Siebzehn
Hela
2727
Der Generalmedikus ging mit klapperndem Krückstock durch die große eiserne Kathedrale. Selbst dort, wo die Motoren und das Antriebssystem zu hören waren, kündigte ihn dieses Klappern schon lange vorher an. Seine Schritte waren so exakt abgemessen wie die Schläge eines Metronoms. Das Pochen seines Krückstocks gab – Eisen auf Eisen – den Rhythmus vor. Er bewegte sich bewusst so langsam wie eine Spinne, um den Neugierigen und den Nichtstuern Zeit zu geben, sich zu verdrücken. Gelegentlich bemerkte er Schaulustige, die sich hinter Metallpfeilern oder Gittern versteckten und glaubten, er sähe nicht, wie sie ihn bespitzelten. Meistens war er jedoch sicher, seinen Geschäften unbeobachtet nachgehen zu können. In den langen Jahren, seit er in Quaiches Diensten stand, hatten die Bewohner der Kathedrale eines gelernt: Man sollte sich hüten, seine Nase in Greliers Angelegenheiten zu stecken.
Doch manchmal flüchteten die Menschen auch aus anderen Gründen.
Er erreichte eine Wendeltreppe, eine spiralförmige Eisenkonstruktion, die in das lärmerfüllte Gewölbe des Maschinenraums hinabführte. Die Treppe vibrierte wie eine angeschlagene Stimmgabel. Entweder wurde sie von unten durch die Maschinen in Schwingungen versetzt, oder jemand hatte sie gerade benutzt, um Grelier aus dem Weg zu gehen.
Der Generalmedikus beugte sich über das Geländer und schaute durch die Seele der engen Spirale. Zwei Windungen unter ihm rutschten dicke Finger über den Handlauf. Ob das sein Mann war? Sehr wahrscheinlich.
Leise vor sich hin summend, öffnete Grelier das Schutzgitter und betrat die Treppe. Er schlug das Gitter mit der Spitze seines Krückstocks hinter sich zu und stieg hinab. Dabei blieb er auf jeder Stufe so lange stehen, bis seine Schritte verklungen waren, bevor er sich die nächste vornahm. Poch, poch, poch schlug sein Krückstock gegen das Geländer. Sein Opfer sollte wissen, dass er kam und dass es keinen Fluchtweg mehr gab. Grelier kannte jeden Winkel der Kathedrale, und so fand er sich auch in den Tiefen des Maschinenraums gut zurecht. Er hatte alle anderen Treppen mit dem Glockenturm-Schlüssel verschlossen. Nur hier war noch ein Weg nach oben oder unten frei, und sobald er unten angekommen war, würde er auch diese Lücke schließen. Sein schwerer Medizinkoffer schlug genau im Takt mit dem Klappern des Stocks gegen seinen Oberschenkel.
Unter ihm wurden die Maschinen lauter. Es gab keinen Winkel in der Kathedrale, wo man ihr Knirschen und Mahlen nicht hören konnte, sofern es keine anderen Geräusche gab. Doch weiter oben musste sich der Lärm der Verbrennungs- und Antriebsmaschinen gegen die Orgelmusik und den Gesang des Chors durchsetzen. Und das Gehirn filterte das schwache Hintergrundgeräusch bald aus.
Hier war das anders. Grelier musste die Zähne zusammenbeißen, um das schrille Winseln der Turbinen zu ertragen. Er hörte das leise Klirren der massiven Kurbelstangen und der Exzenter. Das Stampfen der Kolben, das Klicken, mit dem sich die Ventile öffneten und schlossen. Das Klappern der Relais und die leisen Stimmen der Techniker.
Mit klapperndem Krückstock und einsatzbereitem Medizinkoffer ging er weiter.
Er erreichte die letzte Windung. Das Tor quietschte in den Angeln: Der Riegel war nicht eingeschnappt. Da hatte es wohl jemand ziemlich eilig gehabt. Er schritt hindurch, hielt an und nahm den Medizinkoffer zwischen die Beine. Dann zog er den Schlüssel aus der Brusttasche und verschloss das Tor. Nun konnte auch von hier aus niemand mehr nach oben. Er hob den Koffer wieder auf und ging gemächlich weiter.
Grelier blickte sich um. Der Flüchtling war nirgendwo zu sehen; es gab hier viele Verstecke. Das kümmerte ihn nicht weiter: Früher oder später würde er den Mann mit den dicken Fingern schon finden. Er konnte sich Zeit lassen, um sich umzusehen. Für ihn war der Besuch eine willkommene Abwechslung. Er kam nicht oft hier herunter, und der Raum beeindruckte ihn immer wieder.
Der Maschinenraum belegte das unterste der belüfteten Stockwerke fast völlig. Er war mit seinen zweihundert Metern so lang wie die ganze fahrende Kathedrale. Seine Breite betrug hundert Meter, und bis an den Scheitelpunkt des prächtigen Deckengewölbes war er fünfzig Meter hoch. Abgesehen von einer Lücke an den Wänden und einer zweiten ein Dutzend Meter unterhalb der Decke war alles angefüllt mit riesigen Maschinen. Die Kolosse waren nicht so abstrakt und monumental wie die Triebwerke eines Raumschiffs, aber gerade durch ihre vermeintliche Vertrautheit fühlte man sich leicht von ihnen bedroht. Raumschifftriebwerke waren gefühllose Ungetüme, die einen Menschen gar nicht wahrnahmen. Wenn er ihnen in die Quere kam, wurde er binnen eines Lidschlags schmerzlos vernichtet und hörte auf zu existieren. Die Maschinen hier waren dagegen trotz ihrer Größe klein genug, um einen Menschen zu bemerken, und wer ihnen im Weg stand, musste damit rechnen, verkrüppelt oder zerquetscht zu werden.
Und dieser Tod wäre weder schnell noch schmerzlos.
Grelier hielt seinen Krückstock an das hellgrüne Gehäuse einer Turbine und spürte das kraftvolle Pulsieren der gefangenen Energien. Im Geiste sah er, angetrieben vom Heißdampf aus dem Atomreaktor, die Schaufeln rotieren. Die kleinste Schwachstelle in einer dieser Schaufeln würde genügen, um die Turbine explodieren zu lassen. Den Trümmerbeschuss konnte im Umkreis von fünfzig Metern nichts überleben. Solche Katastrophen ereigneten sich dann und wann; hinterher kam er meist herunter, um die Bescherung zu beseitigen. Das waren immer spannende Momente.
Der größte Brocken war der Reaktor – das Atomkraftwerk der Kathedrale, eine flaschengrüne Kuppel am hinteren Ende des Raumes. Er funktionierte, und er war billig, das war das Positivste, was man über ihn sagen konnte. Auf Hela selbst gab es keine natürlichen Vorkommen von Nuklearmaterial, aber die Ultras sorgten zuverlässig für Nachschub. Diese Art der Energieerzeugung mochte schmutzig und gefährlich sein, aber sie war wirtschaftlicher als Antimaterie und einfacher zu bedienen als ein Fusionskraftwerk. Sie hatten alles durchgerechnet: Um das hiesige Eis so aufzubereiten, dass es zur Fusion verwendet werden konnte, hätte man eine eigene Raffinerie gebraucht, die allein so groß gewesen wäre wie der ganze Maschinenraumkomplex. Aber die Kathedrale konnte nicht weiter ausgebaut werden, das ließen der Weg und die Teufelstreppe nicht zu. Außerdem tat der Reaktor seinen Dienst, er lieferte so viel Energie, wie die Kathedrale benötigte, und die Arbeiter erkrankten nicht allzu oft.
Aus dem höchsten Punkt der Kuppel wuchs ein Bündel silbrig glänzender Dampfrohre, die in scheinbar unmotivierten Windungen und Krümmungen den ganzen Raum durchquerten und schließlich in zweiunddreißig Turbinen mündeten, welche in zwei Reihen zu je acht Stück zweifach übereinander gestapelt waren. Der ganze summende Komplex steckte in einem Käfig von Laufstegen, Inspektionsplattformen, Zugangstunnels, Leitern und Frachtaufzügen. Die Turbinen trieben Dynamos, die den Dampf aus den Rohren in elektrischen Strom umwandelten und in die vierundzwanzig Antriebsmaschinen einspeisten, die in zwei Zwölferreihen auf ihnen saßen. Diese wiederum wandelten die elektrische Energie in mechanische Kraft um und bewegten so die großen gelenkig miteinander verbundenen Kolben- und Kurbelstangen, von denen die Kathedrale bewegt wurde. Von den zwölf Maschinen auf jeder Seite waren immer nur zehn in Betrieb: Die beiden anderen befanden sich im Leerlauf und wurden zugeschaltet, wenn einer oder mehrere von den anderen für Reparaturen abgekoppelt wurden.
Die mechanischen Teile führten von den Antriebsmaschinen zu den beiden Seitenwänden und über druckfeste Dichtungen, die genau über den Lagern der Kuppelstangen saßen, ins Freie. Diese Dichtungen waren vermutlich ein Problem, dachte Grelier: Der Verschleiß war so hoch, dass sie häufig ausgewechselt werden mussten. Aber die mechanische Bewegung, die im Maschinenraum erzeugt wurde, musste irgendwie durch die Wände ins Vakuum übertragen werden.
Über ihm schoben sich die Kuppelstangen traumhaft langsam in präzise koordinierten Wellen, die sich, beginnend am vorderen Ende des Raumes, nach hinten fortsetzten, vor und zurück und auf und ab. Eine komplizierte Konstruktion von kleinen Kurbelstangen und Exzentern verband sie miteinander und synchronisierte ihre Bewegungen. Laufstege, die sich in schwindelnder Höhe an den riesigen Metallbalken vorbeischlängelten, ermöglichten es den Technikern, Gelenke zu schmieren und Schwachstellen auf Materialermüdung zu untersuchen. Die Arbeit war riskant: Jede Unaufmerksamkeit konnte dazu führen, dass der Techniker als unerwünschtes Schmiermittel zwischen die Teile gelangte.
