Zwölf
Hela
2727
Quästor Jones hatte Anweisung erhalten, sich auf die Ankunft eines neuen Gastes vorzubereiten. Die Nachricht kam direkt vom Ewigen Weg und trug das Amtssiegel des Glockenturms. Wenig später glitt ein kleines Raumschiff – eine einsitzige Fähre aus Ultra-Beständen von der Form einer Muschelschale – über die Karawane hin.
Das rubinrote Gefährt schwebte auf einem gekonnt dosierten Schubstoß für einen Moment gefährlich dicht neben der Karawane, die ihren Weg fortsetzte. Dann sank es herab und ließ sich auf der großen Landeplattform nieder. Im Rumpf öffnete sich eine Luke, ein Mann im Druckanzug erschien, blieb kurz stehen, griff hinter sich ins Cockpit und holte einen Krückstock und ein weißes Köfferchen heraus. Auf dem Weg ins Innere der Karawane zeichneten Kameras aus verschiedenen Blickwinkeln jede seiner Bewegungen auf. Er öffnete mit seinem Glockenturm-Schlüssel die sonst verschlossenen Türen und zog sie hinter sich ordentlich wieder zu. Er ging so langsam und bedächtig, dass der Quästor reichlich Zeit hatte, seine Fantasie spielen zu lassen. Hin und wieder klopfte er mit seinem Stock gegen irgendein Bauteil oder fuhr mit behandschuhter Hand an einer Wand entlang und betrachtete dann prüfend seine Finger, als suchte er nach Staub.
»Das gefällt mir nicht, Peppermint«, sagte der Quästor zu dem Tierchen, das auf seinem Schreibtisch saß. »Es hat nichts Gutes zu bedeuten, wenn sie überhaupt jemanden schicken, und schon gar nicht, wenn man erst eine Stunde vorher informiert wird. Dann wollen sie einen überrumpeln. Und das wiederum heißt, dass sie einem misstrauen.«
Das Tierchen machte sich über ein Häufchen Samenkörner her, das der Quästor auf den Tisch geschüttet hatte. Es war zu possierlich, wie es zuerst fraß und sich dann putzte, dass sein Herr sich von dem Augenblick kaum losreißen konnte. Die schwarzen Facettenaugen – bei richtiger Beleuchtung sah man, dass sie eigentlich dunkelviolett waren – funkelten wie seltene Edelsteine.
»Wer mag das sein, wer mag das sein…« Der Quästor trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Hier hast du noch ein paar Körner. Ein Krückstock. Wen kennen wir, der am Stock geht?«
Das Tierchen schaute zu ihm auf, als wollte es die Frage beantworten. Doch dann legte es den Schwanz um einen Briefbeschwerer und knabberte weiter.
»Das bedeutet nichts Gutes, Peppermint. Ich spüre es.«
Der Quästor war stolz darauf, seine Karawane fest im Griff zu haben. Er tat, was die Kirche von ihm verlangte, ansonsten hielt er sich aus der Kathedralenpolitik tunlichst heraus. Seine Karawane kehrte immer pünktlich zum Weg zurück und brachte fast immer ein respektables Kontingent an Pilgern, Wanderarbeitern und Flitzerfunden mit. Seine Fahrgäste wie seine Kunden wurden gut betreut, aber er suchte weder ihre Freundschaft, noch erwartete er Dankbarkeit. Er war darauf nicht angewiesen: Er hatte seine Arbeit, und er hatte Peppermint, und mehr brauchte er nicht.
In letzter Zeit waren die Geschäfte nicht gut gelaufen, aber das ging allen Karawanen so, und wenn man ein Exempel statuieren wollte, dann gab es Züge, die wesentlich schlechter abschnitten als die Karawane des Quästors. Außerdem war die Kirche in den letzten Jahren mit seinen Leistungen offenbar zufrieden gewesen, sonst wäre seine Karawane nicht so groß geworden, und man hätte sie nicht auf allen wichtigen Handelsrouten eingesetzt. Mit den Vertretern der Kathedralen kam er gut aus, und bei Händlern wie Crozet galt er als fairer Partner – obwohl das keiner jemals zugegeben hätte. Was also mochte der Zweck dieses Überraschungsbesuches sein?
