Fünf
Ararat
2675
Clavain und Scorpio hatten das Zelt fast erreicht, als Vasko dahinter auftauchte. Er kam nach vorne und blieb am Eingang stehen. Ein Windstoß rüttelte am Gestänge und ließ den grünfleckigen Stoff flattern. Der Wind klang ungeduldig, als wollte er sie antreiben. Der junge Mann war sichtlich nervös und wusste nicht, wohin mit seinen Händen.
Clavain musterte ihn misstrauisch. »Ich dachte, du wärst allein gekommen«, sagte er leise.
»Er wird keine Schwierigkeiten machen«, versprach Scorpio. »Er war etwas überrascht, als er hörte, wo du die ganze Zeit gesteckt hattest, aber ich denke, das hat er jetzt überwunden.«
»Hoffentlich.«
»Nevil, sei bitte nicht zu streng mit ihm. Du wirst später noch genügend Zeit haben, das Tyrannenmonster zu spielen.«
Als der junge Mann in Hörweite war, hob Clavain die Stimme und rief heiser: »Wie heißen Sie, mein Sohn?«
»Vasko, Sir«, sagte der Junge. »Vasko Malinin.«
»Das ist ein Resurgam-Name, nicht wahr? Kommen Sie von dort?«
»Ich wurde hier geboren, Sir. Meine Eltern kamen von Resurgam. Sie wohnten vor der Evakuierung in Cuvier.«
»Sie sehen noch gar nicht so alt aus.«
»Ich bin zwanzig, Sir.«
»Er kam ein oder zwei Jahre nach Gründung der Kolonie zur Welt«, flüsterte Scorpio. »Damit ist er einer der ältesten gebürtigen Ararataner. Aber er ist nicht allein. Während deiner Abwesenheit wurden schon die ersten Nachkommen der zweiten Generation geboren, von Eltern, die weder Resurgam kennen noch den Flug hierher miterlebten.«
Clavain erschauerte, als wäre ihm die Vorstellung ein Gräuel. »Wir sollten hier keine Wurzeln schlagen, Scorpio. Ararat war immer nur als Zwischenstation gedacht. Schon der Name ist ein schlechter Witz. Man kolonisiert keine Welt mit einem solchen Namen.«
Scorpio vermied es, ihn daran zu erinnern, dass sie immer geplant hatten, auch dann einige Siedler auf Ararat zurückzulassen, wenn die Mehrheit den Planeten wieder verließ.
»Du hast es mit Menschen zu tun«, sagte er. »Und mit Hyperschweinen. Sie von der Fortplatzung abzuhalten, wäre genauso, als wolltest du Katzen wie Schafe hüten.«
Clavain wandte sich Vasko zu. »Und was sind Sie von Beruf?«
»Ich arbeite in den Bioanlagen, Sir, hauptsächlich auf den Sedimentationsbeeten. Wir kratzen den Schlamm von den Schabern und wechseln die Schaufeln an den Abschöpfern aus.«
»Klingt hochinteressant.«
»Ich will ganz ehrlich sein, Sir. Wenn die Arbeit so interessant wäre, dann wäre ich heute nicht hier.«
»Vasko ist auch in der Ortsgruppe des Sicherheitsdienstes«, sagte Scorpio. »Er hat die übliche Ausbildung erhalten: Umgang mit Feuerwaffen, Niederschlagung von Unruhen und so weiter. Meistens wird er natürlich bei der Brandbekämpfung oder bei der Verteilung von Lebensmitteln oder Medikamenten aus der Versorgungszentrale eingesetzt.«
»Alles wichtige Tätigkeiten«, bemerkte Clavain.
»Vasko wäre der Letzte, der das bestreiten würde«, sagte Scorpio. »Dennoch hat er erkennen lassen, er hätte gegen etwas mehr Abenteuer nichts einzuwenden. Und er bedrängt die Verwaltung des Sicherheitsdienstes schon seit längerem wegen einer Vollzeitstelle. Seine Beurteilungen sind ausgezeichnet, und er wünscht sich eine Aufgabe, die ein klein wenig anspruchsvoller ist, als Scheiße zu schaufeln.«
Clavain kniff die Augen zusammen und sah den jungen Mann scharf an. »Was hat Ihnen Scorpio über die Kapsel erzählt?«
Vasko warf einen kurzen Blick auf das Schwein, dann sagte er: »Nichts, Sir.«
»Er hat nur erfahren, was er wissen musste, und das war nicht viel.«
»Dann solltest du ihm jetzt auch den Rest erzählen«, sagte Clavain.
