Vierzig

Auf Hela

2727

 

 

Im Maschinenraum schwangen die Kuppelstangen hin und her, als wollten sie Hauptmann Seyfarth begrüßen. Er schritt, die behandschuhten Hände hinter dem Rücken verschränkt, durch die Halle. Als Hauptmann der Kathedralengarde rechnete er nicht mit einem herzlichen Empfang durch die eher mechanistisch denkenden Maschinentechniker. Sie hegten keine instinktive Abneigung gegen ihn, aber sie hatten ein langes Gedächtnis, und es waren von jeher Seyfarths Leute gewesen, die Rebellionen unter dem technischen Personal der Morwenna niederschlugen. Im Augenblick waren auffallend wenige Techniker in der Halle, aber im Geist ergänzte Seyfarth das Bild durch die herumliegenden Leichen und die Verletzten des letzten »Schiedsverfahrens«, wie die Behörden den Zwischenfall genannt hatten. Glaur, der Schichtleiter, nach dem er jetzt suchte, hatte nie direkt mit der Rebellion in Verbindung gestanden, aber bei ihren seltenen Begegnungen war deutlich geworden, dass auch Glaur kein Freund der Kathedralengarde und ihres Hauptmanns war.

»Ach, Glaur«, sagte Seyfarth, als er den Mann neben einer offenen Zugangsklappe entdeckte.

»Hauptmann. Was für ein Vergnügen.«

Seyfarth trat vor die Klappe. Aus der Öffnung hingen Drähte und Kabel wie vorquellende Gedärme. Seyfarth zog die Klappe so weit herunter, dass sie die Eingeweide zur Hälfte verdeckte. Glaur wollte etwas sagen – obwohl jeder Protest sinnlos war –, aber Seyfarth legte abwehrend den Finger an die Lippen. »Was immer es ist, es kann warten.«

»Sie haben keine…«

»Ziemlich ruhig hier drin.« Seyfarth sah sich um. Die Maschinen waren unbeaufsichtigt, die Laufstege leer. »Wo sind denn Ihre Leute?«

»Das wissen Sie doch ganz genau«, sagte Glaur. »Sie haben die Mor verlassen, sobald sie konnten. Am Ende wurden Druckanzüge für einen Jahreslohn verkauft. Ich habe nur noch eine Notmannschaft, gerade genug Männer, um den Reaktor am Laufen zu halten und die Maschinen zu schmieren.«

»Wer jetzt geht…«, überlegte Seyfarth. Es war in der ganzen Kathedrale zu beobachten: Selbst die Garde hatte Mühe, den Exodus aufzuhalten. »… verstößt doch gegen seinen Arbeitsvertrag, nicht wahr?«

Glaur sah ihn ungläubig an. »Das ist den Leuten scheißegal, Hauptmann. Die wollen nur von dieser Kiste herunter, bevor wir die Brücke erreichen.«

Seyfarth spürte die Angst des Mannes. Sie umgab ihn wie ein Hitzeschleier. »Sie glauben also nicht, dass wir es schaffen?«

»Und Sie?«

»Der Dekan sagt, wir schaffen es. Wie kämen wir dazu, an ihm zu zweifeln?«

»Ich habe meine Zweifel«, zischte Glaur. »Ich weiß, was beim letzten Mal passierte, und wir sind größer und schwerer. Wir kommen mit dieser Kathedrale nicht über die Brücke, Hauptmann, auch wenn uns der Generalmedikus noch so sehr mit Blut voll pumpt.«

»Dann kann ich ja von Glück reden, dass ich nicht auf der Morwenna sein werde, wenn es so weit ist«, sagte Seyfarth.

Glaur spitzte die Ohren. »Sie gehen auch?«, fragte er.