Hoffentlich ging es nicht um Blut. Jedermann wusste, dass man bei engerer Zusammenarbeit mit den Kathedralen unweigerlich auch mit den Agenten des Blutzoll-Offiziums zu tun bekam, jener kirchlichen Behörde, die für die Verbreitung von Quaiches wahrem Blut zuständig war. Das Offizium war bekanntlich eine Unterabteilung des Glockenturms. Doch in dieser Entfernung vom Weg floss Quaiches Blut nur stark verdünnt durch die Adern. Das Leben auf dem Lande war hart. Jenseits der eisernen Kathedralenwände gab es Eisstürze und Geysire, Schwierigkeiten, mit denen man sich vorbehaltlos und mit klarem Kopf auseinander setzen musste, nicht mit der chemisch erzeugten Frömmigkeit eines Indoktrinationsvirus. Aber vielleicht hatte sich ja die Politik geändert und der Einflussbereich des Blutzoll-Offiziums war erweitert worden?
»Es ist dieser Crozet«, sagte der Quästor. »Er bringt immer Unglück. Ich hätte ihn so kurz vor dem Ziel nicht mehr empfangen, sondern ihn mit eingezogenem Schwanz wieder nach Hause schicken sollen. Er ist nur ein nichtsnutziger Tagedieb.«
Peppermint schaute zu ihm auf. Das Mäulchen bewegte sich. »Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein«, sagte es.
»Gewiss doch, Peppermint, vielen Dank.« Der Quästor öffnete die Schublade seines Schreibtischs. »Und jetzt hier hinein mit dir, bis unser Besucher wieder fort ist. Und halt die Klappe.«
Er griff nach dem Tierchen und wollte es vorsichtig so zurechtbiegen, dass es in die Schublade passte. Doch schon öffnete sich die Tür zu seinem Büro. Der Hauptschlüssel des Fremden funktionierte sogar hier.
Der Mann im Druckanzug trat ein, blieb stehen und schloss die Tür hinter sich. Dann lehnte er den Krückstock an den Schreibtisch und stellte das weiße Köfferchen ab. Schließlich hob er beide Hände und löste den Helmring. Der Helm war ein barockes Ungetüm, das Visier war von Fratzengesichtern in Halbrelieftechnik umgeben. Der Fremde nahm ihn ab und stellte ihn auf den Schreibtisch.
Der Quästor stellte überrascht fest, dass er den Besucher nicht kannte. Er hatte einen der Kirchenvertreter erwartet, mit denen er sonst zu tun hatte, aber diesen Mann hatte er noch nie gesehen.
»Ich hätte ein Wörtchen mit Ihnen zu reden, Quästor«, sagte er und wies auf den Sessel vor dem Schreibtisch.
»Gewiss doch«, nickte Quästor Jones hastig. »Bitte nehmen Sie Platz. Wie war Ihre…?«
»Meine Reise vom Weg hierher?« Der Mann blinzelte, als hätte er Mühe, sich bei derart einschläfernden Fragen wach zu halten. »Ohne besondere Vorkommnisse.« Sein Blick fiel auf das Tierchen, das der Quästor nicht mehr hatte verstecken können. »Gehört das Ihnen?«
»Mein Pep… mein Peppertier. Mein Peppermint. Haustier. Meins.«
»Eine Genzüchtung, nicht wahr? Lassen Sie mich raten: ein Teil Heuschrecke, ein Teil Chamäleon, ein Teil Säugetier?«
»Ein Teil Katze«, verbesserte der Quästor. »Eindeutig Katze. Nicht wahr, Peppermint?« Er schob dem Besucher einige Samenkörner zu. »Möchten Sie vielleicht…?«
Die nächste Überraschung. Der Quästor wusste nicht einmal, warum er überhaupt gefragt hatte, doch der Fremde nahm einige Körnchen zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie Peppermint vorsichtig hin. Das Tierchen nahm ein Korn nach dem anderen und zerbiss es mit mahlenden Kiefern.
»Reizend«, sagte der Mann, ohne die Hand wegzunehmen. »Ich würde mir gern selbst so einen kleinen Freund anschaffen, aber wie man hört, sind sie sehr schwer zu kriegen.«
»Und höllisch schwer zu pflegen«, sagte der Quästor mit einem Nicken.
»Das kann ich mir denken. Kommen wir zur Sache.«
»Zur Sache«, nickte der Quästor.
