Auf Hela

2727

 

 

Grelier trat ins Turmzimmer und blieb kurz stehen, um die Szene auf sich wirken zu lassen. Auf den ersten Blick sah der Raum noch mehr oder weniger so aus, wie er ihn verlassen hatte. Nur gab es jetzt neue Gäste – einen Mann und eine ältere Frau –, die von einem kleinen Trupp Gardisten bewacht wurden. Die beiden – er erkannte sie, sie kamen vom Ultra-Schiff – sahen ihn an, als erwarteten sie eine Erklärung. Grelier fuhr sich mit der Hand durch das dichte weiße Haar und stellte seinen Krückstock neben die Tür. Er hätte sich gern so einiges von der Seele geredet, aber dass er den beiden erklärte, was hier vorging, kam natürlich nicht infrage.

»Kaum bin ich ein paar Stunden fort, schon bricht die Hölle los«, bemerkte er.

»Setzen Sie sich«, sagte der Dekan.

Grelier überhörte die Aufforderung. Wie bei jedem Besuch im Turmzimmer wollte er sich zunächst um die Augen des Dekans kümmern. Er öffnete den Wandschrank und holte sein Sortiment von Tupfern und Salben heraus.

»Nicht jetzt, Grelier.«

»Warum nicht?«, widersprach er. »Eine Infektion hört nicht auf, sich auszubreiten, nur weil Ihnen die Behandlung gerade nicht in den Kram passt.«

»Wo waren Sie, Grelier?«

»Eins nach dem anderen.« Der Generalmedikus beugte sich über Quaiche und untersuchte die Stellen, wo sich die Spitzen des Lidspreizers in die zarte Haut der Augenlider bohrten. »Vielleicht geht meine Fantasie mit mir durch, aber als ich hereinkam, glaubte ich, eine gewisse Spannung zu spüren.«

»Die beiden sind nicht begeistert davon, dass ich mit der Kathedrale über die Spalte fahren will.«

»Das bin ich auch nicht«, sagte Grelier, »aber ich werde nicht mit der Waffe bedroht.«

»Die Sache ist nicht so einfach.«

»Das kann ich mir denken.« Mehr denn je war er froh, dass er seine Fähre flugbereit zurückgelassen hatte. »Möchte mir vielleicht jemand erklären, was hier vorgeht? Oder ist es ein neues Gesellschaftsspiel, bei dem ich zwanzig Fragen frei habe?«

»Er hat unser Schiff in seine Gewalt gebracht«, sagte der Mann.

Grelier warf ihm einen Blick zu, hörte aber nicht auf, an den Augen des Dekans herumzutupfen. »Wie bitte?«

»Die adventistische Delegation war ein Täuschungsmanöver«, erläuterte der Ultra. »Die Leute hatten den Auftrag, die Sehnsucht nach Unendlichkeit zu entern.«

»Sehnsucht nach Unendlichkeit«, bemerkte Grelier. »Erstaunlich, wie dieser Name immer wieder auftaucht.«

Jetzt war es der Ultra, der ihn verständnislos ansah. »Wie darf ich das verstehen?«

»Sie waren schon einmal hier, nicht wahr? Vor etwa neun Jahren.«

Die beiden Gefangenen wechselten einen Blick. Sie gaben sich große Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber Grelier hatte nur auf eine Reaktion gelauert.

»Ich komme nicht mehr mit«, beklagte sich Quaiche.

»Mir scheint, das geht uns in gewisser Hinsicht allen so«, gab Grelier zurück. Er fuhr mit dem Tupfer unter ein Augenlid, und als er ihn wieder herauszog, war er gelb vor Eiter. »Stimmt es, was er sagt? Hatten die Delegierten den Auftrag, das Lichtschiff in ihre Gewalt zu bringen?«

»Ich wüsste nicht, warum er lügen sollte«, sagte Quaiche.

»Der Auftrag kam von Ihnen?«

»Ich brauchte ein Schiff«, sagte Quaiche so verlegen wie ein Kind, das man beim Äpfelstehlen erwischt hat.

»Das ist bekannt. Schließlich haben Sie lange genug gesucht, bis Sie das richtige fanden. Nun hat man Ihnen ein Schiff gebracht, wo also liegt das Problem? Wenn es Sie beschützen soll, wäre es doch besser, die Führung der Besatzung zu überlassen.«

»Es ging mir nie um Schutz.«

Grelier erstarrte. Der Tupfer steckte immer noch unter dem Augenlid des Dekans. »Nein?«

»Ich brauchte ein Schiff«, wiederholte Quaiche. »Irgendein Schiff, Hauptsache, es war in halbwegs gutem Zustand, und die Triebwerke funktionierten. Ich wollte schließlich nicht sehr weit damit fliegen.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Grelier.

»Aber ich«, sagte der Ultra. »Jedenfalls habe ich eine Ahnung. Es geht um Hela, nicht wahr?«

Grelier sah ihn an. »Was soll das heißen?«

»Er will unser Schiff in seine Gewalt bringen, um damit auf dieser Welt zu landen. Irgendwo in Äquatornähe, nehme ich an. Wahrscheinlich hat er sogar schon eine Anlage zum Andocken bauen lassen – eine Art Schlitten.«

»Was für einen Schlitten?«, fragte Grelier verdutzt.