Das war natürlich nicht alles. Die Organisation des Maschinenraums umfasste noch sehr viel mehr. Irgendwo war eine kleine Gießerei Tag und Nacht damit beschäftigt, Ersatzteile herzustellen. Die großen Komponenten mussten in Werken am Rand des Weges produziert werden, aber der Zeitaufwand für Bestellung und Lieferung war hoch. Die Maschinenraumtechniker waren stolz darauf, dass sie sich bei kurzfristigen Reparaturen zu behelfen wussten und oft einzelne Teile für eine ganz andere als die ursprünglich vorgesehen Funktion verwendeten. Letztlich ging es nur um eines: Die Kathedrale musste um jeden Preis in Bewegung bleiben. Man verlangte nichts Unmögliches von ihnen – die Geschwindigkeit betrug schließlich nur ein Drittel Meter pro Sekunde. Ein Mensch konnte schneller kriechen. Nicht die Geschwindigkeit war also das Problem, sondern die Tatsache, dass die Fahrt niemals unterbrochen werden durfte.
»Generalmedikus, kann ich Ihnen helfen?«
Grelier sah sich um: Von einem der Laufstege schaute ein Mann zu ihm herab. Er trug den grauen Overall eines Maschinenraumtechnikers, und seine Hände, die den Handlauf umfassten, steckten in übergroßen Handschuhen. Sein kugelrunder Kopf war mit bläulichen Stoppeln bedeckt, um den Hals hatte er ein schmutziges Tuch gebunden. Grelier erkannte ihn. Es war Glaur, einer der Schichtleiter.
»Könnten Sie vielleicht kurz herunterkommen?«, bat er.
Glaur überquerte sofort den Laufsteg und verschwand zwischen den Maschinen. Grelier klopfte mit seinem Krückstock gelangweilt gegen den genieteten Metallboden, während er auf ihn wartete.
»Was gibt es, Generalmedikus?«, fragte Glaur, als er endlich unten war.
»Ich suche einen Mann«, erklärte Grelier, ohne sein Anliegen zu begründen. Wozu auch? »Aber er ist nicht von hier, Glaur. Hatten Sie unerwarteten Besuch?«
»Wen meinen Sie denn?«
»Den Chormeister. Sie kennen ihn sicher. Den mit den dicken Fingern.«
Glaur schaute zurück zu den Kuppelstangen, die langsam hin und her schwangen, als würden sie wie die Ruder einer Galeere aus biblischer Zeit von hunderten von Sklaven bewegt. Vermutlich wäre der Schichtleiter viel lieber da oben und würde sich den kalkulierbaren Risiken der Maschinerie aussetzen, als hier unten durch die tückischen Gewässer der Kathedralenpolitik zu navigieren, dachte Grelier.
»Ich habe einen Mann gesehen«, bestätigte Glaur. »Er ist erst vor ein paar Minuten durch die Halle gegangen.«
»Und hatte es dabei wohl ziemlich eilig?«
»Ich dachte, er wäre im Auftrag des Glockenturms unterwegs.«
»War er nicht. Haben Sie eine Ahnung, wo ich ihn jetzt finden könnte?«
Glaur sah sich um. »Vielleicht ist er über eine der Treppen nach oben gestiegen.«
»Nicht anzunehmen. Ich denke, er ist hier noch irgendwo. In welche Richtung war er denn unterwegs, als Sie ihn sahen?«
Grelier entging nicht, dass der Schichtleiter kurz zögerte. »Zum Reaktor«, sagte er dann.
»Danke.« Grelier klopfte noch einmal kräftig mit dem Krückstock auf den Boden, dann ließ er den Mann einfach stehen. Er hatte, was er wollte.
Auch er strebte nun dem Reaktor zu, widerstand aber der Versuchung, seine Schritte zu beschleunigen. Gemächlich dahinschlendernd, schlug er mit seinem Stock immer wieder auf den Boden oder auf jede andere Resonanzfläche, an der er vorüberkam. Wenn er eines der verglasten und vergitterten Gucklöcher im Boden erreichte, blieb er kurz stehen und sah zu, wie zwanzig Meter unter ihm der Boden vorbeiglitt. Die Kathedrale bewegte sich sehr ruhig, die Tritte der zwanzig gepanzerten Beine wurden von Technikern wie Glaur perfekt synchronisiert.
Vor ihm ragte der Reaktor auf. Bis hinauf zum Scheitelpunkt zogen sich ringförmige Laufstege um die Kuppel. Da und dort waren Sichtfenster aus dickem, schwarzem Glas in die Wände genietet.
Auf dem zweiten Laufsteg von unten verschwand soeben ein Ärmel um die Biegung.
»Hallo«, rief der Generalmedikus. »Sind Sie das, Vaustad? Ich hätte ein Wörtchen mit Ihnen zu reden.«
Keine Antwort. Grelier ging ohne Eile um den Reaktor herum. Über ihm vibrierten die Gitterroste unter den hastigen Schritten eines Läufers, der immer außer Sicht blieb. Grelier lächelte. Vaustad stellte sich erschütternd dumm an. Unten im Antriebsbereich gab es hundert Verstecke. Aber der Chormeister folgte seinen Affeninstinkten und suchte sein Heil in der Höhe, obwohl er damit geradewegs in eine Sackgasse rannte.
Grelier erreichte die Leiter nach oben. Der Zugang war mit einer Gittertür verschlossen. Er passierte die Pforte und sperrte sie hinter sich ab. Mit dem Medizinkoffer in der Hand konnte er nicht klettern, also stellte er ihn auf dem Boden ab. Den Krückstock klemmte er sich unter den Arm, dann zog er sich Sprosse für Sprosse bis zum ersten Laufsteg empor.
Um Vaustad noch mehr zu verunsichern, ging er einmal um die Kuppel herum, schaute leise vor sich hin summend über den Antriebsbereich und schlug hin und wieder mit seinem Stock gegen die gewölbte Metallwand des Reaktors oder gegen das schwarze Glas eines Kontrollfensters. Das Glas erinnerte ihn an die pechschwarzen Splitter im vorderen Fenster der Kathedrale, und er fragte sich, ob es sich womöglich um das gleiche Material handelte.
Zur Sache.
Er war wieder an der Leiter angekommen und stieg zur nächsten Ebene hinauf. Dieses jämmerliche Getrippel wie von einer Laborratte war immer noch zu hören.
»Vaustad? Nun seien Sie ein braver Junge und kommen Sie herunter. Es geht auch ganz schnell.«
Das Getrippel hörte nicht auf. Die Schritte hinter dem Reaktor wurden durch das Metall der Hülle übertragen.
»Dann muss ich eben zu Ihnen kommen.«
Wieder umrundete er den Reaktor. Er war jetzt auf gleicher Höhe mit den Kuppelstangen. Obwohl er sich in sicherer Entfernung befand, kamen sie ihm – durch die perspektivische Verkürzung – wie Scherenblätter vor, die durch die Luft sausten. Glaurs Techniker, die inmitten dieser Maschinerie ihre Kontrollgänge machten und Teile ölten, bewegten sich wie in einem magischen Käfig, der sie vor Verletzungen schützte.
Der Saum eines Hosenbeins verschwand um die Biegung. Die Schritte wurden schneller. Grelier blieb lächelnd stehen und beugte sich über den Rand. Er war fast am Ziel. Er fasste den Knauf seines Krückstocks und drehte daran.
»Hinauf oder hinunter?«, flüsterte er. »Hinauf oder hinunter?«
Hinauf. Das Klappern entfernte sich nach oben, zum nächsthöheren Ring. Grelier schwankte zwischen Genugtuung und Enttäuschung. Wenn der Mann hinunterstiege, wäre die Jagd zu Ende. Der Fluchtweg war versperrt, Grelier könnte ihn ohne Mühe mit seinem Krückstock betäuben. War sein Opfer erst ruhig gestellt, dann dauerte es allenfalls noch ein bis zwei Minuten, um ihm die Injektion zu verpassen. Sehr ökonomisch, aber wo blieb der Spaß bei der Sache?
Auf diese Weise bekam er wenigstens eine Verfolgungsjagd. Der Ausgang wäre doch immer der gleiche: Der Mann würde in die Enge getrieben und müsste sich ergeben. Ein leichter Stoß mit dem Krückstock, und er wäre Wachs in Greliers Händen. Natürlich müsste er ihn noch die Leiter hinunterbefördern, aber dabei könnte ihm einer von Glaurs Leuten helfen.
Grelier stieg zum nächsten Laufsteg empor. Er war schmaler als die beiden unteren und verlief, der Kuppelwölbung folgend, weiter innen. Darüber gab es nur noch eine Ebene, die über eine sanft ansteigende Rampe zu erreichen war. Diese Rampe ging Vaustad soeben hinauf.
»Da oben ist der Weg zu Ende«, sagte der Generalmedikus. »Kehren Sie um, und wir vergessen die ganze Sache.«
Den Teufel würde er tun. Aber Vaustad war ohnehin nicht mehr ansprechbar. Er war jetzt am Scheitelpunkt und sah sich nach seinem Verfolger um. Dicke Finger, ein Gesicht wie ein Mondkalb. Es war der Gesuchte, aber daran hatte Grelier nie wirklich gezweifelt.
»Lass mich in Frieden«, schrie Vaustad. »Lass mich endlich in Frieden, du elender Blutsauger.«
»Nur Stöcke und Steine brechen mir die Beine«, sagte Grelier und lächelte nachsichtig, klopfte mit seinem Krückstock gegen den Handlauf und betrat die Rampe.
