Hela

2727

 

 

Der Ultra-Captain hieß Heckel, und sein Schiff hatte den Namen Dritte Gasometrie. Er war in einer überaus antiquierten roten Fähre gelandet – sie bestand aus drei verbundenen Kugeln, die mit riesigen stilisierten Taranteln markiert waren.

Dieser Heckel war selbst für moderne Begriffe ein sehr seltsames Individuum. Der Mobilitätsanzug, in dem er die Morwenna betrat, war ein Monstrum aus Leder und Messing mit gummierten Faltenbälgen an allen Gelenken und blanken, fest aufgenieteten Stahlplatten. Der Helm hatte nur winzige vergitterte Augenöffnungen, hinter denen unentwegt Scheibenwischer hin und her gingen, um für klare Sicht zu sorgen. Aus defekten Anschlüssen und porösen Dichtungen zischte Dampf. Der Captain wurde von zwei Assistenten begleitet, die ständig irgendwelche Klappen an seinem Anzug öffneten und schlossen und mit Messingknöpfen und Ventilen hantierten. Seine Stimme kam aus einer kleinen Pfeifenorgel, die aus seinem Helm herauswuchs. Wenn sie zu schrill oder zu tief wurde, musste er sie mit verschiedenen Knöpfen in der Brustgegend regulieren.

Quaiche verstand kein Wort von dem, was der Mann sagte, aber das war weiter kein Problem. Heckel hatte einen Standard-Dolmetscher mitgebracht, eine kleine Frau mit sanften Rehaugen, die einen halbwegs neuzeitlichen Raumanzug trug. Der Helm hatte sich zusammengefaltet und nach hinten weggeklappt wie der Schopf eines Kakadus, sodass man ihr Gesicht sehen konnte.

»Sie sind keine Ultra«, wandte sich Quaiche an die Dolmetscherin.

»Spielt das eine Rolle?«

»Es amüsiert mich nur. Als ich anfing, hatte ich nämlich eine ganz ähnliche Stellung wie Sie.«

»Das muss lange her sein.«

»Aber es fällt den Ultras offenbar immer noch schwer, mit unseresgleichen zu verhandeln?«

»Unseresgleichen, Dekan«

»Standardmenschen wie Ihnen und mir.«

Sie hatte sich gut unter Kontrolle, aber ihre Belustigung entging ihm nicht. Er stellte sich vor, was sie sah: einen gebrechlichen alten Mann mit Augen wie geschälten Früchten, der, umgeben von beweglichen Spiegeln, in seinem Krankenstuhl dahinsiechte. Er hatte auf seine Sonnenbrille verzichtet.

Quaiche hob die Hand. »Ich habe nicht immer so ausgesehen. Ich konnte mich als Standardmensch in normaler Gesellschaft bewegen, ohne Aufsehen zu erregen. Dann bekam ich genau wie Sie eine Stellung auf einem Ultraschiff. Bei Königin Jasmina von der Gnostische Himmelfahrt…«

Heckel drehte an seinen Knöpfen und orgelte etwas Unverständliches.

»Er sagt, Jasmina hatte auch unter anderen Ultras nicht den besten Ruf«, übersetzte die Dolmetscherin. »Bis auf den heutigen Tag gilt es in gewissen Ultrakreisen als hochgradig geschmacklos, ihren Namen zu erwähnen.«

»Ich dachte immer, Ultras wüssten gar nicht, was Geschmack ist«, gab Quaiche scherzhaft zurück.

Heckels Orgeln wurde schrill und gebieterisch.

»Er meint, Sie hätten offenbar vieles vergessen«, übersetzte die Dolmetscherin. »Und er hätte heute auch noch andere Dinge zu erledigen.«

Quaiche befingerte den Saum seiner roten Decke. »Nun gut. Nur zur Klarstellung… Sie würden mein Angebot eventuell in Betracht ziehen?«

Die Dolmetscherin hörte Heckel kurz zu und wandte sich dann an Quaiche. »Er sagt, er hält die Sicherheitsvereinbarung, die Sie vorschlagen, für überzeugend.«

