Auf Hela
2615
Quaiche verlor immer wieder das Bewusstsein. Die Grenze zwischen Wachen und Ohnmacht verschwamm mehr und mehr. Er halluzinierte, bis er überzeugt war, die Halluzinationen seien real. Er sah Retter über das Geröll klettern, schneller werden, als sie ihn entdeckten, mit behandschuhten Händen winken. Beim zweiten oder dritten Mal musste er lachen. Er gaukelte sich seine Rettung unter genau den gleichen Umständen vor, die auch tatsächlich herrschten. Das würde ihm niemand glauben.
Doch jedes Mal landete er nach der Ankunft der Retter und bevor sie ihn in Sicherheit bringen konnten, unweigerlich wieder im Schiff. Seine Brust schmerzte, und mit einem Auge sah er die Welt wie durch ein Stück Verbandsmull.
Die Dominatrix glitt ein ums andere Mal zwischen den schroffen Wänden der Spalte herab und setzte auf dünnen Bremsschubstrahlen auf. Die Luke in der Rumpfmitte öffnete sich, Morwenna trat heraus und eilte, großartig und erschreckend wie eine ganze Armee in Schlachtformation, mit rasend schnellen Bewegungen ihrer kolbengetriebenen Beine zu ihm. Sie zog ihn aus dem Wrack der Tochter und führte ihn – die Logik des Traumes wollte es, dass er nicht zu atmen brauchte – durch eine harte, luftleere Landschaft aus Schatten und Licht zum Shuttle zurück. Oder sie erschien im Ehernen Panzer und schaffte es, darin zu gehen, obwohl er wusste, dass das Ding zugeschweißt und vollkommen unbeweglich war.
Mit der Zeit wurden die Halluzinationen stärker als die Vernunft. In einem lichten Moment begriff er, dass es am gnädigsten wäre, während einer dieser Szenen zu sterben. Dann bliebe ihm die schockierende Erkenntnis erspart, dass die Rettung nur ein Traum gewesen war.
Jasmina kam mit großen Schritten über das Geröll. Grelier folgte ihr auf dem Fuße. Die Königin kratzte sich im Gehen die Augen aus, und das Blut schwebte in langen Bändern hinter ihr her.
Er wachte auch weiterhin auf, aber die Halluzinationen gingen zunehmend ineinander über, und die Gefühle, die das Virus erzeugte, wurden stärker. So intensiv waren sie nicht einmal gewesen, als es sich erstmals seiner bemächtigt hatte. Jeder Gedanke war von Orgelmusik getragen, jedes Atom des Universums war durchdrungen vom Licht der Kirchenfenster. Er wurde intensiv beobachtet, intensiv geliebt. Die Gefühle waren keine papierdünne Fassade mehr, sie waren die Realität. Es war, als hätte er bis jetzt immer nur den Widerschein eines Lichts gesehen, das gedämpfte Echo einer Musik von herzzerreißender Schönheit gehört. War dies wirklich nur der Einfluss eines künstlich erzeugten Virus auf sein Gehirn? Bisher hatte er die Emotionen immer als primitive Reaktionen auf mechanische Reize empfunden, doch nun schienen sie fest zu ihm zu gehören und erfüllten ihn ganz und gar. Es war wie der Unterschied zwischen Theaterdonner und einem echten Gewitter.
Die Stimme der Vernunft wurde schwächer. Sie beteuerte ihm auch weiterhin, es hätte sich im Grunde nichts geändert. Die Gefühle seien nach wie vor durch das Virus erzeugt. Sein Gehirn leide unter Sauerstoffmangel, weil die Luft in der Kabine zur Neige gehe. Unter diesen Umständen seien emotionale Veränderungen nicht ungewöhnlich. Und da das Virus noch aktiv sei, könnten die Wirkungen um ein Vielfaches verstärkt sein.
Doch bald wurde diese Stimme vollends in den Hintergrund gedrängt.
Er spürte nur noch die Gegenwart des Allmächtigen.
»Schön«, sagte Quaiche, bevor er abermals das Bewusstsein verlor. »Du hast gewonnen. Ich glaube. Aber ich warte noch immer auf ein Wunder.«