Der Besucher hatte ein langes schmales Gesicht mit sehr flacher Nase und kräftigem Unterkiefer. Sein dichtes weißes Haar strebte über der Stirn steif wie eine Bürste nach oben und war wie mit einem Laser zu einer mathematisch ebenen Fläche geschoren. Wenn das Licht darauf fiel, schimmerte es bläulich. Er trug einen hoch geschlossenen, seitlich geknöpften Rock mit dem Wappen des Glockenturms, einem mumienähnlichen Raumanzug, der aus allen Ritzen Licht verstrahlte. Dennoch bezweifelte der Quästor, dass er wirklich Geistlicher war. Er roch nicht so, als hätte er Quaiche-Blut in den Adern. Eher ein hochrangiger Vertreter des technischen Stabes.
»Möchten Sie nicht wissen, wer ich bin?«, fragte der Mann.
»Nur, wenn Sie es mir sagen wollen.«
»Aber Sie sind doch sicherlich neugierig?«
»Man hat mir einen Besucher angekündigt. Alles andere geht mich nichts an.«
Der Mann lächelte. »Eine sehr empfehlenswerte Einstellung. Sie können mich Grelier nennen.«
Der Quästor neigte den Kopf. Der Name Grelier spielte seit den Anfangszeiten der Besiedlung, gleich nachdem die erste Haldora-Auslöschung beobachtet worden war, eine Rolle in Helas Politik. Offenbar hatte sich die Familie seit damals durch alle Generationen ihre Bedeutung bewahrt. »Es ist mir eine Ehre, Sie in meiner Karawane begrüßen zu dürfen, Mr. Grelier.«
»Ich bleibe nicht lange. Ich wollte, wie gesagt, nur ein Wörtchen mit Ihnen reden.« Er hörte auf, Peppermint zu füttern. Die letzten Körnchen fielen auf den Boden. Er bückte sich nach dem weißen Köfferchen und nahm es auf den Schoß. Peppermint faltete die Pfötchen und fing an, sich zu putzen. »Haben Sie in letzter Zeit jemanden aufgenommen, Quästor?«
»Hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.«
»Ich meine vor kurzem, in den letzten Tagen.«
»Nun, da wäre natürlich Crozet.«
Der Mann nickte und öffnete das Köfferchen. Es war ein Medizinkoffer, voll mit Spritzen, die ordentlich nebeneinander aufgereiht waren wie kleine Soldaten mit nadelspitzen Köpfen. »Erzählen Sie mir von Crozet.«
»Einer unserer Stammhändler. Verdient seinen Lebensunterhalt in der Vigrid-Region und pflegt kaum Kontakte. Seine Frau heißt Linxe, und er hat einen Sohn namens Culver.«
»Sie sind jetzt alle hier? Ich habe beim Anflug gesehen, dass an Ihrer Maschine ein Eisjammer festgezurrt ist.«
»Das ist seiner«, bestätigte der Quästor.
»Sonst noch jemand mitgekommen?«
»Nur das Mädchen.«
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. Sie waren genau wie sein Haar so weiß wie frisch gefallener Schnee im Mondschein. »Mädchen? Sie sagten doch, er hätte einen Sohn, keine Tochter?«
»Sie ist mitgefahren. Keine Verwandte, nur ein Fahrgast. Name…« Der Quästor tat so, als wollte ihm der Name nicht einfallen. »Ach ja – Rachmika. Rachmika Els. Sechzehn oder siebzehn Standardjahre alt.«
»Hatten Sie es etwa auf sie abgesehen?«
»Sie hat mich beeindruckt. Sie konnte gar nicht anders.« Der Quästor rieb sich die schweißnassen Hände, die so glitschig waren wie zwei Aale. »Sie war von einem Selbstbewusstsein, einer Willensstärke, wie man sie nicht oft findet, schon gar nicht in diesem Alter. Es war, als hätte sie eine Mission zu erfüllen.«
Der Mann griff in den Koffer und zog eine leere Spritze heraus. »In welchem Verhältnis stand sie zu Crozet? Keine schmutzigen Geschichten?«
»Soviel ich weiß, war sie nur sein Fahrgast.«
»Sie haben die Vermisstenmeldung gehört? Ein junges Mädchen aus dem Ödland von Vigrid, das seinen Eltern weggelaufen war. Die dortige Gendarmerie hält sie für einen Saboteur.«
»Damit war sie gemeint? Da habe ich leider versäumt, zwei und zwei zusammenzuzählen.«
»Und das war ein Glück.« Grelier hielt die Spritze gegen das Licht, der Glaskolben verzerrte sein Gesicht. »Sonst hätten Sie sie womöglich prompt zurückgeschickt.«
»Und das wäre nicht in Ihrem Sinne gewesen?«
»Wir ziehen es vor, wenn sie zunächst bei der Karawane bleibt. Wir sind nämlich an ihr interessiert. Geben Sie mir Ihren Arm.«
Der Quästor rollte seinen Ärmel hoch und beugte sich über den Tisch. Peppermint hörte auf, sich zu putzen, und sah neugierig zu. Der Quästor konnte sich nicht weigern. Der Befehl war so ruhig ausgesprochen worden, dass er einfach gehorchen musste. Die Spritze war leer: Grelier wollte ihm also kein Blut injizieren, sondern nur welches abnehmen.