Quaiche nickte eifrig, und die Spiegel nickten notgedrungen mit. »Natürlich wäre sie für beide Parteien von Vorteil. Ich könnte mich unter dem Schutz eines Schiffes wie der Dritte Gasometrie vor den skrupelloseren Ultra-Elementen sicher fühlen, die, wie wir alle wissen, im All ihr Unwesen treiben. Und Sie würden für diesen Schutz – den Sie mir für einen festen, aber natürlich nicht unbegrenzten Zeitraum gewähren müssten – in Form von Handelsprivilegien, Insiderinformationen und dergleichen entlohnt. Wir würden beide profitieren, Captain Heckel. Sie müssten sich lediglich bereit erklären, die Dritte Gasometrie näher an Hela heranzufliegen und in einige sehr maßvolle freundschaftliche Absprachen einzuwilligen… unter anderem in die Stationierung einer kleinen Kathedralen-Delegation auf Ihrem Schiff und – selbstverständlich – einer entsprechenden Gruppe auf der Morwenna. Danach könnten Sie sich sofort vor allen Ihren Konkurrenten die besten Flitzerfunde aus unseren Beständen sichern.« Quaiche sah sich misstrauisch um, als hätte er in den Schatten des Turmzimmers Feinde entdeckt. »Und wir bräuchten nicht mehr in ständiger Angst vor Übergriffen zu leben.«

Der Captain orgelte eine Antwort.

»Er sagt, er sieht den geschäftlichen Nutzen dieser Vereinbarung«, übersetzte die Dolmetscherin, »aber er weist mit Nachdruck darauf hin, welches Risiko er eingehen müsste, wollte er sein Schiff näher an Hela heranbringen. Er erinnert in diesem Zusammenhang an das Schicksal der Gnostische Himmelfahrt…«

»Ich dachte, es sei geschmacklos, das Schiff zu erwähnen.«

Sie überhörte den kleinen Seitenhieb. »Außerdem möchte er die Handelsprivilegien konkreter gefasst sehen, bevor weitere Gespräche stattfinden. Auch müsste er auf der Festlegung einer maximalen Vertragsdauer bestehen…« Heckel orgelte eine ganze Serie von Zusätzen. Sie wartete, bis er fertig war, dann fuhr sie fort: »Zu sprechen wäre auch über den Ausschluss gewisser anderer Gruppen, die sich derzeit im System aufhalten oder sich im Anflug befinden, von allen Handelsbeziehungen. Er denkt dabei insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, an die Handelsschiffe Verklärte Nacht, Wespenmadonna und Stille unter dem Schnee…«

So ging es weiter, bis Quaiche enttäuscht die Hand hob und sie unterbrach. »Das alles können wir auch später klären«, sagte er. »Zunächst müsste die Kathedrale – selbstverständlich – auf einer eingehenden technischen Überprüfung der Dritte Gasometrie bestehen, um sicherzugehen, dass das Schiff für Hela oder seine Bewohner keine Gefahr darstellt…«

»Der Captain möchte wissen, ob Sie die Tauglichkeit seines Schiffes in Zweifel ziehen«, erklärte die Dolmetscherin.

»Keineswegs. Wie käme ich dazu? Er hat es schließlich bis hierher geschafft. Andererseits, wenn er nichts zu verbergen hat…«

»Der Captain möchte auf seine Fähre zurückkehren, um Ihre Vorschläge zu überdenken.«

»Gewiss doch!«, rief Quaiche mit einer Begeisterung, als wäre er zu jedem Zugeständnis bereit. »Mein Angebot ist ernst gemeint, und man sollte nichts überstürzen. Schlafen Sie darüber. Besprechen Sie es mit anderen. Holen Sie eine zweite Meinung ein. Soll ich eine Eskorte rufen?«

»Der Captain findet auch allein zu seiner Fähre zurück«, sagte die Dolmetscherin.

Quaiche winkte ihm zum Abschied zu. »Nun gut. Bitte übermitteln Sie Ihrer Besatzung meine besten Wünsche… und ziehen Sie mein Angebot sehr ernsthaft in Erwägung.«

Der Captain machte kehrt und strebte unter rhythmischem Klirren der Tür zu, ohne dass seine Assistenten aufgehört hätten, die Hebel und Ventile seines albernen Anzugs zu verstellen. Sein Abgang war so quälend langsam wie sein Auftritt. Der Anzug schien unfähig, mehr als zwei Zentimeter lange Schritte zu machen.