»Du kriegst mich nicht«, rief Vaustad. »Ich will nicht mehr. Ich habe die Albträume satt.«
»Nun haben Sie sich doch nicht so. Ein kleiner Stich, und alles ist vorüber.«
Vaustad legte Arme und Beine um eines der silbrig glänzenden Dampfrohre, die hier die Reaktorkuppel verließen, und begann zu klettern. Die Metallstege gaben ihm Halt. Es sah nicht sehr elegant aus, und er kam nur langsam voran, dennoch wurde sein Vorsprung stetig größer. Hatte der Mann das so geplant? fragte sich Grelier. Es war ein Fehler gewesen, nicht an die Rohre zu denken.
Aber wo sollte der Flüchtling letztlich hin? Die Rohre führten doch nur wieder in die Halle zu den Turbinen und Antriebsmotoren zurück. Die Jagd verlängerte sich zwar, aber seine Chancen verbesserten sich dadurch nicht.
Grelier erreichte den höchsten Punkt der Kuppel. Vaustad befand sich etwa einen Meter über ihm. Der Generalmedikus hob seinen Krückstock und stieß damit nach den Fersen des Chormeisters, traf aber nicht; der Mann hatte schon zu viel Höhe gewonnen. Grelier verstärkte die Betäubungswirkung, indem er den Stockknauf noch ein Stück weiter aufdrehte, und berührte mit dem Stockende die Rohre. Vaustad stieß einen spitzen Schrei aus, kletterte aber weiter. Noch eine Vierteldrehung: Das war das Maximum, diese Stärke wäre bei direkter Berührung tödlich. Er tippte kurz mit der Spitze an das Metall. Vaustad umklammerte krampfhaft das Rohr und wimmerte mit zusammengebissenen Zähnen, konnte sich aber immer noch halten.
Greliers Krückstock war entladen, er ließ ihn fallen. Die Sache hatte eine unvorhergesehene Wendung genommen.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte der Medikus spöttisch. »Nun kommen Sie schon runter, sie werden sich noch wehtun.«
Vaustad kletterte weiter, ohne zu antworten.
»Sie werden sich ernsthaft verletzen«, warnte Grelier.
Vaustad hatte die Stelle erreicht, wo das Rohr abbog und waagrecht durch die Halle zum Turbinenkomplex führte. Grelier rechnete damit, dass er jetzt aufgab. Er hatte seinen Standpunkt deutlich gemacht. Doch Vaustad schob sich um die Krümmung herum, legte sich von oben auf das Rohr und umklammerte es mit Armen und Beinen. Jetzt war er dreißig Meter über dem Boden.
Inzwischen hatte sich eine kleine Zuschauermenge eingefunden. Etwa ein Dutzend von Glaurs Männern standen unten in der Halle beisammen und schauten herauf. Auch zwischen den Kuppelstangen bewegte sich nichts mehr.
»Das ist eine Angelegenheit des Glockenturms«, warnte Grelier. »Gehen sie an Ihre Arbeit zurück.«
Die Männer zerstreuten sich, aber die meisten von ihnen würden auch weiterhin mit einem Auge das Geschehen verfolgen. War etwa schon der Punkt erreicht, wo er Hilfe vom Offizium anfordern musste? Hoffentlich nicht; er tat sich viel darauf zugute, dass er solche Dinge allein erledigte. Aber bei Vaustad wurde es allmählich unerfreulich.
Der Chormeister hatte sich in der Waagrechten etwa zehn Meter weiter vorgeschoben und den Reaktorbereich verlassen. Nun war nichts mehr zwischen ihm und dem Boden. Ein Sturz aus dreißig Metern auf harten Untergrund wäre wohl auch bei Helas geringer Schwerkraft tödlich.
Grelier schaute nach vorne. Das Rohr hatte in gewissen Abständen dickere Rippen und war dort mit dünnen Metallseilen an der Decke aufgehängt. Vaustad war noch etwa fünf Meter von der nächsten derartigen Befestigung entfernt. An diesem Hindernis würde er unmöglich vorbeikommen.
»Na schön«, sagte Grelier so laut, dass er den Lärm der Maschinen übertönte. »Ich habe verstanden. Wir hatten alle etwas zu lachen. Machen Sie jetzt kehrt, damit wir vernünftig miteinander reden können.«
Aber Vaustad war wie von Sinnen. Er hatte die Aufhängung erreicht und rutschte seitlich am Rohr herab, um sich daran vorbeischieben zu können. Wie in Trance sah Grelier zu. Er wusste, dass Vaustad es nicht schaffen würde. Schon für einen jungen, sportlichen Mann wäre es schwierig gewesen, und Vaustad war weder das eine noch das andere. Jetzt war er genau über dem Hindernis, ein Bein hing haltlos herab, mit dem anderen versuchte er sich abzustoßen. Eine Hand umklammerte das Metallseil, mit der anderen tastete er nach der nächsten Rippe. Als er sich streckte, rutschte er auch mit dem zweiten Bein vom Rohr ab. Nun hing er mit dem ganzen Gewicht an einer Hand, mit dem anderen Arm fuchtelte er, Halt suchend, in der Luft herum.
»Ruhe bewahren!«, rief Grelier. »Nicht bewegen, dann wird alles gut. Wenn Sie nicht zappeln, können Sie durchhalten, bis Hilfe kommt!«
Wieder hätte sich ein junger Mann, der gut in Form war, selbst mit einer Hand so lange festhalten können, bis die Rettung eintraf. Aber Vaustad war übergewichtig und verweichlicht und hatte es bisher noch nie nötig gehabt, seine Muskeln zu gebrauchen.
Grelier sah, wie sich seine Hand vom Seil löste. Vaustad stürzte ab und landete mit einem dumpfen Schlag, der vor dem Maschinenlärm kaum zu hören war, auf dem Boden. Er hatte weder geschrien noch laut gekeucht. Nun lag er auf dem Rücken, seine Augen waren geschlossen, aber sein Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass er auf der Stelle tot gewesen war.
Grelier hob seinen Stock wieder auf, klemmte ihn sich unter den Arm und stieg die Rampe und die Leitern hinab. Am Fuß des Reaktors angekommen, holte er den Medizinkoffer und schloss die Gittertür auf. Als er Vaustad erreichte, hatten sich bereits ein halbes Dutzend von Glaurs Technikern um die Leiche versammelt. Grelier wollte sie wegscheuchen, doch dann ließ er es sein. Mochten sie doch sehen, wie beim Offizium gearbeitet wurde.
Er kniete neben Vaustad nieder und öffnete den Koffer. Ein Schwall kalter Luft schlug ihm entgegen. Innen gab es zwei Abteilungen. Oben steckten die vom Blutzoll-Offizium frisch gefüllten Spritzen für die Auffrischungsimpfung. Jede Spritze trug ein Etikett, auf dem Serotyp und Virusstamm vermerkt waren. Eine davon war für den Chormeister bestimmt gewesen und musste nun anderweitig Verwendung finden.
Er rollte Vaustads Ärmel zurück. War da noch ein schwacher Puls zu spüren? Das würde vieles erleichtern. Einem Toten Blut abzunehmen, war nicht so einfach. Auch wenn er noch nicht kalt war.
Er griff in das Abteil mit den leeren Spritzen und hielt eine davon feierlich gegen das Licht.
»Der Herr gibt«, sagte er, stieß Vaustad die Nadel in die Vene und zog den Kolben zurück. »Und manchmal nimmt er auch.«
Er hörte erst auf, nachdem er drei Spritzen gefüllt hatte.
Grelier zog die Gittertür zur Wendeltreppe hinter sich ins Schloss. Eigentlich war er froh, dem vorwurfsvollen Schweigen zu entkommen. Manchmal erschien ihm der Antriebsbereich wie eine Kathedrale innerhalb der Kathedrale, eine eigene Welt mit ungeschriebenen Gesetzen. Er wusste, wie man Menschen kontrollierte, aber da unten – zwischen all den Maschinen – war er nicht in seinem Element. Er hatte sich bemüht, aus der Sache mit Vaustad so gut wie möglich herauszukommen, aber jedermann wusste, dass er den Mann gesucht hatte, um ihm Blut einzuspritzen, und nicht, um es abzunehmen.
Auf halbem Wege nach oben hielt er an einer Sprechstelle an und bestellte beim Offizium ein Team, das die Leiche abholen sollte. Er würde einiges zu erklären haben, aber darüber machte er sich weiter keine Gedanken.
Grelier nahm zum Glockenturm den langen Weg durch die Haupthalle. Er hatte es nicht sonderlich eilig, Quaiche nach dem Vaustad-Debakel unter die Augen zu treten. Außerdem hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, jedes Mal, wenn er hinauf- oder hinunterging, wenigstens eine Runde durch die Halle zu drehen. Sie war der größte Raum in der ganzen Kathedrale und – abgesehen vom Antriebsbereich – der einzige Ort, wo er die leichte Platzangst nicht spürte, die ihn in jedem anderen Teil des mobilen Gebäudes quälte.
Nicht nur die Kathedrale war im Laufe ihrer Geschichte immer weiter gewachsen, auch die Halle war häufig umgestaltet und erweitert worden. Ein flüchtiger Beobachter bemerkte davon nicht viel, aber Grelier hatte die meisten Veränderungen miterlebt und sah so manches, was anderen vielleicht entging. Wo man Innenwände entfernt oder versetzt hatte, waren Narben zurückgeblieben. Man konnte auch noch erkennen, wo die ursprüngliche, sehr viel niedrigere Decke gewesen war. Die neue war vor dreißig oder vierzig Jahren eingezogen worden – ein Riesenprojekt auf einer luftlosen Welt wie Hela, besonders da der Raum während des Umbaus weiter benutzt wurde und die Kathedrale sich natürlich ununterbrochen fortbewegen musste. Der Chor hatte während der gesamten Arbeiten gesungen, ohne einen Ton auszulassen, und die Zahl der Todesfälle unter den Bauarbeitern hatte sich im Rahmen gehalten.
