Fünfundzwanzig
Ararat
2675
Vasko zog einen unauffälligen braunen Mantel über seine Sicherheitsdienstuniform, verließ unbemerkt die Hohe Muschel und ging in die Nacht hinaus.
Draußen lag eine Spannung in der Luft wie vor einem Gewitter. Erregte Menschenmassen drängten sich durch die schmalen, gewundenen Straßen. Im Schein der Laternen wirkten sie wie auf einem makabren Karnevalszug, aber niemand schrie oder lachte; zu hören war lediglich ein dumpfes Raunen von tausenden von Stimmen, das nur selten die Lautstärke eines normalen Gesprächs überschritt.
Vasko konnte die Menschen verstehen. Gegen Abend hatte die Regierung in einer knappen Verlautbarung Clavains Tod bekannt gegeben. Inzwischen hatte sich die Nachricht wohl bis in den letzten Winkel der Kolonie verbreitet. Noch vor Sonnenuntergang und bevor die Lichter am Himmel auftauchten, waren die ersten Passanten auf die Straßen hinausgeströmt. Sie hatten nicht zu Unrecht den Eindruck, die offizielle Stellungnahme sei nicht vollständig. Niemand hatte von Khouri oder dem Kind gesprochen, niemand hatte die Schlacht im Raum um Ararat erwähnt, man hatte lediglich zu gegebener Zeit weitere Informationen in Aussicht gestellt.
Wenig später hatte die Lumpenprozession der Boote eingesetzt. Inzwischen war das alte Raumschiff von einem schmalen Band aus hüpfenden Lichtern umringt, und ständig legten neue Boote vom Festland ab. Die Sicherheitsleute taten, was sie konnten, um die Schiffchen in der Kolonie festzuhalten, aber sie kämpften auf verlorenem Posten. Der SD war nicht darauf eingerichtet, eine ausgewachsene Rebellion niederzuschlagen, Vaskos Kollegen konnten nicht mehr tun, als den Exodus zu behindern. Andernorts wurde von Unruhen, von Brandstiftung und Plünderung berichtet, dort mussten die SD-Leute Verhaftungen vornehmen. Die Schieberaktivität – was immer sie zu bedeuten hatte – hielt unvermindert an.
Vasko war froh, keinen Dienst tun zu müssen. Da seine Rolle bei den Ereignissen dieses Tages noch nicht bekannt war, konnte er unbehelligt durch die Straßen schlendern und sich die Gerüchte anhören, die bereits im Umlauf waren. Um den einfachen Kern der Geschichte – Clavain war bei einer letztlich erfolgreichen Aktion zur Sicherstellung eines für die Kolonie sehr wertvollen Objektes ums Leben gekommen – hatten sich viele Schichten von Spekulationen und Unwahrheiten gebildet. In manchen Erzählungen wurden die Todesumstände des alten Mannes mit schier unerschöpflichem Erfindungsreichtum auf das Blumigste ausgeschmückt.
Vasko spielte den Unwissenden, hielt wahllos kleine Grüppchen an und fragte sie, was vorgehe. Dabei achtete er darauf, dass niemand seine Uniform sah und dass er niemanden ansprach, der ihm von der Arbeit oder aus dem Privatleben bekannt vorkam.
Mit wachsender Empörung, aber todernstem Gesicht hörte er sich immer neue drastische Schilderungen von Schießereien und Bombenattentaten, Kriegslisten und Sabotage an. Er fand es unglaublich, ja beängstigend, wie um Clavains Tod bereits ganze Epen gesponnen wurden. Die Menschen schwelgten geradezu in ausufernden Gemeinschaftsfantasien.