Der Captain hielt noch einmal inne und drehte sich mühsam um. Die Scheibenwischer gingen hin und her. Aus der Pfeifenorgel drang eine neue Tonfolge.

»Entschuldigen Sie«, sagte die Dolmetscherin, »aber der Captain hat noch eine Frage. Beim Anflug auf die Morwenna musste er infolge technischer Probleme seiner Fähre unerwartet von der üblichen Route abweichen.«

»Technische Probleme? Ist das denn die Möglichkeit?«

»Dabei beobachtete er umfangreiche Grabungen etwas nördlich des Ewigen Weges in der Nähe der Jarnsaxa-Ebene. Eine teilweise getarnte Vertiefung zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Bei näherer Untersuchung mit dem Radar der Fähre ergab sich, dass es sich um eine abschüssige Höhle von mehreren Kilometern Länge und mindestens einem Kilometer Tiefe handelte. Er nimmt an, dass die Grabung mit Flitzerfunden zu tun hat.«

»Das mag schon sein«, sagte Quaiche gespielt gleichgültig.

»Der Captain ist ein wenig ratlos. Er kennt die Verhältnisse auf Hela nicht allzu gut, war aber bislang der Meinung, die größten Fundstätten befänden sich in den zirkumpolaren Regionen.«

»Flitzerfunde gibt es überall auf Hela«, sagte Quaiche. »Dank der geografischen Gegebenheiten sind sie in den Polarregionen lediglich leichter zugänglich. Ich weiß nicht, welche Grabung Sie gesehen haben oder warum sie getarnt war. Bedauerlicherweise stehen die meisten derartigen Projekte nicht direkt unter kirchlicher Verwaltung. Wir können sie nicht alle überwachen.«

»Das war eine sehr aufschlussreiche Antwort. Der Captain bedankt sich.«

Quaiche runzelte die Stirn, dann setzte er ein nachsichtiges Lächeln auf. Wie war das zu verstehen? War der Sarkasmus gewollt, oder hatte sie einfach nicht den richtigen Ton getroffen? Sie war ein Standardmensch, und in solchen Leuten hatte er früher gelesen wie in einem offenen Buch. Inzwischen hatte er sich von ihresgleichen – nicht nur Frauen, sondern fast allen Menschen – so weit entfernt, dass er mit seinen Instinkten nichts mehr ausrichten konnte. Er sah den beiden nach.

Der Captain hinterließ einen Geruch nach heißem Metall. Quaiche wartete ungeduldig, während die giftigen Dämpfe abgesaugt wurden.

Wenig später hörte er Greliers Krückstock klappern. Der Generalmedikus war in der Nähe gewesen und hatte das Gespräch über versteckte Kameras und Mikrofone verfolgt.

»Klingt recht vielversprechend«, bemerkte er beim Eintreten. »Er hat nicht sofort abgelehnt, und er hat tatsächlich ein Schiff. Ich schätze, er kann es gar nicht erwarten, das Geschäft abzuschließen.«

»Das denke ich auch«, sagte Quaiche und wischte über einen beschlagenen Spiegel, um Haldora wieder in gewohnter Klarheit erstrahlen zu lassen. »Wenn man Heckels ohnehin nicht sehr überzeugendes Gepolter wegnimmt, scheint ihm das Angebot überaus gelegen zu kommen.« Er hielt ein Blatt Papier in die Höhe, das er während der Verhandlungen fest an die Brust gedrückt hatte. »Ein Bericht über den technischen Zustand des Schiffes von unseren Agenten im parkenden Schwarm. Klingt nicht ermutigend. Die Kiste fällt auseinander. Hat es gerade noch bis 107 P geschafft.«

»Mal sehen.« Grelier überflog das Papier mit einem kurzen Blick. »Sie können sich nicht darauf verlassen, dass das den Tatsachen entspricht.«

