Epilog
Wieder erteilt sie einen Befehl. Die künstlichen Schmetterlinge lösen sich voneinander, der Sichtschirm zerfällt. Die Tiere verschmelzen mit dem Spitzengewebe ihres Ärmels. Als sie aufs Neue zum Himmel aufschaut, sieht sie nur noch eine Hand voll Sterne: nur diejenigen, die hell genug sind, um das Mondlicht und den glitzernden Strom des Rings zu überstrahlen. Der grüne Stern, den die Schmetterlinge eben noch sichtbar machten, ist verschwunden. Aber sie weiß, dass er noch da ist, auch wenn sein Licht nicht bis zu ihr dringt. Wenn man ihn einmal gesehen hat, kann man ihn nicht mehr vergessen.
Mit dem Stern selbst ist soweit alles in Ordnung. Seine Fusionsprozesse sind nicht aus dem Gleichgewicht geraten; seine Atmosphärenchemie ist nicht gestört. Er strahlt so hell wie vor hundert Jahren, und der Neutrinostrom aus seinem Kern zeugt von normalen Druckverhältnissen, normalen Temperaturen und normaler Nukleotidenhäufigkeit. Nur dem System, das ihn einmal umkreiste, widerfährt Schlimmes. Seine Welten werden bis auf ihre Atome zerlegt und zu einer Wolke von gläsernen Blasen, unzähligen mit Luft und Wasser gefüllten Habitats neu zusammengesetzt. Riesige Spiegel – ebenfalls aus dieser Orgie von Zerstörung und Wiederaufbau entstanden – fangen jedes entweichende Photon des Sonnenlichts ein und leiten es in den Habitat-Schwarm. Alles wird verwertet, nichts wird vergeudet. Im Innern der Blasen nährt das Sonnenlicht ein komplexes, hoch empfindliches System von geschlossenen biochemischen Kreisläufen. In den Habitats wachsen, umhegt von Maschinen, Pflanzen und Tiere heran.
Auch Menschen wären willkommen: Eigentlich wurde der Schwarm für sie angelegt.
Aber die Menschen wurden nicht eingeladen.
Diese grünfleckige Sonne ist nicht die erste, und sie wird auch nicht die letzte sein. Da draußen gibt es noch Dutzende ihrer Art. Die Transformationsmaschinen, die mit der geistlosen Tüchtigkeit von Heuschrecken diese Habitatschwärme schaffen, können von einem System zum nächsten springen. Sobald sie eintreffen, replizieren sie sich und beginnen mit der Demontage. Bisher sind alle Versuche, ihre Ausbreitung einzudämmen, gescheitert. Sie kommen zu Millionen, dabei genügt schon eine einzige, um den Prozess einzuleiten.
Man nennt sie die »Blattläuse«.
Niemand weiß, woher sie stammen oder wer sie geschaffen hat. Man vermutet, es könnte sich um eine aus dem Ruder gelaufene Terraformungs-Technologie handeln, die vor fast tausend Jahren entwickelt wurde, in den Jahrhunderten, bevor die Unterdrücker kamen. Aber sie sind sicherlich nicht nur ein Abklatsch jener früheren Maschinen. Dafür sind sie zu schnell und zu mächtig. Sie mussten über lange Zeit lernen, aus eigener Kraft zu überleben, und sind dabei wild und grausam geworden. Sie sind Opportunisten: Sie verstecken sich im Gebüsch wie Zecken und warten ab, bis ihre Zeit kommt.
Und jetzt, denkt sie, haben wir ihnen die Tür geöffnet.
Solange die Menschheit unter dem Joch der Unterdrücker stöhnte, wäre eine solche Epidemie niemals zum Ausbruch gekommen. Die Unterdrücker – selbst eine Form von replizierenden, raumfahrenden Maschinen – hätten keinen Rivalen geduldet. Aber die Unterdrücker waren nicht mehr; sie hatten sich seit mehr als vierhundert Jahren nicht mehr blicken lassen. Sie waren nicht geschlagen worden, nein, das konnte man so nicht sagen. Aber man hatte sie zurückgedrängt, hatte Grenzen gezogen und Pufferzonen eingerichtet. Vermutlich beherrschten sie immer noch einen großen Teil der Galaxis. Aber diese Säuberung – der Versuch, die Menschheit auszulöschen – war gescheitert.
Ein Erfolg, der nicht auf menschlicher Tüchtigkeit beruhte, sondern auf glücklichen Umständen – und auf Feigheit.
Die Unterdrücker hatten über Millionen von Jahren insgesamt immer weiter abgebaut. Früher oder später mussten sie einer Spezies begegnen, die sie nicht bändigen konnten. Die Menschheit wäre diese Spezies wahrscheinlich nicht gewesen, nicht einmal mit der Unterstützung der Hades-Matrix. Aber die Matrix hatte ihr den Weg gewiesen. Sie hatte sie nach Hela geschickt, und dort hatte sie die richtige Entscheidung getroffen: Sie hatte nicht die Schatten beschworen, sondern die Nestbauer um Beistand gebeten. Die Nestbauer hatten einst die Flitzer vernichtet, als diese den Fehler begingen, mit den Schatten zu verhandeln.