Der Quästor zwang sich zur Ruhe. »Warum soll sie bei der Karawane bleiben?«
»Damit sie auch wirklich dort landet, wo wir sie haben wollen.« Grelier schob die Nadel in die Vene. »Irgendwelche Klagen von Ihren Einkäufern, Quästor?«
»Klagen?«
»Über Crozet. Dass er mit seinem Flitzerkram mehr herausholt als üblich?«
»Nicht mehr als sonst.«
»Diesmal könnte etwas dran sein. Er hatte das Mädchen zu den Verhandlungen mitgenommen, nicht wahr?«
Der Quästor begriff, dass der Besucher nur Fragen stellte, auf die er die Antworten bereits kannte. Er sah zu, wie sein Blut in die Spritze floss. »Sie war einfach neugierig«, sagte er. »Sie sagt, sie interessiert sich für Flitzerfunde. Hält sich offenbar für eine Wissenschaftlerin. Ich dachte mir nichts dabei. Es war Crozets Idee, sie dabeisitzen zu lassen, nicht die meine.«
»Das kann ich mir denken. Das Mädchen hat eine besondere Fähigkeit, Quästor, eine Gottesgabe: Sie entdeckt jede Lüge. Sie erkennt die Mikroveränderungen im menschlichen Gesicht. Den meisten von uns fallen diese unterschwelligen Signale kaum auf. Für sie sind sie so grell wie riesige Neonschilder.«
»Ich verstehe nicht…«
Grelier zog die Spritze heraus. »Das Mädchen hat Ihre Einkäufer beobachtet, um zu sehen, ob sie aufrichtig waren, wenn sie behaupteten, ihr Limit erreicht zu haben. Und dann hat sie Crozet heimlich Zeichen gegeben.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe sie erwartet. Ich habe auf die Hinweise geachtet. Sie führten mich hierher, zu Ihrer Karawane.«
»Aber sie ist doch nur ein junges Mädchen.«
»Auch Johanna von Orléans war nur ein junges Mädchen.
Und was hat sie für ein Blutbad hinterlassen?« Er klebte dem Quästor ein Pflaster auf den Arm und steckte die Spritze in ein besonderes Fach an der Seite des Koffers. Ein Mechanismus drückte den Kolben nach unten, das Blut floss ab. Im Koffer begann es zu summen und zu tuckern.
»Wenn Sie mit ihr sprechen wollen…«, begann der Quästor.
»Nein, ich möchte nicht mit ihr sprechen. Jedenfalls noch nicht. Ich möchte, dass Sie gut auf sie aufpassen, bis Sie den Weg erreichen. Sie darf nicht mit Crozet zurückfahren. Sorgen Sie dafür, dass sie bei der Karawane bleibt.«
Der Quästor rollte den Ärmel wieder herunter. »Ich werde mein Möglichstes tun.«
»Sie werden noch mehr tun.« Ohne den Koffer abzustellen, beugte Grelier sich vor und hielt Peppermint mit einem seiner Vakuumhandschuhe fest. Mit der anderen Hand packte er eines seiner Vorderbeine und riss es ab. Das Tierchen stieß einen schrillen Pfiff aus und zappelte wild.
»Oh«, sagte Grelier. »Was habe ich denn jetzt angestellt?«
»Nein.« Der Quästor war wie gelähmt.
Grelier setzte das arme Tier wieder auf den Tisch zurück und ließ das abgetrennte Ärmchen zu Boden fallen. »Nur eine Gliedmaße. Da wo der Kleine herkommt, gibt es genug davon.«
Peppermint zuckte krampfhaft mit dem Schwanz.