»Nein?«

»Nein. Ultras spielen den Zustand ihrer Schiffe immer herunter, oft verbreiten sie sogar gezielte Falschinformationen. Das hat den Zweck, Konkurrenten ein trügerisches Gefühl der Überlegenheit zu geben und Piraten davon abzubringen, das Schiff zu entern.«

»Bei der Verteidigungsfähigkeit wird allerdings unweigerlich übertrieben«, erklärte Quaiche mit mahnend erhobenem Zeigefinger. »Im Moment gibt es im ganzen Schwarm kein Schiff, das nicht irgendwelche Waffen mitführte, auch wenn sie als harmlose Systeme zur Kollisionsvermeidung getarnt sind. Die Ultras haben Angst, Grelier, einer wie der andere, und jeder Captain will seinen Rivalen zeigen, dass er sich zu wehren weiß.« Er nahm das Blatt wieder an sich. »Und was hier steht, ist ein Witz. Die müssen zuerst ihr Schiff reparieren, und dazu brauchen sie unsere Unterstützung. Eigentlich müsste es umgekehrt sein, wenn sie als Beschützer überhaupt in Frage kommen sollen.«

»Wie gesagt, man weiß bei den Ultras nie, welche Absichten sie letztlich verfolgen.«

Quaiche zerknüllte das Papier und warf es quer durch den Raum. »Das Problem ist, dass ich nicht fähig bin, ihre verdammten Absichten zu durchschauen.«

»Wer könnte ein Monster wie Heckel durchschauen?«, fragte Grelier.

»Ich meine nicht nur ihn, sondern alle Ultras und die normalen Menschen, die sie mitbringen. Bei der Frau gerade eben konnte ich nicht nur nicht erkennen, ob sie aufrichtig oder herablassend war, ich wusste nicht einmal, ob sie wirklich glaubte, was Heckel mir durch sie sagen ließ.«

Grelier küsste den Knauf seines Krückstocks. »Sie wollen meine Meinung hören? Sie haben die Situation richtig eingeschätzt: Sie war nur Heckels Sprachrohr. Und er war sehr erpicht auf Ihr Angebot.«

»Zu erpicht für meinen Geschmack«, sagte Quaiche.

Grelier klopfte mit dem Stock auf den Boden. »Dann vergessen Sie doch die Dritte Gasometrie. Was ist mit der Sinkenden Lerchel Neutrale Berichte sprechen von einer sehr brauchbaren Waffenausstattung, und der Captain schien durchaus an Geschäftsbeziehungen interessiert.«

»In den Berichten stand auch etwas von einer Instabilität im Steuerbordtriebwerk. Ist Ihnen das entgangen?«

Grelier zuckte die Achseln. »Wir wollen mit dem Schiff schließlich nirgendwohin fliegen, es soll Hela nur umkreisen und alle anderen einschüchtern. Solange die Bewaffnung dafür ausreicht, kann es uns doch gleichgültig sein, ob es nach Ablauf des Vertrages das System auch wieder verlassen kann.«

Quaiche winkte ab. »Ich muss zugeben, dass mir der Bursche, den sie geschickt hat, nicht sehr sympathisch war. Er war so undicht, dass er den ganzen Fußboden verschmutzte. Es dauerte Wochen, um die Flecken wieder zu beseitigen. Und wenn Sie eine Triebwerksinstabilität nur für eine lästige Schwäche halten, dann irren Sie sich. Das Schiff, mit dem wir den Vertrag abschließen, wird nur um wenige Zehntel einer Lichtsekunde von unserer Oberfläche entfernt sein, Grelier. Wir können nicht riskieren, dass es uns um die Ohren fliegt.«

»Das heißt, wir sind keinen Schritt weitergekommen«, stellte Grelier gleichmütig fest. »Aber Sie haben schließlich noch andere Ultras auf der Liste, nicht wahr?«

»Genügend, um mich zu nicht zu langweilen, aber letztlich stehe ich immer wieder vor dem gleichen Problem: Ich kann die Leute nicht einschätzen, Grelier. Haldora füllt mein Denken so restlos aus, dass nichts anderes mehr Platz hat. Früher konnte ich jedes noch so überzeugende Manöver durchschauen, aber das ist vorbei.«