Nicht minder bestürzte ihn, dass die Zuhörer die Geschichten nicht nur begeistert aufnahmen, sondern auch eigene Vermutungen zum Ablauf der Geschehnisse beisteuerten. Schon wenig später konnte er sich bei anderen Gesprächen davon überzeugen, dass die Ausschmückungen bedenkenlos in die Darstellung übernommen worden waren. Obwohl vieles widersprüchlich oder nur schwer zu vereinbaren war, schien das niemanden zu stören. Mehr als einmal hörte er fassungslos, Scorpio oder ein anderes Mitglied des Ältestenrates sei mit Clavain gestorben. Dass einige der fraglichen Personen seither an die Öffentlichkeit getreten waren und kurze beruhigende Stellungnahmen abgegeben hatten, wurde geflissentlich übersehen. Mit dumpfer Resignation sah er ein, dass sein eigener Bericht derzeit nicht mehr wert wäre als die Lügen, die überall die Runde machten. Er war nicht direkt dabei gewesen, als Clavain starb. Er könnte die Geschehnisse nur aus seiner Sicht schildern, sozusagen ›aus zweiter Hand‹, und wer wollte schon eine so unerfreuliche Geschichte hören, der es auch noch an farbigen Details mangelte?
Die Menschen wollten in dieser Nacht einen makellosen Helden, und durch eine geheimnisvolle literarische Metamorphose würden sie den schließlich auch bekommen.
Jemand rief seinen Namen. Er drängte sich durch den Pöbel mit seinen Laternen.
»Malinin.«
Er entdeckte nicht gleich, woher die Stimme kam. Dann sah er eine Frau, die wie in einem selbst geschaffenen Bannkreis stand. Die Massen umfluteten sie, ohne diesen privaten Raum auch nur ein einziges Mal zu verletzen. Sie trug einen langen schwarzen Mantel mit einem üppigen schwarzen Pelzkragen. Die obere Hälfte ihres Gesichts lag im Schatten einer schwarzen Schildmütze ohne Abzeichen.
»Urton?«, fragte er unsicher.
»Ich bin es«, sagte sie und trat näher. »Dir hat man also auch freigegeben. Warum bist du nicht zu Hause und ruhst dich aus?«
Irgendetwas in ihrem Ton weckte seinen Widerstand. Er hatte immer noch das Gefühl, ständig von ihr gewogen und für zu leicht befunden zu werden.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«
»Ich weiß, dass es nach dem, was da draußen passiert ist, keinen Sinn hätte.«
Er nahm sich vor, es zunächst mit Höflichkeit zu versuchen und abzuwarten, wie weit er damit käme. »Ich habe heute Nachmittag zu schlafen versucht«, sagte er. »Aber ich hörte nur Schreie. Und ich sah nur Blut und Eis.«
»Dabei warst du nicht einmal dabei, als es passierte.«
»Ich weiß. Kannst du dir vorstellen, wie Scorpio sich fühlen muss?«
Seit Urton neben ihm stand, war er in den Bannkreis mit einbezogen. Er wusste nicht, wie sie es anstellte. Die Menschen, die um sie herumströmten, hatten vermutlich keine Ahnung, wer Urton war. Aber sie sendete offenbar ein warnendes Kribbeln aus, sodass sich jeder hütete, ihr zu nahe zu kommen.
»Es tut mir Leid, dass er das tun musste«, sagte Urton.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie er es auf lange Sicht verkraften soll. Die beiden waren sehr enge Freunde.«
»Das weiß ich.«
»Es war keine gewöhnliche Freundschaft«, beharrte Vasko. »Clavain hat Scorpio einmal vor der Hinrichtung bewahrt. Die beiden kannten sich schon aus Chasm City. Ich glaube, Clavain hat auf dem ganzen Planeten niemanden so respektiert wie Scorpio. Und Scorpio wusste das. Ich bin mit ihm zu der Insel gefahren, auf der Clavain hauste. Ich sah sie miteinander sprechen. Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Sie benahmen sich wie zwei alte Abenteurer, die viel zusammen erlebt hatten und wussten, dass niemand sonst sie verstehen konnte.«
»Scorpio ist noch gar nicht so alt.«
»O doch«, sagte Vasko. »Jedenfalls für ein Hyperschwein.«
Urton führte ihn durch das Gedränge zum Strand. Die Menge lichtete sich allmählich. Der warme, nach Salz duftende Nachtwind brannte Vasko in den Augen. Die seltsamen Lichter am Himmel zeichneten obskure Muster von Horizont zu Horizont. Kein Feuerwerk, auch keine Aurora, sondern eher eine riesige, akribisch ausgeführte geometrische Konstruktion.