Grelier blieb vor dem Glasfenster an der rechten Seite stehen. Das farbige Kunstwerk war einige Dutzend Meter hoch und wurde von mehreren gegliederten Steinbögen umrahmt und von einer Rosette gekrönt. Grundgerüst, Antriebsmechanik und Außenverkleidung der Kathedrale bestanden zwangsläufig fast ausschließlich aus Metall, aber innen hatte man die Wände weithin mit dünnem Sichtmauerwerk verblendet. Das Material war zum Teil aus heimischen Mineralien gewonnen worden, den Rest – den zartgelben Kalkstein wie den erlesenen rötlichweißen Marmor – hatte man von den Ultras importieren lassen. Einige der Steine stammten angeblich sogar aus Kathedralen auf der Erde. Grelier war in diesem Punkt sehr misstrauisch: Er hielt irgendeinen nahen Asteroiden für wahrscheinlicher. Ähnlich erging es ihm mit den heiligen Reliquien, die in Nischen zur Schau gestellt und von Kerzen beleuchtet wurden. Wie alt sie tatsächlich waren, und ob sie wirklich von Goldschmieden aus dem Mittelalter gefasst oder von Nanoreplikatoren hergestellt worden waren, ließ sich nur vermuten.
Woher die Steine im Rahmen auch kamen, das Glasfenster selbst war jedenfalls eine Augenweide. Im rechten Licht erstrahlte es nicht nur in seiner vollen Pracht, sondern übertrug diese Pracht auch auf alle Dinge und Personen in der Halle. Dabei kam es weniger darauf an, was es darstellte – es wäre auch schön gewesen, wenn die bunten vakuumdichten Glasbausteine nur abstrakte kaleidoskopische Muster gebildet hätten –, aber Grelier achtete besonders auf die Bilder. Sie wurden auf Anweisung von Quaiche persönlich von Zeit zu Zeit verändert. Wenn es dem Generalmedikus schwer fiel, aus dem Dekan klug zu werden (was immer häufiger der Fall war), gewährten ihm die Fenster zusätzlichen Einblick in den Geisteszustand seines Herrn und Meisters.
So war es auch jetzt: Als er sich das Fenster zum letzten Mal angesehen hatte, war das Thema Haldora gewesen, eine stilisierte Darstellung des Planeten aus ockergelben und bräunlichen Glasteilen. Der Gasriese stand vor einem blauen Hintergrund, die umliegenden Sterne waren mit gelben Splittern angedeutet. Davor breitete sich eine Felswüste aus schwarzen und weißen Scherben aus. Quaiches abgestürztes Schiff lag golden funkelnd zwischen den Steinblöcken. Quaiche selbst kniete in einer Kutte, mit langem Bart, davor auf dem Boden und hob flehentlich eine Hand zum Himmel. Das vorletzte Bild hatte die Kathedrale gezeigt, wie sie gleich einem winzigen Segelschiff auf stürmischer See im Zickzack die Teufelstreppe hinabfuhr. Alle anderen Kathedralen folgten ihr in weitem Abstand, und am Himmel stand in etwas kleinerer Ausführung Haldora.
Was davor gewesen war, wusste er nicht mehr so genau, vielleicht eine bescheidenere Variation des Themas abgestürztes Raumschiff.
Was das Fenster jetzt zeigte, war deutlich zu erkennen. Viel schwerer war zu beurteilen, was die Darstellungen für Quaiche bedeuteten. Ganz oben in der Rosette stand Haldora mit seinem bebänderten Antlitz. Darunter breiteten sich mehrere Quadratmeter Sternenhimmel aus, der dank einer unbekannten Färbetechnik in allen Farben von Dunkelblau bis Gold spielte. Den größten Teil der Fläche nahm eine turmhohe Kathedrale ein, ein kopflastiges Ungetüm mit zahllosen wimpelbewehrten Türmchen und Zinnen. Die Fluchtpunktperspektive machte deutlich, dass sich die Kathedrale exakt unter Haldora befand. So weit, so gut: Schließlich war Sinn und Zweck einer Kathedrale, genau unter dem Gasriesen zu bleiben. Aber diese Kathedrale war deutlich größer als alle ihre Schwestern auf dem Ewigen Weg. Sie war wie eine Festung. Und wenn Grelier das richtig sah, dann war sie eine Fortsetzung der Felslandschaft im Vordergrund, kein mobiles Gebäude, sondern ein Bauwerk auf festem Fundament. Vom Ewigen Weg war nichts zu sehen.
Das Fenster gab ihm Rätsel auf. Quaiche bestimmte den Inhalt der Darstellungen, und er wählte im Allgemeinen sehr konkrete Motive. Die Szenen mochten übertrieben, bisweilen sogar ein wenig irreal sein (zum Beispiel, wenn Quaiche ohne Druckanzug vor seinem Schiff stand), es bestand zumindest andeutungsweise eine Beziehung zu tatsächlichen Ereignissen. Doch diesmal kam ihm das ganze Fenster vor wie eine einzige Metapher. Das fehlte noch, dass Quaiche ihm mit Metaphorik kam. Aber wie sollte er diese riesige, fest gegründete Kathedrale sonst verstehen? Vielleicht als Symbol für Quaiches festen, unverrückbaren Glauben? Schön, sagte sich der Generalmedikus: Du glaubst also immer noch, ihm folgen zu können, aber was machst du, wenn seine Botschaften noch nebulöser werden?
Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort. Auf der linken Seite der Kathedrale entdeckte er nichts, was ihm merkwürdig vorgekommen wäre. Das beruhigte ihn. Vielleicht war die neue Komposition nur eine vorübergehende Verirrung, und das Leben ging weiter wie immer.
An der Vorderseite der Kathedrale blieb er im Schatten des schwarzen Fensters stehen. Die Glassplitter waren unsichtbar: Nur die Bögen und Säulen des Mauerwerks waren schemenhaft zu erkennen. Dieses Fenster zeigte ohne jeden Zweifel ein anderes Bild als bei seinem letzten Besuch.
Grelier kehrte an die rechte Seite zurück und ging weiter bis zur Mitte. Hier lag der Eingang zum Glockenturm.
»Ich kann es nicht länger aufschieben«, sagte er zu sich selbst.
In ihrer Kabine löste Rachmika das Siegel vollends ab und faltete das Blatt auseinander. Das dicke, cremig weiße Papier war von einer Qualität, wie sie im Ödland nicht zu bekommen war. Auf der Innenseite stand in sauberer, aber kindlicher Schrift, eine kurze Nachricht.
Sie erkannte die Handschrift sofort.
Liebe Rachmika,bitte entschuldige, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen. Nun wurde dein Name in den Nachrichten aus der Vigrid-Region erwähnt. Es hieß, du wärst von zu Hause weggelaufen, und da kam mir der Verdacht, du wolltest mich suchen, um zu erfahren, wie es mir seit meinem letzten Brief ergangen ist. Als ich außerdem hörte, eine Karawane, die du mit einiger Hilfe hättest erreichen können, sei auf dem Weg hierher, da war ich ganz sicher. Ich erkundigte mich nach den Namen der Passagiere, und nun schreibe ich dir diesen Brief.
Du wirst nicht verstehen können, warum ich schon so lange nicht mehr an dich oder die Eltern geschrieben habe. Aber es wäre nicht richtig gewesen, denn alles ist anders geworden. Du hattest damals vollkommen Recht. Sie hatten mich von Anfang an belogen. Sobald ich den Weg erreichte, bekam ich das Blut des Dekans. Du hast das sicherlich schon aus meinen ersten Briefen herausgelesen. Zunächst war ich wütend, doch inzwischen habe ich erkannt, dass es gut war. Was geschehen ist, ist geschehen, und wenn sie mir die Wahrheit gesagt hätten, wäre ich nicht mitgekommen. Sie mussten lügen, es war zum Wohl des Ganzen. Ich bin jetzt so glücklich wie niemals zuvor. Ich habe eine Aufgabe gefunden und stehe im Dienst eines Höheren. Ich fühle mich geborgen in der Liebe des Dekans und spüre in seiner Liebe die Liebe des Schöpfers. Du kannst das weder verstehen noch billigen, Rachmika, und deshalb habe ich mich nicht mehr gemeldet. Ich wollte nicht lügen, aber ich wollte auch niemanden kränken. So war es am besten zu schweigen.
Dass du jetzt nach mir suchst, rechne ich dir hoch an. Du bist sehr tapfer, und ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Aber du musst nach Hause zurückkehren, bevor ich noch mehr Unheil über dich bringe. Tu es für mich: Fahr wieder nach Hause ins Ödland, und sage allen, dass ich glücklich bin und dass ich sie liebe. Ich vermisse sie schrecklich, aber ich bereue nicht, was ich getan habe. Bitte. Tust du mir den Gefallen? Auch dich liebe ich von Herzen. Behalte mich so in Erinnerung, wie ich einst war, als deinen Bruder, nicht als das, was ich jetzt bin. Dann wird alles gut.In Liebe
Dein Bruder Harbin Els
Rachmika las den Brief noch einmal und suchte zwischen den Zeilen nach einer geheimen Botschaft. Dann legte sie ihn aus der Hand. Doch als sie ihn schließen wollte, hielt das Siegel nicht mehr.