»Wir sprechen über dieses Thema nicht zum ersten Mal. Sie wissen, dass Sie mich immer um meine Meinung fragen können.«

»Was ich ja auch tue. Aber – nichts für ungut, Grelier – Sie verstehen sehr viel mehr von Blut und vom Klonen als von der menschlichen Natur.«

»Dann holen Sie sich anderswo Hilfe. Stellen Sie sich ein Beratergremium zusammen.«

»Nein.« Grelier hatte Recht – sie diskutierten das Thema nicht zum ersten Mal. Und über diesen Punkt kamen sie nie hinaus. »Solche Verhandlungen über ein Schutzbündnis sind sehr heikel, das liegt in der Natur der Sache. Ich kann nicht riskieren, dass geheime Informationen an andere Kathedralen gelangen.« Er bedeutete Grelier mit einer Geste, mit der Reinigung seiner Augen zu beginnen. »Sehen sie mich an«, sagte er, während der Generalmedikus den Medizinschrank öffnete und die antiseptischen Tupfer vorbereitete. »Ich bin in vieler Hinsicht abschreckend. Ich bin an diesen Stuhl gefesselt, ohne ihn kann ich kaum überleben. Und selbst wenn ich die Kraft hätte, ihn zu verlassen, ich müsste doch immer in Sichtverbindung mit meinen geliebten Spiegeln bleiben. Ich wäre immer noch ein Gefangener der Morwenna.«

»Ein freiwilliger Gefangener«, sagte Grelier.

»Sie wissen genau, wie ich das meine. Ich kann nicht zu den Ultras gehen wie sie zu uns. Ich kann sie nicht auf ihren Schiffen aufsuchen wie irgendein Abgesandter der Ökumene.«

»Dazu haben wir unsere Agenten.«

»Dennoch fühle ich mich eingeschränkt. Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann, Grelier, eine Art jüngeres Ich. Jemanden, der über jeden Verdacht erhaben wäre.«

»Verdacht?« Grelier beugte sich über Grelier und tupfte seine Augen ab.

»Ich meine jemanden, der ganz von selbst Vertrauen erweckt. Ganz anders als Sie.«

»Halten Sie still.« Quaiche zuckte zusammen. Es brannte, als der feuchte Tupfer seinen Augapfel berührte. Eigentlich sollte er dort keine Nervenenden haben, aber der Generalmedikus fand mit tödlicher Sicherheit jede schmerzempfindliche Stelle. »Übrigens«, sagte Grelier nachdenklich, »ist mir neulich eine Idee gekommen. Vielleicht können Sie etwas damit anfangen.«

»Heraus damit.«

»Sie wissen ja, ich möchte gern über alles Bescheid wissen, was sich auf Hela so tut. Nicht nur im näheren Umkreis der Kathedralen und des Weges, sondern auch in der weiteren Welt einschließlich der Dörfer.«

»Ach ja. Sie sammeln unermüdlich Berichte über nicht katalogisierte Virenstämme, interessante neuen Irrlehren in den Hauk-Siedlungen und so weiter. Und dann fahren Sie wie ein richtiger kleiner Vampir mit Ihren blitzblanken neuen Spritzen an den Ort des Geschehens.«

»Ich will mein Interesse am Blutzoll gar nicht leugnen, aber auf solchen Fahrten schnappe ich auch andere interessante Informationen auf. Sie sollen still halten!«

»Und Sie sollen mir nicht die Sicht verstellen! Was für Informationen?«

»Meine vorletzte Wachphase vor acht bis zehn Jahren dauerte zwei Jahre. An diese Reanimation erinnere ich mich sehr gut: Es war das erste Mal, dass ich diesen Stock brauchte. Gegen Ende dieser Phase unternahm ich eine lange Reise nach Norden, um einigen Hinweisen auf jene unkatalogisierten Virenstämme nachzugehen, von denen Sie eben sprachen. Zurück fuhr ich mit einer der Karawanen und sperrte – Verzeihung – die Augen auf, um mir nichts Außergewöhnliches entgehen zu lassen.«

»An die Reise erinnere ich mich«, sagte Quaiche. »Aber ich wüsste nicht, dass Sie mir von irgendeinem besonderen Zwischenfall berichtet hätten.«