»Kommen wir zu den Einzelheiten«, sagte Grelier und zog ein Metallröhrchen aus einer Tasche seines Druckanzugs. Der Quästor zuckte zusammen, ohne seinen misshandelten Liebling aus den Augen zu lassen. Grelier schob das Röhrchen über den Tisch. »Das Mädchen ist ein Problem«, sagte er. »Sie könnte dem Dekan sehr nützlich sein, sie weiß es nur noch nicht.«
Der Quästor hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Sie kennen den Dekan persönlich?«
»Flüchtig.«
»Dann müssten Sie doch wissen, ob er noch lebt?«
»O ja, er ist noch am Leben. Aber er verlässt den Glockenturm nur selten.« Grelier warf einen Blick auf Peppermint.
»Für einen Karawanenführer stellen Sie ziemlich viele Fragen.«
»Entschuldigen Sie.«
»Öffnen Sie das Röhrchen.«
Der Quästor gehorchte. Der kleine Zylinder enthielt zwei fest zusammengerollte Papierstreifen. Er zog sie vorsichtig heraus und strich sie auf dem Tisch glatt. Das eine Papier war ein Brief. Das andere enthielt eine Reihe von geheimnisvollen Zeichen.
»Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll.«
»Das macht nichts. Ich werde es Ihnen sagen. Den Brief behalten Sie hier. Die Zeichen übergeben Sie zusammen mit dem Röhrchen einem Mann namens Pietr.«
»Ich kenne niemanden dieses Namens.«
»Das sollten Sie aber. Er ist Pilger und befindet sich bereits bei Ihrer Karawane. Ein klein wenig instabil.«
»Instabil?«
Grelier überhörte die Frage und klopfte auf den Koffer. Das Gurgeln und Summen hielt an. Das Blut des Quästors wurde immer noch analysiert. »Die meisten im Umlauf befindlichen Virenstämme sind nicht sonderlich gefährlich. Sie erzeugen fromme Gefühle oder religiöse Visionen, aber sie greifen nicht direkt in das Ichbewusstsein ihres Wirts ein. Pietr ist dagegen von einem Virus befallen, das wir DEUS-X nennen. Es ist eine seltene Mutation des ursprünglichen Indoktrinationsvirus, und wir sind bemüht, es unter Kontrolle zu halten. Es bewirkt, dass sich Pietr im Zentrum seines eigenen Privatkosmos sieht. Er bemerkt es nicht immer, aber das Virus verändert seinen Realitätssinn so, dass er für sich selbst zum Gott wird. Er fühlt sich zwar zum Weg und zu irgendeiner der orthodoxen Kirchen hingezogen, aber er wird mit der traditionellen Lehre immer im Konflikt stehen. Er wird von einer Sekte zur anderen wechseln und ständig das Gefühl haben, kurz vor der Erleuchtung zu stehen. Seine Entscheidungen werden immer extremer werden und ihn zu immer ausgefalleneren Manifestationen der Haldora-Verehrung drängen. Irgendwann landet er bei den Observatoren.«
Der Quästor hatte nie von DEUS-X gehört, aber der Typ von Gläubigen, den Grelier soeben beschrieben hatte, war ihm nur allzu vertraut. Gewöhnlich handelte es sich um sehr ernsthaft veranlagte junge Männer ohne jeden Humor. In ihren Gehirnen war bereits etwas angelegt, woran sich das Virus festhalten konnte. »Was hat er mit dem Mädchen zu tun?«
»Bisher noch nichts. Ich möchte nur, dass Sie ihm das Röhrchen mit diesem Papierstreifen zuspielen. Die Zeichen sind ihm bereits bekannt, er hat sie nur noch nie so exakt geschrieben gesehen. Er wird sich vorkommen wie ein Forscher, der nach Kratzern im Fels suchte und nun eine mit Bildern versehene Schriftrolle findet.«
Der Quästor sah sich das Papier noch einmal an. Jetzt kamen die Zeichen auch ihm nicht mehr so fremd vor. »Die vergessene Auslöschung?«, fragte er. »Ich dachte, das wäre nur ein Ammenmärchen?«