»Du fürchtest, dass er nicht darüber hinwegkommt?«, fragte Urton.
»Würdest du darüber hinwegkommen, wenn du deinen besten Freund kaltblütig ermorden müsstest? Und das auch noch langsam und vor Publikum?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber ich bin schließlich nicht Scorpio.«
»Was soll das heißen?«
»Er hat die Kolonie in Clavains Abwesenheit gut geführt, Vasko, und ich weiß, dass du viel von ihm hältst, aber deshalb ist er noch lange kein Engel. Du sagtest doch selbst, dass Clavain und das Schwein sich schon von Chasm City her kannten.«
Lichter glitten über den Himmel und zogen kreisrunde Ringe hinter sich her, wie Vasko sie manchmal sah, wenn er die Fingerspitzen gegen die geschlossenen Augenlider presste. »Richtig«, sagte er zögernd.
»Und was hat Scorpio deiner Meinung nach in Chasm City getrieben? Glaubst du wirklich, er hätte die Armen und Bedürftigen gespeist? Er war ein Verbrecher, ein Mörder.«
»Er hat gegen Gesetze verstoßen, die brutal und unmenschlich waren«, widersprach Vasko. »Das ist nicht ganz dasselbe.«
»Es herrschte Krieg. Ich habe die gleichen Geschichtsbücher gelesen wie du. Gewiss, das Kriegsrecht grenzte ans Drakonische, aber ist das eine Rechtfertigung für Mord? Wir reden nicht von Notwehr oder von Verteidigung seines Eigentums. Scorpio tötete zum Vergnügen.«
»Er war von Menschen versklavt und gefoltert worden«, gab Vasko zu bedenken. »Und Menschen hatten ihn zu dem gemacht, was er ist: eine genetische Sackgasse.«
»Und deshalb darf man ihn nicht zur Rechenschaft ziehen?«
»Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst, Urton.«
»Ich will nur sagen, dass Scorpio nicht das zarte Seelchen ist, für das du ihn gerne halten würdest. Natürlich hat ihn erschüttert, was er Clavain angetan hat…«
»Was er ihm antun musste«, verbesserte Vasko.
»Wie auch immer. Es bleibt sich gleich: Er wird genauso damit fertig werden wie mit all den anderen Gräueltaten, die er begangen hat.« Sie klappte den Schirm ihrer Mütze hoch und sah ihn an. Ihre Augen huschten unruhig über sein Gesicht, registrierten jedes verräterische Zucken. »Du glaubst mir doch?«
»Das kann ich im Moment noch nicht sagen.«
»Du musst mir glauben, Vasko.« Er merkte wohl, dass sie ihn nicht mehr Malinin nannte. »Denn sonst müsstest du daran zweifeln, dass er auch weiterhin fähig ist, die Kolonie zu führen. Und so weit würdest du doch wohl nicht gehen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe volles Vertrauen zu ihm. Frage, wen du willst, sie werden dir alle das Gleiche sagen. Und weißt du was? Wir haben Recht.«
»Aber natürlich.«
»Und wie steht es mit dir, Urton? Zweifelst du an ihm?«
»Nicht im Mindesten«, sagte sie. »Ich behaupte sogar, dass ihm das, was heute geschehen ist, keine einzige schlaflose Nacht bereiten wird.«
»Das klingt unglaublich abgebrüht.«
»Das ist meine Absicht. Denn das verlange ich auch von ihm. Er muss abgebrüht sein. Meinst du nicht auch, dass wir einen Führer wollen – brauchen –, der sich nicht von Gefühlen beherrschen lässt?«
»Ich weiß nicht«, sagte er. Er war mit einem Mal todmüde. »Ich weiß nur, dass ich nicht ausgegangen bin, um über das zu reden, was heute geschehen ist. Ich wollte frische Luft schnappen und versuchen, möglichst viel zu vergessen.«
»Ich auch«, sagte Urton. Ihre Stimme war weicher geworden. »Es tut mir Leid. Ich wollte nicht alles wieder aufrühren. Aber ich kann die Dinge wohl nur verarbeiten, indem ich darüber rede. Die Belastung war für uns alle ziemlich groß.«
»Das kann man wohl sagen. Bist du jetzt fertig?« Er spürte, wie der Jähzorn in ihm hochkochte und gleich einer scharlachroten Flut gegen die Mauern der Höflichkeit anbrandete. »Gestern und heute hast du mir ständig den Eindruck vermittelt, als könntest du es nicht ertragen, mit mir auf einer Welt oder gar in einem Raum zu sein. Woher der plötzliche Sinneswandel?«
»Ich habe mich schlecht benommen, und es tut mir Leid«, sagte sie.
