrsystem und die Stromleitungen, denen sie bis zur Kellertür folgen. Da sie von innen abgeschlossen ist, warten sie.

Dann, um 2:00 Uhr, bricht ein mit Munition beladener brennender Laster durch das Haupttor des Ernte-Camps. Aus der vulkanischen Einöde dahinter sind Gewehrschüsse zu hören. Bam hat die Leitung des Ablenkungsmanövers übernommen, eine Aufgabe, um die Hayden sie nicht beneidet. Sie weiß genau, was sie zu tun hat: Sie und ihr Storchenteam müssen dafür sorgen, dass es wie ein echter Überfall aussieht und der Kampf mindestens zwanzig Minuten dauert.

Als draußen die Schießerei losgeht, beginnt drinnen die Operation.

»Sprengt die Tür auf«, befiehlt Starkey seinem Pyromanen-Sprengtrupp. »Schnell!«

»Nein«, sagt Hayden. »Noch nicht.« Hayden weiß, dass das Gebäude über ihnen automatisch von innen abgeriegelt wird, eine Sicherheitsmaßnahme, die sie sich zunutze machen können. An den Fenstern werden Stahlrollos heruntergelassen, Brandtüren werden verschlossen. Im Wohnbereich kann niemand hinein oder hinaus, bis das Sicherheitssystem zurückgesetzt wird.

Hayden zählt bis zehn. »Okay, jetzt!«

Die Tür explodiert, und nur mit Betäubungspistolen bewaffnet, steigen sie einer nach dem anderen durch das Loch.

Die Wandler in den Schlafsälen, die von den Explosionen und der Schießerei draußen bereits geweckt worden sind, haben sich auf Tod oder Rettung eingestellt. Heute wird es Letzteres sein.

Auf der Treppe ins Erdgeschoss, das aus einem großen Raum mit mehreren Bettenreihen besteht, betäubt das Rettungsteam einen Wachmann und eine Ernte-Betreuerin. Der Schlafsaal ist schwach beleuchtet, nur die Notlichter brennen und lassen die Schatten der Kopfenden wie Grabsteine aussehen. Der Schlachtlärm draußen wird von den Stahlrollos gedämpft. Niemand kann hinaussehen – also kann auch niemand hineinsehen. Da sich die gesamte Aufmerksamkeit des Camps auf den Scheinangriff am Haupttor richtet, ist das Rettungsteam praktisch unsichtbar.

Starkey verschwendet keine Zeit. »Ihr seid soeben befreit worden«, verkündet er. Das Pfffft der Betäubungswaffen kündet davon, dass Starkeys Spezialteam, lauter gute Schützen, weitere Angestellte unschädlich macht. »Alle in den Keller. Nehmt nichts mit bis auf Schuhe und eine Garnitur Kleider. Schnell, schnell!«

Dann geht er nach oben, verkündet die Befreiung der Mädchen und überlässt es Hayden und seinem Team, die Jugendlichen nach unten zu bringen. In zehn Minuten gelangen fast dreihundert Kids in die Höhlen. Nur die Zehntopfer, die in einem anderen Gebäude untergebracht und von Natur aus befreiungsresistent sind, werden zurückgelassen.

Hayden und seine Leute eilen mit den befreiten Wandlern durch die Lavahöhlen zum Ausgang, wo auf einem abgelegenen Weg vier dunkle Lastwagen warten, die für die Aktion »ausgeliehen« wurden und alle Wandler wegbringen sollen.

Als sie aus den Höhlen kommen, tobt am Haupttor noch die Schießerei, die jedoch von hier aus wie eine Schlacht in großer Ferne klingt. Während die Jugendlichen rasch in die Lastwagen verfrachtet werden, kommt Hayden der verwegene Gedanke, dass er vielleicht, nur vielleicht, Starkeys Guerillakrieg einen Sinn verleihen kann. Es könnte sein, dass der Weg, der vor ihnen liegt, doch nicht so düster ist.

Er hat ja keine Ahnung, dass Starkey, der nirgends zu sehen ist, soeben einen neuen Weg zur Hölle pflastert.