»Eine Haltebucht«, sagte Quaiche, als sei damit alles erklärt. Grelier dachte an die Maschinen und Arbeitskräfte, die man von den Wartungstrupps des Ewigen Weges abgezweigt hatte, an die Flotte von Baumaschinen, die Rachmika ihm beschrieben hatte. Jetzt war ihm klar, wofür sie gebraucht wurden. Sie waren sicher unterwegs gewesen, um letzte Hand an diese Haltebucht zu legen – wie immer die aussehen mochte.

»Nur eine Frage noch«, sagte Grelier. »Wozu?«

»Er will das Schiff quer stellen«, antwortete der Mann. »Er will so auf Hela aufsetzen, dass der Rumpf ostwestlich ausgerichtet ist, parallel zum Äquator. Dann wird es an Ort und Stelle so fest verankert, dass es sich nicht mehr bewegen kann.«

»Hat die ganze Operation auch irgendeinen Sinn?«, fragte Grelier.

»Das wird sich zeigen, wenn ich die Triebwerke zünde«, sagte Quaiche. Er konnte nicht mehr an sich halten. »Dann werden Sie es sehen. Alle werden es sehen.«

»Er will Helas Drehgeschwindigkeit verringern«, sagte der Ultra. »Er möchte den Mond mithilfe der Schiffstriebwerke in gebundene Rotation um Haldora bringen. Dazu fehlt gar nicht viel – er braucht den Tag lediglich um zwölf Minuten zu verlängern. Nicht wahr, Dekan.«

»Ein Zweihundertstel«, sagte Quaiche. »Hört sich ganz einfach an, nicht wahr? Aber um eine Welt – auch wenn sie so klein ist wie Hela – zu bewegen, braucht man viel Kraft. Ich wusste schon immer, dass es unter einem Lichtschiff nicht zu machen wäre. Überlegen Sie: Wenn diese Triebwerke eine Million Tonnen Schiffsmasse nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen können, dann können sie doch sicher auch Helas Tag um zwölf Minuten verlängern?«

Grelier zog endlich den Tupfer unter Quaiches Augenlid hervor. »Sie wollen also nachholen, was Gott versäumt hat?«

»Halten Sie mich etwa für größenwahnsinnig?«, schalt Quaiche.

Vaskos Armbandkommunikator klingelte. Er warf einen Blick darauf, wagte sich aber nicht zu bewegen.

»Nehmen Sie den Anruf entgegen«, sagte Quaiche endlich. »Wir wollen alle wissen, wie die Dinge stehen.«

Vasko meldete sich und lauschte eine Weile aufmerksam, dann zog er sich das Armband ab und reichte es an Grelier weiter. »Hören Sie selbst«, sagte er. »Ich denke, es wird Sie interessieren.«

Grelier untersuchte den Kommunikator mit misstrauisch geschürzten Lippen. »Vielleicht sollte ich das übernehmen«, sagte er.

»Ist mir auch recht«, erklärte Vasko.

Grelier lauschte der Stimme aus dem Armband. Dann sprach er vorsichtig hinein, hörte sich die Antworten an, nickte gelegentlich und zog in gespieltem Erstaunen die schneeweißen Augenbrauen hoch. Endlich zuckte er die Achseln und gab Vasko den Kommunikator zurück.

»Und?«, fragte Quaiche.

»Der Kathedralengarde ist es nicht gelungen, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen«, sagte der Generalmedikus. »Sie wurde einschließlich der Verstärkungstruppen völlig aufgerieben. Ich hatte soeben eine freundschaftliche Unterhaltung mit dem Hyperschwein, das auf dem Schiff das Kommando führt. Für ein Schwein verhält es sich ganz vernünftig.«

»Nein«, hauchte Quaiche. »Seyfarth hat mir sein Ehrenwort gegeben. Er versicherte mir, er hätte für ein solches Unternehmen die richtigen Leute. Es kann nicht missglückt sein.«

»Es ist missglückt.«

»Wie, ist das möglich? Gab es auf diesem Schiff etwas, worüber Seyfarth nicht informiert war? Wartete dort eine ganze Armee?«

»Das Schwein bestreitet es.«

»Und das Schwein hat Recht«, sagte Vasko. »Das Schiff selbst hat Ihre Pläne vereitelt. Es ist nicht wie andere Schiffe, jedenfalls nicht im Innern. Es hat seine eigenen Vorstellungen. Und es war von dem Überfall nicht sehr angetan.«

»Es war ganz anders geplant«, wimmerte Quaiche.

»Mir scheint, Sie sitzen ziemlich in der Klemme«, bemerkte Grelier. »Das Schwein deutete an, man wolle die Kathedrale mit Gewalt einnehmen.«

»Man hat mich getäuscht«, sagte Quaiche, dem jetzt ein Licht aufging.