»Nimm es mir nicht übel, aber das fällt dir ziemlich spät ein.«
»Ich musste erst selbst mit mir klarkommen, Vasko. Hab doch ein wenig Nachsicht mit mir. Es ging nicht gegen dich persönlich.«
»Da bin ich aber froh.«
»Wir hatten einen gefährlichen Auftrag. Unsere Gruppe war gut ausgebildet. Wir kannten uns und wussten, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Und dann kommst du im letzten Moment hereingeschneit. Ich kenne dich nicht, aber ich soll dir mein Leben anvertrauen. Ich kann dir ein Dutzend SD-Leute nennen, die ich lieber in diesem Boot gesehen hätte als dich. Denn bei denen hätte ich mich sicher gefühlt.«
Vasko sah, dass sie ihn zum Ufer führte. Vor dem Wasser ragten die Boote auf wie schwarze Schatten. Einige waren nur vertäut und konnten jederzeit ablegen, andere waren auf den Strand gezogen.
»Scorpio hat verfügt, dass ich mitkomme«, sagte Vasko. »Und nachdem die Entscheidung gefallen war, musstest du dich eben damit abfinden. Oder hattest du kein Vertrauen in sein Urteil?«
»Eines Tages wirst du in der gleichen Situation sein wie ich, Vasko, und es wird dir genauso wenig gefallen. Dann werden wir ja sehen, ob du immer noch im Brustton der Überzeugung forderst, man müsse sich eben auf das Urteil eines anderen verlassen.« Urton hielt inne und schaute zum Himmel. Eine dünne rote Linie zog sich von Horizont zu Horizont. Sie hatte seine Frage nicht beantwortet. »Ich hatte mir den Abend anders vorgestellt. Ich habe dich nicht aus der Menge gefischt, um mich wieder mit dir zu streiten. Ich wollte mich entschuldigen und dir begreiflich machen, warum ich mich so verhalten habe.«
Er kämpfte seinen Zorn nieder. »Na schön.«
»Außerdem gebe ich zu, dass ich mich geirrt habe.«
»Du konntest nicht wissen, wie alles enden würde«, sagte er.
Sie zuckte die Achseln und seufzte. »Nein, wohl nicht. Was immer die Leute sagen, als es darauf ankam, hat er sich nicht gedrückt. Er hat nicht gezögert, sein Leben einzusetzen.«
Sie hatten die Boote erreicht. Auf dem Strand lagen fast nur noch Wracks: Ihre Rümpfe waren nahe der Wasserlinie von Meeresorganismen zerfressen und hatten große Löcher. Früher oder später hätte man sie zum Einschmelzen gebracht, um aus dem Material neue Schiffe zu fertigen. Die Metallarbeiter waren sehr darauf bedacht, kein Stückchen Eisen zu vergeuden, das sich wiederverwerten ließ. Aber die Ausbeute war immer etwas geringer als die Masse der ursprünglichen Boote.
»Siehst du«, sagte Urton und zeigte über die Bucht.
Vasko nickte. »Ich weiß. Sie haben das Schiff bereits eingekreist.«
»Das meine ich nicht. Etwas höher, Falkenauge. Siehst du sie jetzt?«
»Ja«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ja, mein Gott. Sie werden es niemals schaffen.«
Etwas über dem Ring aus hüpfenden Booten, den Vasko bereits bemerkt hatte, waren am Fuß des Schiffes winzige Lichtfünkchen zu sehen. Nach seiner Schätzung konnten sie nicht mehr als ein paar Dutzend Meter über dem Meer sein. Darüber ragte das Schiff noch mehrere tausend Meter hoch auf.
»Wie kommen sie denn da hinauf?«, fragte er.