Grelier gefiel zumindest die Aussicht. Quaiches Mansardenzimmer mit den vielen Fenstern lag zweihundert Meter über Helas Oberfläche an der Spitze des Glockenturms. Von hier aus konnte man nach beiden Seiten fast zwanzig Kilometer des Weges überblicken. Die Kathedralen reihten sich aneinander wie Perlen an einer kunstvoll geknüpften Kette. Nach vorne waren es nur einige wenige, doch nach rückwärts erstreckte sich der Zug bis hinter den Horizont. Im Vakuum waren auch die Spitzen der fernsten Türme unnatürlich klar zu erkennen und schienen viel näher zu sein, als es tatsächlich der Fall war. Grelier musste sich selbst daran erinnern, dass einige fast vierzig Kilometer entfernt waren und erst in mehr als dreißig Stunden, drei Vierteln eines Hela-Tages, die Stelle erreichen würden, an der sich die Morwenna gerade befand. Etliche Kathedralen lagen so weit zurück, dass nicht einmal die Spitzen ihrer Türme über den Horizont ragten.
Das Zimmer hatte die Form eines Sechsecks mit hohen gepanzerten Fenstern auf allen Seiten. Die Lamellen der Metalljalousien warteten nur auf einen Befehl von Quaiche, um sich so zu drehen, dass das Licht von allen Seiten abgeschirmt wurde. Im Moment war der Raum voll beleuchtet; Schattenstreifen zogen sich über jeden Gegenstand und jede Person. Überall standen Podeste mit Spiegeln, die so ausgerichtet waren, dass sie sich gegenseitig die Bilder zuwarfen. Als Grelier eintrat, empfingen ihn von allen Seiten Fragmente seines eigenen Spiegelbilds.
Er stellte den Krückstock in einen Holzständer neben der Tür.
Außer ihm waren zwei Personen im Raum. Quaiche, ein verschrumpeltes Männchen, lag wie üblich in seinem Krankenstuhl, der aussah wie eine barocke Wiege. Im hellen Tageslicht wirkte er noch mehr wie ein Gespenst als sonst, wenn die Jalousien geschlossen waren und das Turmzimmer im Halbdunkel lag. Die übergroße schwarze Sonnenbrille betonte die krankhafte Blässe seines schmalen Gesichts. Das im Krankenstuhl eingebaute Lebenserhaltungssystem summte, klickte und gurgelte nachdenklich vor sich hin. Gelegentlich verabreichte es seinem Schützling irgendein Medikament. Die weniger appetitlichen ärztlichen Verrichtungen fanden unter einer scharlachroten Decke statt, die Beine und Oberkörper verhüllte, nur hin und wieder wurde durch einen der vielen Schläuche eine giftgrüne oder stahlblaue Flüssigkeit, die niemand mit Blut verwechseln konnte, in seine Armvenen oder seine Schädelbasis gepumpt. Er sah krank aus, und in seinem Fall trog der Schein nicht.
Allerdings sah er schon seit Jahrzehnten so aus, dachte Grelier. Quaiche war ein uralter Mann, der alle verfügbaren Therapien zur Lebensverlängerung bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten ausreizte. Aber er ging dabei nie zu weit. Anscheinend brachte er nicht die Kraft auf, die Schwelle des Todes zu überschreiten.
Als sie unter Jasminas Kommando auf der Gnostische Himmelfahrt fuhren, waren sie biologisch etwa gleich alt gewesen, dachte Grelier. Doch dann hatte Quaiche einhundertzwölf Jahre Planetenzeit voll durchlebt, während er selbst nur dreißig Jahre wach gewesen war. Die Abmachung war ganz einfach gewesen, aber die Bedingungen für Grelier waren überaus großzügig.
»Ich finde Sie nicht sehr sympathisch«, hatte ihm Quaiche nach seiner Rückkehr auf die Gnostische Himmelfahrt erklärt. »Das haben Sie wahrscheinlich schon gemerkt.«
»Es war kaum zu übersehen«, antwortete Grelier.
»Aber ich brauche Sie. Sie können mir nützlich sein. Ich will nicht sterben. Nicht hier und nicht jetzt.«
»Was ist mit Jasmina?«
»Da wird Ihnen schon etwas einfallen. Ohne Sie bekommt sie schließlich keine Klone mehr.«
Dieses Gespräch hatte kurz nach Quaiches Rettung von der Brücke auf Hela stattgefunden. Sobald Jasmina die ersten Daten über das Bauwerk erhielt, hatte sie die Gnostische Himmelfahrt gedreht, war ins System 107 Piscium geflogen und um Hela in den Orbit gegangen. Auf dem Mond war es nicht mehr zu weiteren Angriffen gekommen: Später wurde festgestellt, dass Quaiche die einzigen drei Wachposten auf dem ganzen Mond ausgelöst hatte. Sie waren mindestens hundert Jahre zuvor von einem unbekannten früheren Entdecker der Brücke ausgesetzt und dann vergessen worden.
Das war allerdings nicht die ganze Wahrheit. Es gab noch eine weitere Drohne, aber das wusste nur Quaiche.
Quaiche war besessen von seinem Fund und traumatisiert von seinen Erlebnissen. Die wundersame Rettung war untrennbar verbunden mit dem Entsetzen über Morwennas schrecklichen Tod. Er hatte den Verstand verloren. Das war zumindest Greliers Diagnose, und in den vergangenen einhundertzwölf Jahren war nichts geschehen, was sie widerlegt hätte. In Anbetracht der Geschehnisse und in Anbetracht des Virus in seinem Blut, das seine Wahrnehmungen so entscheidend veränderte, war Quaiche mit dieser milden Form des Irreseins sogar noch glimpflich davongekommen. Er hatte den Bezug zur Wirklichkeit nicht völlig verloren und durchschaute – und manipulierte – mit scharfen Augen alles, was um ihn herum vorging. Allerdings sah er die Welt durch einen Schleier der Frömmigkeit. Er hatte sich selbst heilig gesprochen.
Sein Verstand sagte ihm, dass zwischen dieser Frömmigkeit und dem Virus irgendein Zusammenhang bestand. Andererseits verdankte er seine Rettung einem echten Wunder. In dieser Hinsicht waren die telemetrischen Aufzeichnungen der Dominatrix eindeutig: Sein Notruf war nur aufgefangen worden, weil Haldora für einen Sekundenbruchteil aufgehört hatte zu existieren. Die Dominatrix hatte auf das Signal reagiert und war sofort nach Hela gerast, um ihn zu retten, bevor sein Luftvorrat zu Ende ging.
Das Schiff war mit Maximalschub geflogen, um Hela möglichst schnell zu erreichen. Damit hatte es nur seine Pflicht getan. Es hatte die Beschleunigungsgrenzen ignoriert, die es hätte einhalten müssen, wenn Quaiche an Bord gewesen wäre. Leider hatte es mit seiner geringen Intelligenz dabei nicht an Morwenna gedacht.
Als Quaiche zurückkam, blieb der Eherne Panzer stumm. Später hatte er in seiner Verzweiflung das dicke Metall aufgeschnitten – obwohl er bereits wusste, dass Morwenna tot war. Er hatte mit den Händen hineingefasst in den Ekel erregenden roten Brei und war in Tränen ausgebrochen, als sie ihm durch die Finger rann.
Sogar die Metallteile ihres Körpers waren zermalmt gewesen.
Quaiche hatte also überlebt, aber er hatte dafür einen schrecklichen Preis bezahlt. An diesem Punkt hatten sich nur zwei simple Alternativen geboten. Er konnte sich von seinem Glauben befreien, konnte das Virus mit irgendeiner Therapie ausschwemmen, sodass in seinem Blut nichts davon übrig blieb. Dann müsste er für das, was er erlebt hatte, eine rationale, profane Erklärung finden. Und er müsste akzeptieren, dass er zwar selbst wie durch ein Wunder gerettet worden war, aber Morwenna – die einzige Frau, die er je wahrhaft geliebt hatte – für immer verloren hatte. Sie wäre gestorben, damit er leben konnte.
Die andere Möglichkeit – und für sie hatte er sich schließlich entschieden – bestand darin, alles so zu nehmen, wie es war. Sich dem Glauben zu unterwerfen und das Wunder als solches anzuerkennen. In diesem Fall wäre das Virus nur ein Katalysator gewesen. Es hätte ihn zum Glauben gedrängt, ihm ermöglicht, die Gegenwart des Heiligen zu spüren. Doch als ihm auf Hela die Zeit zwischen den Fingern zerrann, hatte er tiefere und stärkere Emotionen erlebt, als das Virus sie je geweckt hatte. War es möglich, dass es ihn nur empfänglicher gemacht hatte für das, was bereits vorhanden war? Dass es ihm, obwohl selbst künstlich geschaffen, die Fähigkeit verliehen hatte, reale, wenn auch nur sehr schwache Signale zu empfangen?
Wenn dem so wäre, dann hätte alles einen Sinn. Die Brücke hätte eine bestimmte Bedeutung. Er hätte ein Wunder erlebt, hätte um Rettung gefleht und wäre erhört worden. Und Morwennas Tod erfüllte eine unerklärliche, aber letztlich positive Aufgabe in dem großen Plan, in dem Quaiche selbst nur ein kleines tickendes, seiner selbst kaum bewusstes Rädchen war.
»Ich muss hier bleiben«, hatte er Grelier erklärt. »Ich muss auf Hela bleiben, bis ich die Antwort finde. Bis sie mir offenbart wird.«
So hatte er sich ausgedrückt: ›Bis sie mir offenbart wird.‹
Grelier hatte gelächelt. »Sie können nicht hier bleiben.«
»Ich werde einen Weg finden.«
»Sie wird es nicht zulassen.«
Doch dann hatte Quaiche einen Vorschlag gemacht, den der Generalmedikus kaum ablehnen konnte. Königin Jasmina war eine launische Herrin. Selbst nach Jahren in ihrem Dienst fiel es dem Generalmedikus schwer, sie einzuschätzen. Sein Verhältnis zu ihr war geprägt von panischer Angst vor ihrem Missfallen.