Ob Glaur sich einbildete, er wollte ihn zur Rebellion anstiften?, dachte Seyfarth. »Ja, aber ich habe einen Auftrag für die Kirche zu erfüllen. Er wird mich so lange fern halten, bis die Brücke überquert wurde – oder nicht. Was haben Sie vor?«

Glaur schüttelte den Kopf und strich über sein schmutziges Halstuch. »Ich bleibe, Hauptmann.«

»Aus Loyalität zum Dekan?«

»Eher zu meinen Maschinen.«

Seyfarth legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin beeindruckt. Und Sie denken sicher auch nicht daran, die Kathedrale vom Weg herunterzusteuern oder die Motoren zu sabotieren?«

Glaurs Zähne blitzten auf. »Ich bin hier, um meine Arbeit zu tun.«

»Auch um dafür zu sterben?«

»Vielleicht springe ich im letzten Moment noch ab. Aber die Kathedrale bleibt auf dem Weg.«

»Braver Mann. Ich möchte trotzdem ganz sichergehen.«

Glaur sah ihm fest in die Augen. »Wie meinen, Hauptmann?«

»Bringen Sie mich zur Sicherungsschaltung, Glaur.«

»Nein.«

Seyfarth packte ihn an seinem Halstuch und hob ihn hoch. Glaur rang nach Luft und trommelte mit den Fäusten gegen die Brust des Hauptmanns.

»Bringen Sie mich zur Sicherungsschaltung«, wiederholte Seyfarth, ohne die Stimme zu erheben.

 

Die Privatfähre des Generalmedikus setzte automatisch zur Landung an und ging auf einem bleistiftdünnen Fusionsstrahl nieder. Grelier hatte eine kleine verwahrloste Landeplattform am Rand der Vigrid-Siedlung gewählt. Der Untergrund war teilweise abgesackt, sodass seine rote Muschelfähre deutlich schief zum Stehen kam. Der Platz wurde offenbar nur selten benutzt. Womöglich war hier seit Jahrzehnten nichts Größeres als eine Versorgungsdrohne niedergegangen.

Grelier sammelte seine Siebensachen ein und stieg aus. Die Plattform mochte baufällig sein, aber der Weg zur Siedlung war noch in einigermaßen gutem Zustand. Der Generalmedikus tastete sich mit seinem Krückstock über den rissigen Beton dem nächsten öffentlichen Eingang zu. Die Luftschleuse wollte sich nicht öffnen. Er verwendete den Glockenturm-Schlüssel – dem eigentlich keine Tür auf Hela widerstehen sollte –, doch auch das half nichts. Er zog daraus den pessimistischen Schluss, die Tür sei ganz einfach kaputt und der Mechanismus nicht mehr funktionsfähig.

Er folgte dem Weg weitere zehn Minuten, bis er eine Schleuse fand, die sich öffnen ließ. Sie führte fast ins Zentrum des kleinen unterirdischen Dorfes; oben standen kreuz und quer geparkte Fahrzeuge, ausgemusterte Gerätemodule und Sonnenkollektoren mit durchgebrannten und zerbrochenen Feldern. Das störte ihn nicht weiter, allerdings war so dicht am Herzen der Siedlung eher zu befürchten, dass er bei seinem Tun beobachtet wurde.

Egal: Es musste sein, die Alternativen waren erschöpft. Er trat durch die Schleuse und gelangte, ohne seinen Anzug abzulegen, über eine senkrechte Leiter hinab in ein schwach erleuchtetes Tunnelnetz. Am Fuß der Leiter gingen Gänge nach fünf verschiedenen Richtungen ab. Zum Glück waren sie farbcodiert, sodass man erkennen konnte, zu welchen Wohn- und Industriegebieten sie führten. Wobei ›Gebiet‹ nicht ganz das richtige Wort war. Das winzige Dorf mochte gesellschaftliche Verbindungen zu anderen Gemeinden im Ödland unterhalten, aber seine Einwohnerzahl war geringer als die Bevölkerung einer Etage der Morwenna.

Er summte leise vor sich hin. So sehr ihn die jüngsten Ereignisse beunruhigten, er war immer gern in Glockenturm-Geschäften unterwegs. Auch wenn es sich dabei wie in diesem Fall fast um ein persönliches Anliegen handelte und er dem Dekan den Grund für seine Reise nicht ausdrücklich genannt hatte.