»Hand über Hand, nehme ich an. Du hast doch gesehen, wie das Ding aus der Nähe aussieht? Wie eine bröckelige Felswand, überall Griffe und Tritte. Wahrscheinlich ist es gar nicht so schwierig.«
»Aber der nächste Eingang muss mindestens ein paar hundert Meter über dem Meeresspiegel liegen. Die Flugzeuge landen immer dicht unter der Spitze.« Er wiederholte: »Sie werden es niemals schaffen. Sie sind wahnsinnig.«
»Das sind sie nicht«, sagte Urton. »Sie haben nur Angst. Richtig große Angst. Die Frage ist, ob wir uns anschließen sollten.«
Vasko sagte nichts. Er beobachtete, wie eines der Fünkchen ins Meer stürzte.
Minutenlang standen sie so und betrachteten das Schauspiel. Es gab keinen Absturz mehr, und die anderen Kletterer setzten ihren langsamen Aufstieg unbeirrt fort, ohne sich von dem Unglück abschrecken zu lassen, das doch viele von ihnen mit angesehen haben mussten. Ganz unten, wo die Boote gegen den Rumpf krachten, wagten sich neue Kletterer an den Aufstieg. Etliche Boote hatten kehrtgemacht und glitten langsam durch die Bucht dem Festland zu, aber sie kamen nur mühsam voran, und unter den Wartenden am Ufer stieg die Spannung.
Die Sicherheitsleute konnten die wütenden und verängstigten Menschen, die darauf warteten, zum Schiff gefahren zu werden, kaum noch in Schach halten. Vasko sah einen von ihnen aufgeregt in seinen Armbandkommunikator sprechen. Offensichtlich ein Hilferuf. Er war noch nicht ganz fertig, als ihn jemand zu Boden stieß.
»Wir sollten etwas unternehmen«, sagte Vasko.
»Wir sind nicht im Dienst, und zu zweit können wir ohnehin nichts ausrichten. Sie müssen sich eben etwas einfallen lassen. Lange können sie den Deckel nicht mehr draufhalten. Und wenn der Kessel überkocht, möchte ich lieber nicht mehr hier sein.« Sie deutete zum Ufer. »Ich habe die Meldungen abgehört, bevor ich ging. Östlich der Hohen Muschel ist es ruhiger. Ich habe Hunger und könnte auch einen Schluck vertragen. Kommst du mit?«
»Appetit habe ich eigentlich nicht«, sagte Vasko. Er war allmählich hungrig geworden, bis er den Kletterer ins Meer stürzen sah. »Aber ein Drink wäre nicht schlecht. Bist du sicher, dass noch irgendwo geöffnet ist?«
»Ich weiß ein paar Kneipen, wo wir es probieren könnten«, sagte Urton.
»Wenn das so ist, kennst du dich hier besser aus als ich.«
»Dein Problem ist, dass du zu wenig unter Menschen gehst«, sagte sie. Sie schlug ihren Mantelkragen hoch und drückte sich die Mütze auf den Kopf. »Nun komm, lass uns verschwinden, bevor es ungemütlich wird.«
Urton hatte das Viertel östlich der Muschel richtig eingeschätzt. Hier wohnten viele Sicherheitsleute, deshalb war die Gegend immer schon regierungstreu gewesen. Nun herrschte eine verstockte, vorwurfsvolle Ruhe. Auf den Straßen war nicht mehr los als sonst um diese Zeit, und obwohl viele Lokale geschlossen hatten, war die Bar, an die Urton gedacht hatte, noch geöffnet.
Sie führte Vasko durch den Schankraum in eine Nische mit zwei Stühlen und einem Tisch, die aus der Versorgungszentrale abgezweigt worden waren. Über der Nische hing ein Bildschirm, der auf den Regierungssender eingestellt war, aber im Moment nur ein Bild von Clavain zeigte. Es war erst ein paar Jahre alt, hätte aber auch vor Jahrhundert aufgenommen worden sein können. Der Mann, mit dem Vasko in den letzten zwei Tagen zusammen gewesen war, hatte doppelt so alt ausgesehen, doppelt so sehr vom Zahn der Zeit und von Härten und Entbehrungen gezeichnet. Unter Clavains Gesicht standen zwei Jahreszahlen, die etwa fünfhundert Jahre auseinander lagen.