Und wir waren nahe daran, das Gleiche zu tun, denkt sie. Es war so knapp gewesen, dass ihr bei dem Gedanken daran jetzt noch das Blut in den Adern gefriert.
Die weiße Rüstung aus Schmetterlingen schmiegt sich fester um sie.
»Wir sollten jetzt wirklich gehen«, ruft ihr Beschützer vom anderen Ende der Mole.
»Du hast mir eine Stunde versprochen.«
»Sie ist fast abgelaufen. Du hast nur in die Sterne geschaut.«
Das kann nicht sein. Vielleicht übertreibt er, aber vielleicht hat sie auch wirklich so lange gebraucht, um den grünen Stern zu finden. Manchmal versinkt sie in ihren Erinnerungen wie in einem Tagtraum, und dann zerfließen ihr die Augenblicke zu Stunden und die Stunden zu Jahrzehnten. Sie ist so alt, dass sie sich manchmal selbst unheimlich wird.
»Hab noch ein wenig Geduld.«
Die Nestbauer (früher nannte man sie die Muschelmacher, aber dieser Name für die Symbionten ist längst vergessen) hatten lange auf eine Strategie des Ausweichens gesetzt. Anstatt die Unterdrücker direkt anzugreifen, versteckten sie sich lieber zwischen den Sternen und vermieden möglichst jeden Kontakt. Sie waren Meister der Tarnung. Die Menschheit dagegen ging auf Konfrontationskurs, nachdem sie von den Nestbauern einiges an Waffen und Informationen bekommen hatte, und vertrieb die Unterdrücker aus der näheren Umgebung. Das hatte den Nestbauern nicht gefallen: Sie hatten davor gewarnt, das Gleichgewicht zu stören. Manchmal seien selbst schlimme Dinge noch besser als die Alternative dazu.
Die Menschheit hatte nicht hören wollen.
Vielleicht hat es sich doch gelohnt, denkt sie jetzt. Wir durften vierhundert Jahre lang ein zweites Goldenes Zeitalter erleben. Wir haben großartige Leistungen vollbracht und großartige Spuren hinterlassen. Wir hatten eine tolle Zeit. Wir vergaßen die alten Legenden und schufen bessere, neue Märchen für eine neue Zeit. Doch währenddessen lauerte schon etwas im Gebüsch. Als wir die Unterdrücker aus der Gleichung herausnahmen, gaben wir den Blattläusen ihre Chance.
Das heißt nicht, dass nun alles zu Ende wäre. Wo die Blattläuse durch die Systeme fegen, werden die Welten evakuiert. Anfangs kam es dabei zu katastrophalen organisatorischen Fehlern, doch inzwischen läuft alles besser. Die Behörden sind der Welle voraus. Was die Kontrolle von Flüchtlingsströmen angeht, sind sie nun mit allen Wassern gewaschen.
Wieder späht sie in die Dunkelheit hinaus. Die Blattlausmaschinen haben es nicht eilig: Da draußen gibt es immer noch Kolonien, die ihnen erst in Jahrhunderten, ja in Jahrtausenden zum Opfer fallen werden. Noch ist Zeit zum Leben und zum Lieben. Eine Verjüngungskur ist sogar für eine alte Halb-Synthetikerin eine verlockende Möglichkeit. Angeblich gibt es jetzt in den Plejaden bewohnte Welten. Von dort aus müsste die Welle von grünfleckigen Sonnen ziemlich fern und wenig bedrohlich erscheinen.
Aber bis sie die Plejaden erreichte, wären seit ihrer Geburt weitere vierhundert Jahre vergangen.
Sie muss oft an die Botschaften der Schatten denken. Darin war unter anderem von einer Verfolgung durch Maschinen die Rede gewesen, die die Sonnen grün färbten. Nicht zum ersten Mal fragt sie sich, ob das wirklich ein Zufall sein kann. Nach der aktuellen Bran-Theorie müssten die Botschaften aus der Gegenwart und nicht aus der fernen Zukunft oder der fernen Vergangenheit gekommen sein. Aber wenn nun die Theorie falsch wäre? Wenn alles – die Schatten-Bran, der Bulk, die Gravitationssignale – nur eine tröstliche Fiktion wäre, hinter der sich eine noch seltsamere Wahrheit verbirgt?
Sie weiß es nicht. Und sie wird es wohl auch nie erfahren.
Vielleicht will sie es auch gar nicht.
Wieder wendet sie sich dem Meer zu. Hier gingen sie alle zugrunde, als diese Welt noch Ararat hieß. Niemand nennt sie jetzt mehr so: Niemand erinnert sich, dass sie einmal diesen Namen trug. Sie ist die Einzige, die es noch weiß.