Scorpio wiederholte, was er bereits vorgetragen hatte, und beobachtete fasziniert, wie sich Vaskos Gesichtsausdruck veränderte, als dem Jungen klar wurde, was das bedeutete.
Er konnte ihn gut verstehen: Er hielt Ararat seit zwanzig Jahren für eine vollkommen isolierte Welt. Diese Überzeugung war ein so fester Bestandteil seines Lebens wie das ewige Rauschen des Meeres und der warme Wind, der nach Ozon und verwesenden Pflanzen roch. Sie war so bedingungslos, so allgegenwärtig, dass sie nicht mehr bewusst reflektiert wurde. Und jetzt wurde er in seiner Gewissheit erschüttert: Er musste erkennen, dass diese Meereswelt nicht mehr war als ein unsicheres, zeitlich begrenztes Versteck inmitten eines riesigen Schlachtfeldes.
»Sie werden einsehen«, sagte Scorpio, »dass wir die Geschichte nicht in der Öffentlichkeit breit treten wollen, bevor wir genauer wissen, was eigentlich vorgeht und was in dem Ding steckt.«
»Ich nehme an, du hast gewisse Vermutungen«, sagte Clavain.
Scorpio nickte. »Es könnte Remontoire sein. Wir haben immer damit gerechnet, dass die Zodiakallicht irgendwann wieder auftaucht. Zugegeben, wir hätten sie früher erwartet, aber wer weiß, was sie erlebt hat, nachdem wir sie verlassen hatten, oder wie lange sie brauchte, um die nötigen Reparaturen an sich durchzuführen. Wenn wir die Kapsel öffnen, sitzt vielleicht mein zweitliebster Synthetiker darin.«
»Das klingt nicht sehr überzeugt.«
»Kannst du mir eines erklären, Clavain?«, fragte Scorpio. »Wenn es Remontoire und seine Leute sind, wozu die Geheimniskrämerei? Warum gehen sie nicht einfach in die Umlaufbahn und melden sich bei uns? Zumindest hätten sie die Kapsel etwas näher am Festland abwerfen können, dann hätten wir nicht so lange gebraucht, um sie zu bergen.«
»Also ziehen wir die Alternative in Betracht«, sagte Clavain. »Es könnte auch dein mit Abstand ungeliebtester Synthethiker sein.«
»Natürlich habe ich auch daran gedacht. Wenn Skade in unser System gekommen wäre, hätte sie natürlich alles getan, um unbemerkt zu bleiben. Aber irgendetwas wäre uns doch aufgefallen. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie eine Invasion mit einer einzigen Kapsel durchführen würde – es sei denn, sie enthielte eine ganz besondere Gemeinheit.«
»Skade wäre an sich schon eine Gemeinheit«, bemerkte Clavain. »Aber ich glaube auch nicht, dass sie es ist. Allein hier zu landen, wäre glatter Selbstmord. Eine sinnlose Geste, die ganz und gar nicht zu ihr passt.«
Sie hatten das Zelt erreicht. Clavain öffnete die Klappe und ging voran. An der Schwelle blieb er stehen und sah sich ein wenig verschämt um, als sei er in die Wohnung eines Fremden eingedrungen.
»Ich habe mich sehr an diesen Ort gewöhnt«, sagte er. Es klang fast wie eine Entschuldigung.
»Soll das heißen, du kannst dich nicht davon trennen?«, fragte Scorpio. Er witterte immer noch überall Clavains Geruch.