»Ich hole uns ein Bier«, sagte Urton in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie hatte Mantel und Mütze abgenommen und beides auf einen Stuhl geworfen.
Vasko sah sie im Halbdunkel der Bar verschwinden. Vermutlich war sie hier Stammgast. Auf dem Weg zur Nische hatte er mehrere Gesichter gesehen, die ihm von der SD-Ausbildung her bekannt vorkamen. Einige hatten Seetang geraucht – eine bestimmte Sorte, die eine leicht narkotisierende Wirkung hatte, wenn man sie trocknete und nach einem bestimmten Verfahren behandelte. In der Ausbildung war das Zeug ebenfalls im Umlauf gewesen. Es war zwar verboten, aber immer noch leichter zu bekommen als die Schwarzmarktzigaretten, die angeblich aus einem ständig schrumpfenden Vorrat im Bauch der Sehnsucht nach Unendlichkeit stammten.
Als Urton zurückkehrte, hatte auch Vasko seinen Mantel ausgezogen. Sie stellte zwei Gläser mit einer widerlich gelben Flüssigkeit auf den Tisch, die verdächtig nach Urin aussah.
Vasko kostete vorsichtig. Das Getränk war aus einer anderen Seetangart hergestellt und nur sehr entfernt als Bier zu erkennen.
»Ich habe mit Draygo gesprochen«, sagte sie. »Das ist der Wirt hier. Er sagt, die Dienst habenden SD-Leute sind losgezogen und haben Löcher in alle Boote geschlagen, die noch am Ufer liegen. Sie lassen niemanden mehr ablegen, und wenn ein Boot zurückkehrt, beschlagnahmen sie es und verhaften alle, die an Bord sind.«
Vasko trank einen Schluck. »Ein Glück, dass sie so diplomatisch vorgehen.«
»Ich kann sie eigentlich verstehen. Angeblich sind bereits drei Menschen auf der Fahrt über die Bucht ertrunken. Zwei weitere sind abgestürzt, als sie das Schiff erklettern wollten.«
»Du hast vermutlich Recht, aber ich finde, die Menschen sollten selbst bestimmen dürfen, was sie tun wollen, auch wenn sie sich umbringen.«
»Man befürchtet eine Massenpanik. Früher oder später kommt garantiert jemand auf die Idee, zum Schiff zu schwimmen, und dann stürzen sich womöglich hunderte ins Meer. Was meinst du, wie viele ans Ziel kämen?«
»Lass sie doch«, sagte Vasko. »Selbst wenn sie ertrinken oder die Schieberkolonie verseuchen? Glaubst du wirklich, dass es darauf jetzt noch ankommt?«
»Wir haben auf Ararat mehr als zwanzig Jahre lang für stabile Verhältnisse gesorgt«, hielt Urton dagegen. »Sollen wir zulassen, dass in einer einzigen Nacht alles zusammenbricht? Die Leute haben widerrechtlich Boote an sich gebracht, die der Kolonie gehören und unersetzlich sind. Das ist nicht fair gegenüber den Bürgern, die nicht zum Schiff flüchten wollen.«
»Aber wir lassen Ihnen keine Alternative. Man hat ihnen gesagt, dass Clavain tot ist, aber niemand erklärt ihnen, was es mit diesen Lichtern am Himmel auf sich hat. Ist es da ein Wunder, wenn sie Angst haben?«
»Du glaubst, es würde die Situation entschärfen, wenn sie auch noch von dem Krieg wüssten?«
Vasko wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Das Seetangbier hatte einen weißen Schnurrbart hinterlassen. »Keine Ahnung, aber ich habe es satt, dass wir belogen werden, nur weil die Regierung es für besser hält, wenn wir nicht alle Fakten kennen. Als Clavain verschwand, war es genauso. Scorpio und die anderen entschieden, wir könnten nicht verkraften, dass der Alte selbstmordgefährdet sei, also banden sie uns den Bären auf, er sei irgendwo am anderen Ende der Welt. Jetzt glauben sie, die Leute könnten nicht verkraften, wie er gestorben ist oder worum es überhaupt ging, also sagen sie gar nichts.«
»Du findest also, Scorpio sollte entschiedener auftreten?«
»Ich habe großen Respekt vor Scorpio«, sagte Vasko. »Aber wo ist er jetzt, wenn wir ihn brauchen?«
»Du bist nicht der Einzige, der sich das fragt«, sagte Urton.