»Irgendwann geht es auch Ihnen an den Kragen«, hatte Quaiche gesagt. »Sie ist eine Ultra. Sie können sie weder durchschauen noch ihre Absichten erraten. Sie sind nur ein Möbelstück für sie. Sie sind ihr nützlich, aber Sie sind jederzeit ersetzbar. Sehen Sie dagegen mich an – ich bin ein Standardmensch wie Sie, ausgestoßen aus der Gesellschaft. Sie hat es selbst gesagt: Wir haben viel gemeinsam.«
»Weniger als Sie glauben.«
»Wir brauchen einander nicht zu lieben«, hatte Quaiche erklärt. »Es genügt, wenn wir zusammenarbeiten.«
»Was hätte ich davon?«, hatte Grelier gefragt.
»Zum Beispiel würde ich Ihr kleines Geheimnis für mich behalten. O ja, ich weiß Bescheid. Es war eine von Morwennas letzten Entdeckungen, bevor Jasmina sie in den Panzer steckte.«
Grelier hatte ihn fest angesehen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Ich meine die Körperfabrik«, sagte Quaiche. »Ihr kleines Problem mit Angebot und Nachfrage. Die Fabrik soll nicht nur Jasminas unstillbaren Durst nach frischen Körpern befriedigen, nicht wahr? Sie verfolgen damit auch Ihre eigenen Interessen. Sie sind scharf auf kleine, noch nicht voll entwickelte Körper. Sie holen sie aus den Tanks, bevor sie das Erwachsenenstadium erreichen – manchmal noch vor der Kindheit –, und treiben abscheuliche Dinge mit ihnen. Hinterher stecken Sie sie in die Tanks zurück und behaupten, sie wären nicht lebensfähig gewesen.«
»Sie haben kein Bewusstsein«, hatte Grelier zurückgegeben. Es klang wie eine Entschuldigung. »Was soll das eigentlich werden – ein Erpressungsversuch?«
»Nein, ich schlage Ihnen ein Geschäft vor. Sie helfen mit bei der Beseitigung Jasminas und bei einigen anderen Dingen, und ich sorge dafür, dass niemand von der Fabrik erfährt.«
Grelier war kleinlaut geworden. »Und was ist mit meinen Bedürfnissen?«
»Wenn das Ihre einzige Sorge ist, wird uns dazu schon etwas einfallen.«
»Warum sollte ich lieber für Sie arbeiten als für Jasmina? Sie sind doch genauso verrückt.«
»Mag sein«, hatte Quaiche gesagt. »Aber im Gegensatz zu ihr bin ich kein Mörder. Überlegen Sie es sich.«
Grelier hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass ein weiterer Verbleib auf der Gnostische Himmelfahrt kurzfristig nicht in seinem Interesse läge. Er beschloss, vorerst mit Quaiche zusammenzuarbeiten und sich bei nächster Gelegenheit eine bessere – weniger subalterne Stellung zu suchen.
Seither waren hundert Jahre vergangen, und er war immer noch da. Er hatte seine eigene Schwäche gewaltig unterschätzt. Denn die Ultras mit ihren Schiffen voller uralter, unzuverlässiger Kälteschlaftanks hatten Quaiche das perfekte Mittel geliefert, Grelier in seinen Diensten zu halten.
Doch davon hatte Grelier in den ersten Tagen ihrer Beziehung nichts geahnt.
Das erste Ziel war Jasminas Sturz gewesen. Sie hatten einen Dreistufenplan ausgearbeitet, der in jeder Phase größtes Fingerspitzengefühl erforderte. Eine Entdeckung hätte katastrophale Folgen gehabt, aber – davon war Grelier inzwischen überzeugt – die Königin hatte die ganze Zeit über kein einziges Mal Verdacht geschöpft, dass sich die beiden ehemaligen Rivalen gegen sie verschworen hatten.
Das bedeutete freilich nicht, dass alles nach Plan gelaufen wäre.
Zuerst hatte man Habitat-Module, Sensoren und Oberflächenfahrzeuge nach Hela gebracht und ein Lager errichtet. Auch einige Ultras waren mit heruntergekommen, aber das Leben auf einer Welt war ihnen zuwider und machte sie nervös. Sie konnten es kaum erwarten, auf ihr Schiff zurückzukehren. Für Grelier und Quaiche war dieses Lager dagegen der ideale Standort, um ihr schwieriges Bündnis zu festigen. Zudem hatten sie eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht, die ihrer Sache nur dienlich war. Schon bei den ersten Erkundungsausflügen in die nähere Umgebung hatten sie, noch unter den Augen von Jasmina, die ersten Flitzerfossilien gefunden. Jetzt hatte man wenigstens eine gewisse Vorstellung, wer oder was die Brücke gebaut haben könnte.
Die zweite Phase des Plans sah vor, Jasmina krank zu machen. Das war für Grelier als Herrn über die Körperfabrik ein Leichtes gewesen. Er hatte die Klone manipuliert, ihre Entwicklung verzögert und immer mehr Anomalien und Defekte ausgelöst. Jasmina konnte die Bindung an die Realität durch regelmäßige Schmerzzufuhr nicht mehr aufrechterhalten und geriet in Isolation. Darunter litt ihr Urteilsvermögen, und sie hatte das Geschehen kaum noch unter Kontrolle.
Nun konnte der Plan in die dritte Phase gehen: die Rebellion. Die beiden hatten vor, eine Meuterei anzuzetteln und die Gnostische Himmelfahrt in ihre Gewalt zu bringen. Einige von den Ultras – ehemalige Freunde von Morwenna – hatten gewisse Sympathien für Quaiche erkennen lassen. Quaiche und Grelier hatten bei ersten Erkundungen auf Hela einen vierten, voll funktionsfähigen Wachposten entdeckt, eine Drohne des gleichen Typs wie jene, die für den Absturz der Räubertochter verantwortlich gewesen waren. Nun hieß es, auf Jasmina einzuwirken, um die Gnostische Himmelfahrt in Reichweite des letzten Wachpostens zu bringen. Normalerweise hätte sie sich geweigert, sich einem Himmelskörper wie Hela auch nur auf Lichtstunden zu nähern, aber die Anziehungskraft der Brücke und der Flitzerfunde erwies sich als stärker als ihr Instinkt.
Hätte die Drohne die gewünschte Wirkung erzielt und einen oberflächlichen Schaden angerichtet, der aber unter der Besatzung Panik und Verwirrung auslöste, dann wäre das Schiff für eine Übernahme reif gewesen.
Aber es war anders gekommen. Der Angriff des Wachpostens war heftiger ausgefallen, als Quaiche gedacht hatte. Die Gnostische Himmelfahrt war tödlich getroffen worden. Quaiche hatte das Schiff nur lahm legen wollen, um es dann zu besetzen, doch stattdessen war es einfach hochgegangen. Um den Einschlag herum war es zu einer Welle von Explosionen gekommen, die sich immer weiter ausbreitete und schließlich die Synthetikertriebwerke erreichte. Dann waren über Hela zwei neue Sonnen erschienen. Als das Licht erlosch, war von Jasmina und dem großen Lichtschiff, das Quaiche und Grelier hierher gebracht hatte, nichts mehr übrig gewesen.
Quaiche und Grelier saßen fest.
Aber das war nicht ihr Untergang. Das bereits bestehende Lager lieferte alles, was sie brauchten, um auf Jahre hinaus zu überleben. Sie erkundeten mit Rovern das Gelände. Sie sammelten Flitzerfossilien und versuchten, die Körperpartien der exotischen Aliens zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen. Aber sie scheiterten immer wieder. Quaiche war wie besessen. Über ihm hing das geheimnisvolle Haldora. Unter ihm lagen die Flitzerteile, die kein taxonomisches Bild ergeben wollten. Er hatte sich mit Feuereifer auf beide Rätsel gestürzt. Er ahnte, dass sie in irgendeinem Zusammenhang standen, und hoffte, die Lösung würde ihm verraten, warum er gerettet und Morwenna geopfert worden war. Für ihn waren die Rätsel göttliche Prüfungen, und er traute nur sich allein zu, sie zu lösen.
So vergingen erst ein, dann zwei Jahre. Sie umrundeten Hela und scharrten mit den Fahrzeugen eine grobe Piste aus, die mit jeder neuen Runde deutlicher hervortrat. Sie wichen vom Äquator nach Norden und nach Süden ab und fuhren die Stellen an, wo die größten Fossilienvorkommen gefunden worden waren. Hier begannen sie zu graben, legten Stollen an und sammelten weitere Mosaiksteinchen. Danach kehrten sie jedes Mal wieder zum Äquator zurück, um zu überdenken, was sie entdeckt hatten.
Und eines Tages im zweiten oder dritten Jahr kam Quaiche die entscheidende Erkenntnis: Er musste eine weitere Auslöschung beobachten.
»Wenn es wieder geschieht, muss ich es sehen«, erklärte er Grelier.