»Sie sollten das nicht persönlich nehmen. Die Leute wollten nur Zugang zu Haldora. Dass sie in Ihre Pläne hineingeraten sind, war nicht beabsichtigt. Sie hätten Ihnen nichts getan, wenn Sie nicht versucht hätten, sie zu benutzen.«

»Wir stecken in Schwierigkeiten«, sagte Quaiche leise.

»Tatsächlich«, sagte Grelier, als sei ihm plötzlich etwas Wichtiges eingefallen, »sieht es nicht ganz so schlimm aus, wie Sie glauben.« Er beugte sich tiefer über den Dekan, dann schaute er zu den drei Menschen zurück, die um den Tisch saßen: »Ein kleines Druckmittel haben wir nämlich noch.«

»Wirklich?«, fragte Quaiche.

Grelier wandte sich an Vasko. »Geben Sie mir bitte noch einmal das Armband.«

Vasko reichte es ihm. Grelier lächelte und sprach hinein. »Hallo, ist dort das Schwein? Freut mich, noch einmal das Vergnügen zu haben. Ich habe eine Nachricht für Sie. Wir haben das Mädchen. Wenn Sie es heil und gesund wiedersehen wollen, würde ich Ihnen empfehlen, unsere Anweisungen zu befolgen.«

Dann gab er den Kommunikator an den Dekan weiter. »Jetzt sind Sie dran«, sagte er.

Offenbarung
titlepage.xhtml
Offenbarung_split_000.html
Offenbarung_split_001.html
Offenbarung_split_002.html
Offenbarung_split_003.html
Offenbarung_split_004.html
Offenbarung_split_005.html
Offenbarung_split_006.html
Offenbarung_split_007.html
Offenbarung_split_008.html
Offenbarung_split_009.html
Offenbarung_split_010.html
Offenbarung_split_011.html
Offenbarung_split_012.html
Offenbarung_split_013.html
Offenbarung_split_014.html
Offenbarung_split_015.html
Offenbarung_split_016.html
Offenbarung_split_017.html
Offenbarung_split_018.html
Offenbarung_split_019.html
Offenbarung_split_020.html
Offenbarung_split_021.html
Offenbarung_split_022.html
Offenbarung_split_023.html
Offenbarung_split_024.html
Offenbarung_split_025.html
Offenbarung_split_026.html
Offenbarung_split_027.html
Offenbarung_split_028.html
Offenbarung_split_029.html
Offenbarung_split_030.html
Offenbarung_split_031.html
Offenbarung_split_032.html
Offenbarung_split_033.html
Offenbarung_split_034.html
Offenbarung_split_035.html
Offenbarung_split_036.html
Offenbarung_split_037.html
Offenbarung_split_038.html
Offenbarung_split_039.html
Offenbarung_split_040.html
Offenbarung_split_041.html
Offenbarung_split_042.html
Offenbarung_split_043.html
Offenbarung_split_044.html
Offenbarung_split_045.html
Offenbarung_split_046.html
Offenbarung_split_047.html
Offenbarung_split_048.html
Offenbarung_split_049.html
Offenbarung_split_050.html
Offenbarung_split_051.html
Offenbarung_split_052.html
Offenbarung_split_053.html
Offenbarung_split_054.html
Offenbarung_split_055.html
Offenbarung_split_056.html
Offenbarung_split_057.html
Offenbarung_split_058.html
Offenbarung_split_059.html
Offenbarung_split_060.html
Offenbarung_split_061.html
Offenbarung_split_062.html
Offenbarung_split_063.html
Offenbarung_split_064.html
Offenbarung_split_065.html
Offenbarung_split_066.html
Offenbarung_split_067.html
Offenbarung_split_068.html
Offenbarung_split_069.html
Offenbarung_split_070.html
Offenbarung_split_071.html
Offenbarung_split_072.html
Offenbarung_split_073.html
Offenbarung_split_074.html
Offenbarung_split_075.html
Offenbarung_split_076.html
Offenbarung_split_077.html
Offenbarung_split_078.html
Offenbarung_split_079.html
Offenbarung_split_080.html
Offenbarung_split_081.html
Offenbarung_split_082.html
Offenbarung_split_083.html
Offenbarung_split_084.html
Offenbarung_split_085.html
Offenbarung_split_086.html
Offenbarung_split_087.html
Offenbarung_split_088.html
Offenbarung_split_089.html
Offenbarung_split_090.html
Offenbarung_split_091.html
Offenbarung_split_092.html
Offenbarung_split_093.html
Offenbarung_split_094.html
Offenbarung_split_095.html
Offenbarung_split_096.html
Offenbarung_split_097.html
Offenbarung_split_098.html
Offenbarung_split_099.html
Offenbarung_split_100.html
Offenbarung_split_101.html
Offenbarung_split_102.html
Offenbarung_split_103.html
Offenbarung_split_104.html
Offenbarung_split_105.html
Offenbarung_split_106.html
Offenbarung_split_107.html
Offenbarung_split_108.html