Vasko bemerkte eine Bewegung auf dem Bildschirm. Clavains Gesicht war verschwunden. Das Regierungsemblem war an seine Stelle getreten. Urton trank weiter, drehte sich aber auf ihrem Stuhl um.
»Jetzt tut sich etwas«, sagte sie.
Das Emblem flimmerte und verschwand. Scorpio erschien. Im Hintergrund waren die gewölbten rosaroten Wände im Innern der Hohen Muschel zu sehen. Das Hyperschwein trug die gewohnte dick gepolsterte Pseudouniform aus schwarzem Leder, der massige Schädel saß nahezu halslos auf den mächtigen Schultern.
»Du hast davon gewusst, nicht wahr?«, fragte Vasko.
»Draygo sagte, er hätte gehört, die Regierung habe etwa für diese Zeit eine Erklärung angekündigt. Aber ich weiß nicht, worum es geht, und ich wusste nicht, dass Scorpio sich zeigen würde.«
Jetzt hatte das Schwein zu sprechen begonnen. Bevor Vasko eine Möglichkeit gefunden hatte, den Ton lauter zu stellen, schallte die Stimme deutlich vernehmbar aus mehreren Lautsprechern durch das Nischenlabyrinth.
»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, sagte er. »Sie wissen alle, wer ich bin. Jetzt spreche ich als kommissarischer Leiter dieser Kolonie zu Ihnen. Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen. Nevil Clavain ist heute auf einer für die strategische Sicherheit Ararats höchst wichtigen Mission ums Leben gekommen. Ich war an dieser Mission ebenfalls beteiligt und kann Ihnen versichern, dass ohne Clavains Tapferkeit und seinen selbstlosen Opfermut die aktuelle Situation noch um vieles ernster wäre, als es ohnehin der Fall ist. Wie die Dinge liegen, war die Operation trotz Clavains Tod erfolgreich. Ich bin fest entschlossen, Sie alle zu gegebener Zeit über die Ergebnisse zu informieren. Doch vorher muss ich über die Unruhen in allen Bereichen von Lager eins und über die Aktionen des Sicherheitsdienstes zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung sprechen. Bitte hören Sie genau zu, unser aller Leben hängt davon ab. Fahrten zur Sehnsucht nach Unendlichkeit werden nur noch mit behördlicher Genehmigung durchgeführt. Die Reserven der Kolonie sind begrenzt und dürfen nicht leichtfertig vergeudet werden. Ab sofort wird jeder Versuch, ohne Erlaubnis das Schiff zu erreichen, auf der Stelle mit dem Tod bestraft.«
Vasko warf einen Blick auf Urton, konnte aber nicht erkennen, ob sie empört war oder der Maßnahme innerlich zustimmte.
