9. Lev
Es ist nur eine Ahnung, und wenn er falsch liegt, macht er die Sache nur noch schlimmer. Aber er handelt blöderweise aus seinem Bauchgefühl heraus, und das muss einfach richtig sein. Wenn es nämlich nicht richtig ist, dann ist Connor erledigt.
Eine ganze Reihe von Beobachtungen sprechen für seine Ahnung:
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Die Tatsache, dass der Polizist von hinten um das Haus herumkommt, statt die Vordertür zu benutzen.
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Die Tatsache, dass er den anderen offenbar bewusst aus dem Weg geht.
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Die Tatsache, dass er den Hut tief in die Stirn gezogen hat, so dass er sein Gesicht wie ein Sombrero bedeckt.
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Die lockere Art, wie er den Arm der Frau hält, die er in Verwahrung genommen hat. Es ist dieselbe, die Lev die Nachricht überbracht hat. Der Polizist geleitet sie zu einem Streifenwagen am Straßenrand. Auch ihr Verhalten ist ungewöhnlich. Sie leistet keinen Widerstand, sondern will anscheinend rasch zum Wagen.
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Und dann ist da noch die Art und Weise, wie der Polizist geht: Einen Arm hält er ganz steif an den Körper gepresst, als ob er Schmerzen hätte. Vielleicht von einer Wunde in der Brust …
Die beiden steigen in den Streifenwagen ein und fahren weg, und obwohl Lev das Gesicht des Polizisten nicht direkt sehen kann, funkt die Vorahnung sein Gehirn auf allen Frequenzen an. Erst als das Einsatzfahrzeug weggefahren ist, weiß Lev sicher, dass es Connor in einer Verkleidung gewesen ist, der direkt vor der Nase der Polizei eine clevere Flucht bewerkstelligt hat.
Der Wagen muss am Ende der Straße nach rechts auf die Hauptstraße abbiegen. Jetzt ist Lev dankbar, dass er fast den ganzen Tag damit zugebracht hat, die Stadt zu erkunden, denn er weiß Dinge, die er sonst nicht wüsste. Zum Beispiel, dass auf der Hauptstraße gebaut und der Verkehr zwei Blocks weiter die Cypress Street hinunter umgeleitet wird. Wenn Lev den Weg durch die Gärten abkürzt, könnte er vor ihnen dort sein. Er startet in dem Bewusstsein, dass er nur Sekunden schneller ist. Wenn er es überhaupt schafft.
Die ersten Gärten sind nicht umzäunt. Nichts trennt ein Grundstück vom andern. Nur der Zustand des Rasens ist unterschiedlich, im einen Garten sehr gepflegt, im nächsten vernachlässigt. Er stürmt über eine angrenzende Straße. Der Vorgarten des nächsten Hauses ist von einem Lattenzaun umgeben, aber der ist niedrig, und Lev hat ihn rasch überwunden. Er landet auf einem Kunstrasen, der merkwürdig aquamarinblau schimmert.
»He, was soll das?«, ruft ein Mann von der Veranda, dessen Toupet ebenso künstlich ist wie sein Rasen. »Das ist Privatbesitz!«
Lev beachtet ihn nicht und rennt neben dem Haus entlang nach hinten, wo er auf sein einziges größeres Hindernis stößt: einen zwei Meter hohen Holzzaun. Als Lev hinaufklettert, fängt auf der anderen Seite des Zauns ein Hund an zu bellen. Und Lev hört, das er nicht klein ist.
Darüber darf ich jetzt nicht nachdenken. Er kommt oben an und lässt sich so dicht vor einem riesigen Deutschen-Schäferhund-Mischling auf den Boden fallen, dass der Hund total perplex ist. Er bellt sich zwar die Seele aus dem Leib, aber sein kurzes Zögern verschafft Lev einen Vorteil. Wie der Blitz rennt er um das Haus herum und durch ein leicht zu öffnendes Tor in einen Vorgarten, in dem sich der Besitzer für pflegeleichte Flusssteine statt für Rasen entschieden hat. Lev hat die Cypress Street erreicht, wo mehr Verkehr herrscht als üblicherweise, wenn die Hauptstraße nicht wegen Bauarbeiten gesperrt ist. Der Polizeiwagen rast die Straße herab in seine Richtung. Das letzte Hindernis ist eine dichte Hecke, gerade hoch genug, um ein Problem darzustellen. Wie blöd, wenn er jetzt wegen einem lausigen Busch angeschissen wäre. Also macht er einen Satz über die Hecke, aber er ist so vollgepumpt mit Adrenalin, dass er zu viel Schwung bekommt – und auf der anderen Seite gibt es keinen Gehweg. Er landet mitten auf der Cypress Street, direkt vor dem heranbrausenden Polizeiwagen.