»Es gab auch nichts dergleichen. Jedenfalls schien es mir damals so. Doch dann hörte ich vor einigen Tagen eine Meldung in den Nachrichten, und die weckte eine Erinnerung.«

»Nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter!«

Grelier seufzte und stellte seine Gerätschaften in den Schrank zurück. »Es ging um eine Familie«, sagte er, »die aus dem Ödland von Vigrid zur Karawane gefahren kam. Die Eltern mit ihren zwei Kindern: einem Sohn und einer jüngeren Tochter.«

»Ich bin gefesselt.«

»Der Sohn suchte Arbeit am Weg. Ich machte von meinem Recht Gebrauch, beim Anwerbungsgespräch anwesend zu sein. Eigentlich war ich nur neugierig: Der Fall selbst interessierte mich nicht weiter, aber man weiß ja nie, was einem so über den Weg läuft.« Grelier schloss den Schrank. »Der Sohn wollte als Techniker in der für die Instandhaltung des Weges zuständigen Behörde unterkommen – vielleicht im Planungsbüro. Doch damals brauchte der Weg wahrhaftig keine weiteren Bürohengste. Die einzigen freien Stellen gab es – wie soll ich sagen – am anderen Ende der Skala.«

»In der Not frisst der Teufel Fliegen«, bemerkte Quaiche.

»Ganz recht. Aber in diesem Fall war der Personalvermittler nicht gewillt, alle diesbezüglichen Fakten offen auf den Tisch zu legen. Stattdessen erklärte er, es gebe keine Schwierigkeiten, dem Sohn einen sicheren und gut bezahlten Posten in der technischen Abteilung zu besorgen. Es handle sich um eine rein analytische Tätigkeit, für die man einen klaren Verstand und einen kühlen Kopf brauche, deshalb komme eine Infektion mit dem Virus nicht infrage.«

»Hätte er die Wahrheit gesagt, dann hätte er den Bewerber verloren.«

»Davon muss man ausgehen. Der Junge war sicherlich ein heller Kopf. Eigentlich zu schade, um ihn beim Anbringen von Sprengladungen oder anderen Tätigkeiten mit ähnlich geringer Lebenserwartung zu verheizen. Und da die Familie – wie die meisten da oben im Ödland – keiner Kirche angehörte, lehnte er es ausdrücklich ab, sich Ihr Blut einspritzen zu lassen.«

»Es ist nicht mein Blut. Es ist ein Virus.«

Grelier brachte seinen Herrn und Meister mit erhobenem Zeigefinger zum Schweigen. »Der springende Punkt ist, dass der Personalvermittler gute Gründe hatte, ihn zu belügen. Eigentlich war es nur eine harmlose Lüge. Jedermann wusste, dass Verwaltungsposten dünn gesät waren. Ich glaube sogar, dass auch der Sohn das wusste, aber seine Familie brauchte das Geld.«

»Die Geschichte hat doch hoffentlich eine Pointe, Grelier?«

»Ich kann mich an den Sohn kaum noch erinnern. Aber die Tochter? Die sehe ich jetzt ganz deutlich vor mir. Sie schaute durch uns alle hindurch, als wären wir aus Glas. Ihre Augen waren ungewöhnlich, goldbraun mit kleinen Lichtsprenkeln darin.«

»Wie alt war sie denn, Grelier?«

»Acht oder neun, würde ich sagen.«

»Sie widern mich an.«

»Es war nicht das, was Sie meinen«, verwahrte sich Grelier. »Jeder von den Anwesenden spürte es, besonders der Personalvermittler. Sie sagte ihren Eltern immer wieder, er würde lügen. Sie war ganz sicher. Sie fühlte sich geradezu beleidigt, als spielten alle in diesem Zimmer ein Spiel, und nur ihr hätte man nichts davon gesagt.«

»Kinder benehmen sich in Gesellschaft von Erwachsenen oft seltsam. Es war ein Fehler, sie mitzunehmen.«

»Eigentlich war ihr Verhalten gar nicht so abwegig«, widersprach Grelier. »Ich fand es durchaus vernünftig. Unvernünftig waren nur die Erwachsenen. Sie wussten alle, dass der Personalvermittler log, aber sie war die Einzige, die sich das auch eingestand.«