»Ammenmärchen oder nicht, das spielt keine Rolle. Für Pietr ist es die Lehre einer religiösen Randgruppe, mit der er bereits einmal Kontakt hatte. Er wird die Zeichen erkennen, und sie werden ihn zum Handeln treiben.« Grelier beobachtete den Quästor scharf, wie um zu sehen, ob er ihm trauen konnte. »Ich habe dafür gesorgt, dass sich unter den Observatoren ein Spion befindet. Er wird Pietr etwas von einem Mädchen erzählen, das sich auf einem Kreuzzug befindet. Und er wird eine Prophezeiung zitieren: ein Mädchen, im Eis geboren, dessen Schicksal es ist, die Welt zu verändern.«
»Rachmika?«
Grelier formte die Hand zur Pistole, zielte damit auf den Quästor und imitierte mit der Zunge das Klicken des Abzugs. »Sie brauchen nur dafür zu sorgen, dass sich die beiden begegnen. Gestatten Sie ihr, die Observatoren zu besuchen, den Rest wird Pietr erledigen. Einer solchen Gelegenheit, sein Wissen weiterzugeben, wird er nicht widerstehen können.«
Der Quästor runzelte die Stirn. »Muss sie diese Zeichen sehen?«
»Wir müssen ihr ein Motiv geben, den Dekan aufzusuchen. Der Brief wird helfen – er betrifft ihren Bruder –, aber vielleicht genügt er nicht. Sie interessiert sich für die Flitzer, deshalb wird die vergessene Auslöschung ihre Neugier wecken, und sie wird dem Rätsel nachgehen wollen, auch wenn ihr Instinkt ihr noch so dringend rät, sich von den Kathedralen fern zu halten.«
»Und wieso kann ich ihr das Röhrchen nicht sofort geben? Wozu das Theater mit den Observatoren?«
Wieder richtete Grelier den Blick auf Peppermint. »Haben Sie immer noch nichts gelernt?«
»Es tut mir Leid, ich…«
»Das Mädchen ist außerordentlich schwer zu manipulieren. Sie erkennt jede Lüge sofort, es sei denn der Lügner glaubte selbst fest an das, was er sagt. Wir brauchen eine Vermittlungsinstanz, einen Mittelsmann, der in seinen Wahnvorstellungen befangen und vollkommen von sich überzeugt ist.« Grelier hielt inne. »Außerdem möchte ich wissen, wozu sie wirklich fähig ist. Ich werde sie eine Weile von ferne beobachten, bevor ich offen an sie herantrete. Bis dahin möchte ich unbemerkt die Fäden ziehen. Sie sind Teil der Vermittlungsinstanz, aber Sie werden sie auch auf ihre Brauchbarkeit prüfen.«
»Und der Brief?«
»Übergeben Sie ihn ihr persönlich. Sagen Sie, Sie hätten ihn durch einen Geheimkurier erhalten, mehr wüssten Sie nicht. Beobachten Sie genau, wie sie reagiert, und erstatten Sie mir Bericht.«
»Und wenn sie zu viele Fragen stellt?«
Grelier lächelte verschwörerisch. »Dann probieren Sie es mit einer Lüge.«
Der Medizinkoffer meldete sich mit einem Klingelzeichen. Die Analyse war abgeschlossen. Grelier drehte ihn um, sodass der Quästor die Ergebnisse sehen konnte. An der Innenseite des Deckels waren Histogramme und Tortengrafiken erschienen.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Quästor bang.
»Kein Grund zur Besorgnis«, antwortete Grelier.
Auf seinen privaten Kameras beobachtete der Quästor, wie die rubinrote Muschelschale von der Karawane abhob und einen Salto flog. Ihre Schubdüsen warfen wilde Schatten über die Landschaft.
»Es tut mir Leid, Peppermint«, sagte er.
Das Tierchen versuchte sich das Gesicht zu putzen, aber das einzige Vorderglied, das es noch hatte, stolperte hilflos wie ein gebrochener Scheibenwischer über die Mundpartie. In seinen traurigen Brombeeraugen stand mehr Verständnis, als seinem Herrn lieb war.
»Wenn ich nicht tue, was er will, kommt er zurück. Aber was immer er mit dem Mädchen vorhat, ist nicht in Ordnung. Das spüre ich. Du auch? Er war mir von Anfang an unheimlich. Schon als er landete, wusste ich, dass er Ärger machen würde.«
Der Quästor strich den Brief noch einmal glatt. Er war kurz, und die Schrift war gut leserlich, aber kindlich. Geschrieben war er von jemandem namens Harbin an jemanden namens Rachmika.