»Aber wenn es – ohne besonderen Anlass – wieder geschieht, dann beweist das doch, dass es kein Wunder war.«
»Nein«, widersprach Quaiche mit Nachdruck. »Wenn es zweimal geschieht, dann hat Gott einen Grund, es mir nochmals zu zeigen, dann will er sicherstellen, dass ich nicht mehr daran zweifle, so etwas schon einmal erlebt zu haben.«
Grelier ging auf das Spiel ein. »Aber die telemetrischen Daten von der Dominatrix bestätigen doch, dass Haldora verschwunden ist. Genügt Ihnen das nicht?«
Quaiche winkte nur verächtlich ab. »Was sind schon Zahlen in elektronischen Registern? Ich will es mit eigenen Augen sehen. Darauf kommt es mir an.«
»Aber dann müssen Sie Haldora ständig beobachten, oder jedenfalls…« – Grelier verbesserte sich hastig – »so lange, bis es wieder verschwindet. Aber wie lange hat die letzte Auslöschung denn gedauert? Weniger als eine Sekunde? Weniger als einen Lidschlag? Wenn Sie sie nun verpassen?«
»Das darf eben nicht passieren.«
»Die Hälfte des Jahres ist der Planet doch gar nicht zu sehen.« Grelier schwenkte den Arm hoch über dem Kopf. »Haldora geht auf und unter.«
»Dann muss man ihm eben folgen. Beim ersten Mal brauchten wir weniger als drei Monate, um Hela zu umrunden; beim zweiten Mal blieben wir unter zwei Monaten. Noch einfacher wäre es, so langsam zu fahren, dass man mit Haldora Schritt hält. Ein Drittel Meter pro Sekunde würde genügen. Wenn man bei dieser Geschwindigkeit dicht am Äquator bleibt, steht Haldora immer senkrecht über einem. Nur die Landschaft verändert sich.«
Grelier hatte erstaunt den Kopf geschüttelt. »Sie haben sich das schon genau überlegt.«
»Das war nicht schwierig. Wenn wir die Rover miteinander verbinden, bekommen wir eine fahrende Beobachtungsplattform.«
»Und was ist mit Schlaf? Und mit den Lidschlägen?«
»Sie sind der Arzt«, hatte Quaiche entgegnet. »Finden Sie eine Lösung.«
Und das hatte er getan. Der Schlaf ließ sich mit Neurochirurgie und Medikamenten unterdrücken, die Ermüdungsgifte wurden mit einer leichten Blutwäsche ausgefiltert. Den Lidschlag schaltete er ebenfalls aus.
»Welche Ironie«, hatte er dabei bemerkt. »Genau das war es, was den Ehernen Panzer so beängstigend machte: kein Schlaf und eine immergleiche Sicht der Realität. Und jetzt verlangen Sie genau das.«
»Es hat sich manches geändert«, hatte Quaiche gesagt.
Jetzt stand Grelier im Turmzimmer des Dekans und hatte das Gefühl, die Jahre fielen einfach ab. Er hatte das vergangene Jahrhundert nur als eine Serie von Schnappschussepisoden erlebt, denn man hatte ihn immer nur dann aus dem Kälteschlaf geweckt, wenn Quaiche ihn dringend brauchte. An die erste Umrundung im gleichen Tempo wie Haldora erinnerte er sich gut. Sie hatten die Rover wie ein Floß zusammengebunden. Ein oder zwei Jahre später war, angelockt vom schwachen Energieblitz der zerstörten Gnostische Himmelfahrt, ein Ultra-Schiff aufgetaucht. Die Ultras waren neugierig, aber natürlich auch misstrauisch gewesen. Das Schiff blieb in sicherem Abstand, man schickte Abgesandte mit kleinen Fähren herunter, die entbehrlich waren. Quaiche handelte für Flitzerfossilien Ersatzteile und verschiedene Dienstleistungen ein.
Ein bis zwei Jahrzehnte nach Abschluss dieser Geschäfte traf ein weiteres Schiff ein. Diese Ultras waren ebenso misstrauisch und ebenso offen für Handelsbeziehungen. Die Flitzerfunde waren genau das, was der Markt wollte. Und dieses Schiff hatte nicht nur Ersatzteile anzubieten: Es beförderte Schläfer in seinem Frachtraum, unzufriedene Auswanderer aus einer Kolonie, von der weder Quaiche noch Grelier jemals gehört hatten. Die Nachricht über das Mysterium von Hela, die Gerüchte von einem Wunder – waren über Lichtjahre bis zu ihnen gedrungen.
So kam Quaiche zu seinen ersten Jüngern.
Tausende waren ihnen gefolgt, dann zehntausende und schließlich hunderttausende. Hela wurde für die Ultras zur lukrativen Zwischenstation im weit gespannten Netz des interstellaren Handels. Die Kernwelten, mit denen man früher Handel getrieben hatte, wurden nicht mehr angeflogen. Sie stöhnten unter Seuchen und Kriegen und seit neuestem unter einem womöglich noch schlimmeren Schicksal. Genaueres wusste man nicht: Von dort kamen nur sehr wenige Schiffe nach Hela, und die erzählten wirre Geschichten von seltsamen Besuchern aus dem interstellaren Raum, barbarischen Maschinen, uralt und grausam, die ganze Welten zerrissen und sich an organischem Leben mästeten, selbst aber nicht lebendiger waren als eine Uhr oder ein Modell des Sonnensystems. Wer jetzt nach Hela kam, wollte nicht nur die wundersame Auslöschung Haldoras erleben, sondern wähnte sich am Ende der Zeiten und betrachtete den Mond als geeignetes Ziel für eine letzte Pilgerfahrt, den Ort, an dem die Ereignisse ihrem Höhepunkt zustrebten.
Die Ultras beförderten diese Menschen gegen Bezahlung in ihren Schiffen. Sie selbst taten so, als wären Hela und was sich dort abspielte, für sie von allenfalls kommerziellem Interesse. Bei einigen stimmte das wahrscheinlich, aber Grelier kannte die Ultras besser als mancher andere, und er bemerkte in letzter Zeit immer wieder ein Flackern in ihrem Blick – eine existenzielle Angst, die nichts mit der Höhe ihrer Gewinnspannen zu tun hatte. Vermutlich hatten auch sie etwas entdeckt, hatten vielleicht einen kurzen Blick auf die Phantome erhascht, die am Rand des von Menschen besiedelten Raums lauerten.
Jahrelang hatten sie solche Geschichten als Abenteuermärchen abgetan, doch seit die Nachrichten aus den Kernkolonien versiegten, waren sie unsicher geworden.
Es gab jetzt ständig Ultras auf Hela. Die Handelsabkommen verlangten, dass sie mit ihren Lichtschiffen ausreichend Abstand vom Planeten Haldora und seinem bewohnten Mond hielten. Also sammelten sie sich am Rand des Systems in einem parkenden Schwarm und schickten nur kleine Shuttles oder Landefähren nach Hela. Diese Schiffchen wurden von Kirchenvertretern kontrolliert, um zu verhindern, dass sie Aufzeichnungsgeräte oder Scanner mitführten, die auf Haldora gerichtet waren. Die Kontrollen waren an sich Formsache, man hätte sie leicht umgehen können, aber die Ultras waren überraschend gefügig und spielten bereitwillig mit. Sie waren auf gute Geschäftsbeziehungen angewiesen.
Quaiche schloss gerade die Verhandlungen mit einem Ultra ab, als Grelier das Turmzimmer betrat. »Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, Captain«, sagte er. Seine Stimme schwebte wie grauer Rauch über dem Krankenstuhl mit dem Lebenserhaltungssystem.
»Ich bedauere, dass wir uns nicht einigen konnten«, gab der Ultra zurück, »aber die Sicherheit meines Schiffs hat für mich obersten Vorrang, das müssen Sie verstehen. Wir alle wissen um das Schicksal der Gnostische Himmelfahrt.«
Quaiche spreizte in einer verständnisvollen Geste die knochigen Finger. »Schreckliche Geschichte. Ich habe nur mit viel Glück überlebt.«
»So wurde es uns berichtet.«
Der Stuhl drehte sich. Quaiche wandte sich an Grelier. »Generalmedikus… darf ich Ihnen Captain Basquiat vom Lichtschiff Windsbraut vorstellen?«
Grelier nickte dem neuem Gast höflich zu. Er kannte extremere Ultras, aber für einen Standardmenschen war der Mann doch eine befremdliche Erscheinung. Er selbst war so dürr und farblos wie ein vertrocknetes, sonnengebleichtes Insekt, aber sein Stützskelett war leuchtend rot und mit silbernen Lilien verziert. Begleitet wurde er von einem Riesenfalter, der vor seinem Gesicht auf und ab flatterte und ihm Luft zufächelte.
»Sehr erfreut«, sagte Grelier und stellte den Koffer mit den blutgefüllten Spritzen ab. »Ich hoffe, es hat Ihnen auf Hela gefallen.«
»Wir sind mit den Ergebnissen unseres Besuchs zufrieden, Generalmedikus. Zwar konnten wir Dekan Quaiche seinen letzten Wunsch nicht erfüllen, doch davon abgesehen waren die Verhandlungen für beide Seiten erfolgreich.«
»Was ist nun mit dem anderen Punkt, den wir angesprochen hatten?«, fragte Quaiche.
»Die Todesfälle im Kälteschlaf? Ja, wir haben etwa zwei Dutzend hirntote Passagiere. Früher hätte man die Neuronalstruktur mit spezifischen Nanomaschinen wiederherstellen können, aber heute ist das nicht mehr möglich.«
»Wir nehmen sie Ihnen gerne ab«, sagte Grelier. »Damit bekämen sie freie Kälteschlafplätze für lebende Fahrgäste.«
Der Ultra scheuchte den Falter weg, der sich auf seinen Lippen niedergelassen hatte. »Haben Sie eine besondere Verwendung für das Gemüse?«
»Der Generalmedikus interessiert sich für solche Fälle«, erklärte Quaiche, bevor Grelier zu Wort kam. »Er experimentiert gern mit neuronalen Reskriptionsverfahren, nicht wahr, Grelier?« Er wandte sich ab, ohne eine Antwort abzuwarten. »Nun denn, Captain, können wir Ihnen bei der Rückkehr auf Ihr Schiff noch in irgendeiner Weise behilflich sein?«
»Ich wüsste nicht wie, vielen Dank.«
Grelier schaute aus dem Ostfenster. Jenseits des Satteldachs der Haupthalle befand sich eine Landeplattform. Dort parkte eine kleine Fähre. Sie war gelbgrün wie eine Heuschrecke.