Sie war mit der Sehnsucht nach Unendlichkeit auf der Flucht und musste mit ansehen, wie die Unterdrücker den Energiestrahl des Weltraumgeschützes ablenkten und so den ersten Mond zertrümmerten.
Unterdrücker. Weltraumgeschütz. Sehnsucht nach Unendlichkeit: Das klingt wie Verse eines Kinderreims, an den sie seit Jahren nicht mehr gedacht hat, fast ein wenig lächerlich, und doch von einer tieferen Bedeutung, die sie erschauern lässt.
Genau genommen hatte sie nicht selbst mit angesehen, wie der Mond zerbrach. Wirklich gesehen hatte es nur ihre Mutter. Aber in ihren Erinnerungen gibt es da kaum einen Unterschied. Sie war Zeugin gewesen, wenn auch durch fremde Augen.
Sie denkt an Antoinette, Xavier, Blood und die anderen, die – freiwillig oder nicht – auf Ararat geblieben waren, während sie mit dem Raumschiff entkam. Keiner von ihnen konnte überlebt haben, als die Trümmer des zerstörten Mondes in den Ozean stürzten. Sie mussten ertrunken sein, als die Tsunamis ihre armseligen kleinen Siedlungen überspülten.
Es sei denn, sie hätten sich entschlossen, schon vorher den Tod im Wasser zu suchen. Vielleicht hatte das Meer sie aufgenommen? Die Musterschieber hatten schon beim Start des Schiffes geholfen. Wäre es so abwegig, sich vorzustellen, sie hätten auch die zurückgebliebenen Inselbewohner gerettet?
Vierhundert Jahre lang hatten hier intelligente Wesen gelebt, darunter auch Schwimmer. Manchmal, so stand es in den Aufzeichnungen, berichteten sie von Kontakten mit Gespenstern: mit anderen, älteren Bewusstseinen. Waren darunter vielleicht auch Inselbewohner, die das lebende Gedächtnis des Meeres über so viele Jahre konserviert hatte?
Jetzt ist die Mole vollends von den leuchtenden Flecken umringt. Bevor sie mit dem Transitfahrstuhl herunterkam, hatte sie einen Vorsatz gefasst: Sie wird schwimmen, und sie wird dem Ozean ihr Bewusstsein öffnen. Sie wird alles offenbaren, was sie weiß: Alles, was dieser Welt widerfahren wird, wenn die Terraformer kommen. Niemand kann vorhersehen, was geschieht, wenn die Blattlausmaschinen und der Fremdorganismus eines Schiebermeeres aufeinander treffen, niemand kann vorhersehen, wer von beiden den anderen assimilieren wird. Ein solches Experiment steht noch aus. Vielleicht absorbiert der Ozean die Maschinen wie schon so vieles andere und macht sie unschädlich. Vielleicht halten sich die gegnerischen Kräfte im Gleichgewicht. Oder diese Welt wird wie Dutzende vor ihr in einer Orgie der Gewalt zerlegt und neu zusammengesetzt.
Was dann aus den Bewusstseinen wird, die im Ozean gelöst sind, weiß sie nicht. Sicherlich ahnen sie bereits, was ihnen bevorsteht. Die Panik, als die menschliche Bevölkerung ihre Fluchtpläne schmiedete, kann ihnen nicht völlig entgangen sein. Aber sie nimmt nicht an, dass jemand nur deshalb geschwommen ist, um dieser Welt mitzuteilen, was kommen wird. Vielleicht spielt es keine Rolle. Oder aber es hängt buchstäblich alles davon ab.
Vermutlich ist es eine Frage der Höflichkeit. Schließlich hat sie alles zu verantworten, was hier geschieht und geschehen wird.
Sie erteilt den Schmetterlingen einen neuen Befehl. Die weiße Rüstung löst sich auf, die mechanischen Insekten sammeln sich in einer Wolke über ihren Kopf. Dort verharren sie, ohne sich allzu weit zu entfernen. Dennoch steht sie nun nackt auf der Mole.
Sie sieht sich kurz nach ihrem Beschützer um. Seine kindliche Gestalt zeichnet sich vor dem milchig trüben Himmel ab. Auf seinen Krückstock gestützt, schaut er in die Ferne. Er bewegt ungeduldig den Kopf, er möchte weg von hier. Sie kann es ihm nicht verdenken.
Sie setzt sich an den Rand der Mole. Das Wasser beginnt erwartungsvoll zu brodeln. Sie sieht Gestalten darin: fantastische Formen. Sie wird ein Weilchen schwimmen und ihr Bewusstsein öffnen. Sie weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber sie wird nicht gehen, bevor sie so weit ist. Sollte ihr Beschützer nicht so lange warten – sie glaubt nicht daran, aber sie kann es nicht völlig ausschließen –, dann muss sie eben ihre Pläne ändern.
Sie lässt sich ins Meer gleiten und versinkt in grün leuchtenden Erinnerungen an Ararat.