»Vermutlich hatte sie vor dem Gespräch irgendeine Bemerkung der Art belauscht, Personalvermittler würden immer lügen.«

»Das mag sein, aber ich vermutete schon damals, dass etwas mehr dahintersteckte. Sie brauchte den Mann nur anzusehen, um zu wissen, dass er log. Es gibt vereinzelt Menschen, die mit dieser Fähigkeit geboren werden. Doch höchstens bei einem von tausend, wahrscheinlich nicht einmal das, ist sie so stark ausgeprägt wie bei diesem kleinen Mädchen.«

»Gedankenlesen?«

»Nein. Nur ein feines Gespür für subliminale Informationen, die bereits vorliegen. Gesichtsausdrücke in erster Linie. Die Muskeln in einem Gesicht können dreiundvierzig verschiedene Bewegungen ausführen, das ermöglicht zehntausende von Kombinationen.«

Grelier hatte seine Hausaufgaben bereits gemacht, dachte Quaiche. Der kleine Exkurs war offensichtlich schon länger geplant.

»Viele dieser Bewegungen sind nicht dem Willen unterworfen«, fuhr er fort. »Wer nicht sehr gut geschult ist, kann einfach nicht lügen, ohne sich durch seinen Gesichtsausdruck zu verraten. Meistens spielt das natürlich keine Rolle. Andere Menschen merken nichts davon, weil sie für diese Mikroveränderungen blind sind. Aber stellen Sie sich vor, Sie hätten diese Gabe. Sie könnten nicht nur alle Menschen um sich herum durchschauen, ohne dass die es ahnten, sondern hätten sich auch selbst so weit unter Kontrolle, um alle Signale zu unterdrücken, die Sie nicht senden wollen.«

»Hm.« Quaiche sah allmählich, worauf Grelier hinauswollte. »Bei jemandem wie Heckel würde es nicht viel nützen, aber bei einem Standardmenschen… jemandem mit einem Gesicht… wäre es etwas anderes. Können Sie mir das womöglich beibringen?«

»Ich kann noch mehr«, sagte Grelier. »Ich kann Ihnen das Mädchen holen. Dann kann sie den Unterricht übernehmen.«

Quaiche betrachtete Haldoras Spiegelbild über sich. Ein zuckender Lichtfaden in der südlichen Polarregion hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

»Dazu müssten Sie sie erst hierher locken«, sagte er. »Das ist nicht einfach, wenn Sie nie eine Lüge gebrauchen können.«

»Nicht so schwierig, wie Sie denken. Mit ihr ist es wie mit Antimaterie: Man muss nur wissen, mit welchen Instrumenten man sie anfasst. Ich sagte doch vorhin, dass ich vor ein paar Tagen etwas hörte, was die Erinnerung an diesen Vorfall weckte. Es war der Name des Mädchens. Rachmika Els. Er wurde in einer Nachrichtensendung aus dem Ödland von Vigrid erwähnt. Man veröffentlichte auch ein Foto. Natürlich ist sie seither acht oder neun Jahre älter geworden, aber sie war es tatsächlich. Diese Augen vergisst man nicht. Sie wurde als vermisst gemeldet. Die Gendarmerie war ihretwegen in heller Aufregung.«

»Das nützt uns gar nichts.«

Grelier lächelte. »Aber ich habe sie gefunden. Sie fährt mit einer Karawane zum Ewigen Weg.«

»Sie sind ihr begegnet?«

»Nicht direkt. Ich habe die Karawane besucht, aber ich habe mich Miss Els nicht gezeigt. Ich wollte sie nicht erschrecken, es könnte doch sein, dass wir sie noch brauchen. Sie will unbedingt herausfinden, was aus ihrem Bruder geworden ist, dennoch wird sie sich hüten, dem Weg zu nahe zu kommen.«

»Hm.« Das passte alles so herrlich zusammen, dass Quaiche lächeln musste. »Was ist denn nun aus diesem Bruder geworden?«

»Er starb bei Räumarbeiten«, sagte Grelier. »Wurde von der Morwenna zerquetscht.«

Offenbarung
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