Wie du mir, so ich dir, sagte er sich. Wenn der Dekan vor ihm Geheimnisse hatte, dann würde er eben Gleiches mit Gleichem vergelten.

Grelier vermutete seit Monaten, dass Quaiche geheime Pläne verfolgte, und als das Mädchen die Bauflotte erwähnte, hatte sich sein Verdacht erhärtet. Er hatte sich bemüht, ihrem Berichte keine Bedeutung beizumessen, aber er hatte ihn nicht mehr losgelassen. Er passte zu gut zu verschiedenen Beobachtungen, die er selbst in letzter Zeit gemacht hatte. Zum Beispiel wurde bei der Wartung des Weges an allen Ecken und Enden gespart. Der Eissturz war nur deshalb nicht rechtzeitig geräumt worden, weil der Wartungstrupp nicht über die erforderlichen Geräte verfügen konnte. Deshalb hatte Quaiche notgedrungen eine nukleare Sprengung angeordnet: Gottesfeuer.

Grelier hatte zunächst an ein glückliches Zusammentreffen geglaubt. Doch das erschien ihm immer unwahrscheinlicher, je länger er darüber nachdachte. Quaiche wollte seine Absicht, mit der Morwenna über die Brücke zu fahren, mit allem Pomp verkünden. Und was hätte seinen Worten mehr Nachdruck verliehen als der Schein des Gottesfeuers hinter dem neu eingebauten Glasfenster?

Der Einsatz von Gottesfeuer war damit gerechtfertigt worden, dass die Wartungstrupps bereits überlastet waren. Aber wenn sie nur deshalb überlastet waren, weil man auf Anordnung von Quaiche Geräte und Personal abgezogen hatte?

Greliers Verdacht ging noch weiter: Vielleicht war schon der Eissturz künstlich ausgelöst worden. Quaiche hatte ihn auf Sabotage durch eine andere Kirche zurückgeführt, aber er könnte auch durchaus selbst der Auftraggeber gewesen sein. Die Morwenna hätte lediglich bei ihrer letzten Umrundung Zündschnüre und Sprengladungen anzubringen brauchen.

Vor einem Jahr.

War es wirklich denkbar, dass Quaiche sich schon so lange mit solchen Plänen trug? Zumindest war es nicht auszuschließen. Menschen, die Kathedralen bauten, waren schließlich gewöhnt, weit vorauszudenken.

Grelier sah immer noch nicht, worauf das alles abzielte. Er wusste nur – mit wachsender Sicherheit –, dass Quaiche ihm irgendetwas verheimlichte.

Ob es mit den Ultras zu tun hatte?

Oder mit der Überquerung der Brücke?

Immerhin schien das Geschehen einem großen Höhepunkt entgegenzurasen. Und dann war da noch das Mädchen. Wie passte es ins Bild? Grelier hätte geschworen, dass er es gefunden hatte und nicht umgekehrt. Aber jetzt war er sich nicht mehr sicher. Diese Rachmika hatte sich auffällig gemacht, so viel stand fest. War er auf einen jener Kartentricks hereingefallen, die dem Opfer suggerierten, welche Karte es vom Stapel nehmen sollte?

Er hätte natürlich nie Verdacht geschöpft, wenn ihr Blut nicht gewesen wäre.

»Ein kleines Rätsel«, dachte er bei sich.

Dann blieb er unvermittelt stehen, denn er war ganz in Gedanken an der gesuchten Adresse vorbeigegangen. Jetzt machte er kehrt. Zum Glück war sonst niemand unterwegs. Er hatte keine Ahnung, wie spät es nach Ortszeit war. Schliefen die Bewohner noch, oder waren sie alle an den Grabungsstätten?

Es war ihm egal.

Um sich vorstellen zu können, öffnete er sein Helmvisier. Dann klopfte er mit seinem Krückstock kräftig gegen die Tür der Els-Wohnung und wartete, leise vor sich hin summend, bis man ihm aufmachte.

Offenbarung
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