Das Schwein legte eine kurze Pause ein. Mit der Übertragung stimmte etwas nicht. Clavains Bild tauchte wieder auf und überlagerte Scorpios Gesicht wie ein dünner Schleier. »Aber die Regierung bietet eine Alternative an. Allen Bürgern wird empfohlen, an Ort und Stelle zu bleiben und ihrer gewohnten Arbeit nachzugehen. Es wird jedoch zur Kenntnis genommen, dass eine Minderheit den Wunsch hat, sich auf die Sehnsucht nach Unendlichkeit zu begeben. Deshalb wird eine sichere und legale Beförderungsmöglichkeit geschaffen werden. Ab morgen Mittag und so lange wie nötig werden Transporte zum Schiff durchgeführt. Gruppen von jeweils hundert Menschen werden von eigens gekennzeichneten Flugzeugen auf die Unendlichkeit gebracht. Ab morgen früh sechs Uhr verteilen uniformierte Angehörige des Sicherheitsdienstes an der Hohen Muschel und allen anderen Regierungszentren Blätter mit Durchführungsbestimmungen und Gepäckvorschriften. Versteifen Sie sich nicht darauf, die erste Maschine zu erreichen, denn – ich wiederhole – die Flüge werden so lange fortgesetzt, wie Bedarf besteht.«
»Sie hatten keine andere Wahl«, sagte Vasko leise. »Scorp tut das Richtige.«
Aber das Schwein war noch nicht fertig. »All jenen, die sich für eine Flucht auf die Unendlichkeit entscheiden, sei Folgendes gesagt: Die Verhältnisse auf dem Schiff werden grauenhaft sein. In den letzten dreiundzwanzig Jahren waren selten mehr als ein paar Dutzend Menschen gleichzeitig an Bord. Inzwischen sind weite Teile des Schiffes unbewohnbar oder einfach unerforscht. Um den Zustrom von hunderten oder womöglich tausenden von Flüchtlingen zu bewältigen, muss der Sicherheitsdienst hart durchgreifen. Wer bereits die Krisenregelung in Lager eins für drakonisch hält, hat keine Vorstellung, wie viel schlimmer es auf dem Schiff zugehen wird. Es wird nur ein Recht geben, das Recht auf Überleben, und wir werden diktieren, was darunter zu verstehen ist.«
»Was soll denn das heißen?«, fragte Vasko. Scorpio fuhr fort, die Transportregelungen zu erläutern.
»Man wird die Menschen einfrieren müssen«, sagte Urton. »Man wird sie wieder in Schlafsärge zwängen wie damals auf dem Flug hierher.«
»Und warum sagt er das nicht?«
»Weil er es offenbar nicht will.«
»Diese Kälteschlaftanks sind nicht sicher«, sagte Vasko. »Ich weiß, was beim letzten Einsatz passiert ist. Viele kamen nicht lebend heraus.«
»Na und?«, sagte Urton. »Die Chancen stehen so immer noch besser, als wenn die Menschen auf eigene Faust flüchten – das sollten sie auch ohne diesen Hinrichtungsbefehl einsehen.«
»Ich verstehe immer noch nicht. Warum bietet er ihnen die Möglichkeit überhaupt an, wenn die Regierung sie nicht für richtig hält?«
Urton zuckte die Achseln. »Vielleicht weiß die Regierung auch nicht, was sie tun soll. Wenn sie die gesamte Bevölkerung aufruft, sich auf das Schiff zu begeben, bricht mit Sicherheit eine Panik aus. Versetz dich doch einmal in die Lage der Ältesten. Woher sollen sie wissen, was besser ist: Wenn die Menschen auf das Schiff flüchten, oder wenn sie auf dem Planeten bleiben?«
»Sie können es nicht wissen«, sagte Vasko. »Wie immer sie entscheiden, es kann falsch sein.«
Urton nickte nachdrücklich. Ihr Glas war fast leer. »Mit diesem Verfahren gelingt es Scorpio immerhin, das Risiko zu streuen. Ein Teil der Menschen landet auf dem Schiff, ein Teil bleibt zurück. Wenn man sicherstellen will, dass zumindest einige überleben, ist das die perfekte Lösung.«
»Das klingt herzlos.«
»Das ist es auch.«
»Das heißt, die Sorge, Scorpio könnte nicht abgebrüht genug sein, hat sich erledigt.«
»Nein, das kann man ihm nicht vorwerfen«, entgegnete Urton. »Natürlich könnte es sein, dass wir das alles ganz falsch sehen. Aber wenn nicht, bist du schockiert?«
»Eigentlich nicht. Und ich denke, du hast Recht. Wir brauchen einen starken Führer, der sich nicht scheut, auch das Undenkbare in Betracht zu ziehen.« Vasko stellte sein Glas ab. Es war erst halb leer, aber der Durst war ihm ebenso vergangen wie der Appetit. »Eine Frage«, sagte er. »Warum bist du auf einmal so nett zu mir?«
Urton musterte ihn wie ein Schmetterlingssammler ein aufgespießtes Exemplar. »Weil ich vielleicht irgendwann ganz froh wäre, dich auf meiner Seite zu wissen.«