»Kommen Sie gut zum parkenden Schwarm zurück, Captain. Wir rechnen mit der baldigen Überführung der bedauernswerten Kälteschlafopfer. Und ich würde mich freuen, bei anderer Gelegenheit wieder mit Ihnen ins Geschäft zu kommen.«
Der Captain wandte sich ab, blieb aber noch einmal stehen. Er hatte wohl erstmals den Ehernen Panzer bemerkt, dachte Grelier. Der Panzer stand immer in der Ecke wie ein stummer Gast. Der Captain starrte ihn an, während der Falter seinen Kopf umkreiste, dann setzte er seinen Weg fort. Er konnte nicht wissen, was dieses Objekt für Quaiche bedeutete: Der Panzer war Morwennas letzte Ruhestätte, eine ständige Mahnung an den hohen Preis, den er für die erste Auslöschung des Planeten bezahlt hatte.
Grelier wartete, bis er sicher sein konnte, dass der Ultra nicht zurückkam. »Worum ging es denn?«, fragte er. »Was war das für ein Wunsch, den er ›nicht erfüllen konnte‹?«
»Nur das Übliche«, sagte Quaiche, als sei es unter seiner Würde, näher darauf einzugehen. »Seien Sie froh, dass Sie Ihr Gemüse bekommen. Und jetzt – wie war die Blutzoll-Aktion?«
»Moment noch.« Grelier trat an die Wand und betätigte einen Messinghebel. Die Lamellen stellten sich senkrecht und ließen nur noch schmale Lichtstreifen einfallen. Dann beugte er sich über Quaiche und nahm ihm die Sonnenbrille ab, die dieser bei Verhandlungen zu tragen pflegte, teils, um seine Augen vor zu hellem Licht zu schützen, aber auch, weil sein nacktes Gesicht keinen erfreulichen Anblick bot. Natürlich gab es auch Anlässe, zu denen er sie gerade deshalb nicht aufsetzte.
Unter den Gläsern befand sich, fest aufliegend wie eine zweite Brille, ein Drahtgestell, das jedes Auge mit zwei mit Haken besetzten Ringen umgab. Die Haken griffen unter die Lider und verhinderten, dass sie sich schlossen. Außerdem enthielt das Gestell winzige Sprühdüsen, die alle paar Minuten Quaiches Augäpfel befeuchteten. Für Grelier wäre es einfacher gewesen, die Lider ganz zu entfernen, aber Quaiche hatte ein Büßersyndrom von der Größe des Ewigen Weges, und da kam ihm ein Marterinstrument wie dieser Lidspreizer gerade recht. Er erinnerte ihn daran, stets wachsam zu sein, um keine Auslöschung zu verpassen.
Grelier holte aus dem Medizinschrank einen kleinen Tupfer und beseitigte damit die Absonderungen, die sich unter den Lidern angesammelt hatten.
»Was ist mit dem Blutzoll, Grelier?«
»Dazu komme ich gleich. Sagen Sie mir nur noch, was Sie mit dem Ultra vorhatten. Wozu sollte er mit seinem Schiff dichter an Hela heranfliegen?«
Quaiches Pupillen weiteten sich. »Wie kommen Sie darauf, dass ich das von ihm verlangt hätte?«
»Stimmt es denn nicht? Warum hätte er sonst gesagt, es sei zu gefährlich?«
»Sie nehmen sich eine Menge heraus, Grelier.«
Der Generalmedikus hatte die Reinigung der Augen beendet und schob die Sonnenbrille an ihren Platz zurück. »Warum wollen Sie die Ultras plötzlich in die Nähe holen? Seit Jahren tun Sie alles, um die Dreckskerle in sicherer Entfernung zu halten. Und jetzt wollen Sie auf einmal eins von den Schiffen direkt vor der Tür haben?«
Die Gestalt im Krankenstuhl seufzte. Im Halbdunkel wirkte Quaiche weniger wie ein Gespenst. Grelier stellte die Lamellen wieder waagerecht. Das gelbgrüne Shuttle hatte den Landeplatz verlassen.
»Es war nur so eine Idee«, sagte Quaiche.
»Was für eine Idee?«
»Mir ist aufgefallen, dass die Ultras in letzter Zeit besonders nervös sind. Ich traue ihnen immer weniger. Basquiat schien mir ein Mann zu sein, auf den man sich verlassen kann. Ich hoffte, wir könnten eine Abmachung treffen.«
»Was für eine Abmachung?« Grelier legte den Tupfer in den Schrank zurück.
»Ein Schutzbündnis«, sagte Quaiche. »Ich wollte eine Ultragruppe nach Hela holen, um die anderen fern zu halten.«
»Wahnsinn«, sagte Grelier.
»Vorsorge«, verbesserte sein Herr und Meister. »Aber das tut nichts zur Sache. Sie waren nicht interessiert. Hatten zu viel Angst, ihr Schiff in Helas Nähe zu bringen. Der Mond schreckt sie ebenso sehr ab, wie er sie anzieht, Grelier.«
»Es werden immer wieder neue kommen.«
»Mag sein…« Das klang gelangweilt, als sei Quaiche des Themas bereits überdrüssig und bereue bereits, einer flüchtigen Laune nachgegeben zu haben.
»Sie fragten nach dem Blutzoll«, sagte Grelier. Er kniete nieder und hob den Koffer auf. »Es gab gewisse Schwierigkeiten, aber ich konnte Vaustad das übliche Quantum abnehmen.«
»Dem Chormeister? Wollten Sie denn nicht injizieren?«
»Ich habe es mir anders überlegt.«
Das Blutzoll-Offizium war eine Abteilung des Glockenturms und befasste sich mit der Konservierung, Anreicherung und Verbreitung der zahllosen Virenstämme, die sich aus Quaiches Indoktrinationsvirus entwickelt hatten. Inzwischen hatte nahezu jeder, der in der Kathedrale arbeitete, etwas von Quaiche in seinem Blut. Sein Virus mutierte seit Generationen vor sich hin und hatte sich mit anderen Virentypen vermischt, die von außen eingeschleppt worden waren. Infolgedessen war die Vielfalt der Wirkungsweisen unüberschaubar geworden. Viele der anderen Kirchen stützten ihre abweichenden theologischen Lehrmeinungen auf leichte Abwandlungen des ursprünglichen Virenstamms oder verdankten solchen Abwandlungen gar ihre Existenz. Blutzoll war bemüht, das Chaos zu bändigen, indem es besonders wirksame und theologisch einwandfreie Stämme isolierte und andere unterdrückte. Individuen wie Vaustad wurden oft als Probanden für Versuche mit neu gewonnenen Viren eingesetzt. Zeigten sich psychotische oder andere unerwünschte Nebenwirkungen, dann wurden die Stämme eliminiert. Vaustad verdankte den Status des Versuchskaninchens einer Reihe von unüberlegten Bemerkungen. Seine Ängste vor den Auswirkungen waren mit jeder neuen Testspritze stärker geworden.
»Ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie tun«, sagte Quaiche. »Ich brauche das Offizium jetzt mehr denn je, Grelier. Ich bin im Begriff, meinen Glauben zu verlieren.«
Quaiche litt unter schweren Glaubenskrisen. Inzwischen war er gegen das reine Virus, mit dem er infiziert worden war, bevor er auf der Gnostische Himmelfahrt anheuerte, immun geworden. Eine der wichtigsten Aufgaben des Blutzoll-Offiziums bestand darin, neu mutierte Stämme zu isolieren, von denen man hoffen konnte, dass sie bei Quaiche noch wirkten.
Grelier ging nicht damit hausieren, aber es wurde zunehmend schwieriger, solche Stämme zu finden.
Quaiche befand sich also wieder in einer Krise. Sonst sprach er nie von der Möglichkeit eines Glaubensverlustes. Sein Glaube war einfach da, er gehörte zu ihm. Nur in der Krise konnte er ihn als chemisches Produkt sehen. Grelier fand diese Phasen tief beunruhigend. Wenn Quaiche mit sich selbst haderte, war er vollkommen unberechenbar. Grelier musste an das rätselhafte Glasfenster in der Haupthalle denken und fragte sich, ob da womöglich ein Zusammenhang bestünde.
»Wir kriegen Sie bald wieder hin«, sagte er.
»Gut. Das ist auch dringend nötig. Wir stecken in Schwierigkeiten, Grelier. Von der Gullveig-Kette werden größere Eisstürze gemeldet, die den Weg blockieren. Wir werden sie mit allen Mitteln beseitigen müssen. Aber selbst wenn wir Gottesfeuer einsetzen, steht zu befürchten, dass wir hinter Haldora zurückbleiben.«
»Wir holen die Zeit wieder ein. Das war doch noch immer so.«
»Wenn die Verzögerung zu groß wird, müssen wir vielleicht zu drastischen Maßnahmen greifen. Der Maschinenraum soll sich für alles bereithalten – auch für das Undenkbare.« Der Stuhl neigte sich wieder in die Horizontale, die Spiegel gingen langsam mit. Quaiches Spiegelbild zerfiel und entstand von neuem. Die Spiegel hatten die Aufgabe, Haldoras Licht in Quaiches Blickfeld zu lenken, damit er, wo immer er saß, den Planeten mit eigenen Augen sehen konnte. »Das Undenkbare, Grelier«, wiederholte er. »Sie wissen doch, was ich damit meine?«
»Ich nehme es an«, sagte Grelier. Und dann dachte er an Blut und an Brücken. Er dachte auch an das Mädchen, das er in die Kathedrale bringen wollte, und fragte sich, ob er vielleicht – nur vielleicht – eine Lawine ins Rollen gebracht hatte, die nicht mehr aufzuhalten war.
Er wird es nicht tun, dachte er. Er ist wahnsinnig, gewiss, aber nicht vollkommen übergeschnappt. Er würde die Morwenna niemals über die Brücke, über die Absolutionsschlucht schicken.