»Es wird mir nicht leicht fallen.« Clavain schloss die Tür hinter sich und wandte sich an Vasko. »Was wissen Sie über Skade und Remontoire?«
»Ich habe die Namen noch nie gehört.«
Clavain ließ sich in den Klappstuhl sinken, die beiden anderen mussten stehen bleiben. »Remontoire war – ist – einer meiner ältesten Verbündeten. Synthetiker wie ich. Ich habe ihn auf dem Mars kennen gelernt, als wir gegeneinander kämpften.«
»Und Skade, Sir?«
Clavain nahm eines der Muschelstücke in die Hand und betrachtete es zerstreut. »Skade ist eine andere Geschichte. Ebenfalls Synthetikerin, aber aus einer späteren Generation als wir beide. Sie ist klüger und schneller und fühlt sich der alten Menschheit emotional in keiner Weise verbunden. Sobald offenbar wurde, welche Bedrohung die Unterdrücker darstellten, schmiedete Skade Fluchtpläne. Das Mutternest sollte diesen Raumabschnitt verlassen, um sich zu retten. Ich war damit nicht einverstanden – wir hätten den Rest der Menschheit einfach im Stich gelassen, anstatt uns gegenseitig zu helfen –, und deshalb desertierte ich. Remontoire schlug sich nach anfänglichen Bedenken auf meine Seite.«
»Dann hasst Skade Sie alle beide?«, fragte Vasko.
»Bei Remontoire ist sie sich vielleicht nicht so ganz sicher«, sagte Clavain. »Aber bei mir? Nein, was Skade betrifft, habe ich mehr oder weniger alle Brücken hinter mir verbrannt. Als ich sie mit einem Stahlseil, an dem ein Raumschiff vertäut war, mittendurch schnitt, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«
Scorpio zuckte die Achseln. »So was kommt vor.«
»Remontoire hat sie gerettet«, fuhr Clavain fort. »Vermutlich hält sie ihm das zugute, obwohl auch er sie später verriet. Aber bei Skade sollte man sich auf nichts verlassen. Ich dachte, ich hätte sie bei unserer letzten Begegnung getötet, aber ich kann nicht ausschließen, dass sie wieder davongekommen ist. In ihrem letzten Funkspruch wurde das jedenfalls behauptet.«
»Und wieso warten wir auf Remontoire und die anderen, Sir?«, fragte Vasko.
Clavain sah Scorpio misstrauisch an. »Viel weiß er wirklich nicht.«
»Dafür kann er nichts«, sagte Scorpio. »Du darfst nicht vergessen, dass er auf diesem Planeten geboren wurde. Was vor unserer Ankunft geschah, ist für ihn alte Geschichte. So denken die meisten Jungen, ob Menschen oder Schweine.«
»Das ist keine Entschuldigung«, sagte Clavain. »In meiner Jugend waren wir neugieriger.«
»In deiner Jugend war es ein Zeichen von Schwäche, wenn du vor dem Frühstück nicht zwei Völkermorde verübt hattest.«
Darauf sagte Clavain nichts. Er legte das Muschelstück beiseite, nahm ein anderes und fuhr sich damit über die feinen Härchen auf dem Handrücken, um die Schärfe zu prüfen.
»Ich bin nicht ganz unwissend, Sir«, sagte Vasko hastig. »Ich weiß, dass Sie von Yellowstone nach Resurgam kamen, als die Maschinen daran gingen, unser Sonnensystem zu zerstören. Sie halfen mit, die ganze Kolonie – fast zweihunderttausend Menschen – auf die Sehnsucht nach Unendlichkeit zu bringen und zu evakuieren.«
»Es waren eher einhundertundsiebzigtausend«, verbesserte Clavain. »Und kein Tag vergeht, ohne dass ich um die trauere, die wir nicht retten konnten.«
»Wenn man bedenkt, wie viele du gerettet hast, wird dir das niemand übel nehmen«, mischte sich Scorpio ein.
»Das müssen wir dem Urteil der Geschichte überlassen.«
Scorpio seufzte. »Wenn du dich in Selbstvorwürfen suhlen willst, Nevil, dann lass dich nicht stören. Ich persönlich muss mich um eine rätselhafte Kapsel und eine Kolonie kümmern, die ihren Führer gerne wieder hätte. Am besten gewaschen und gekämmt und ohne diesen durchdringenden Geruch nach Seetang und ungelüfteter Bettwäsche. Nicht wahr, Vasko?«
Clavain sah Vasko sekundenlang prüfend an. Scorpio spürte, wie sich die feinen, hellen Härchen in seinem Nacken sträubten. Er ahnte, dass der Junge an einem strengen Wertesystem gemessen wurde, das über Jahrhunderte entstanden und immer weiter verfeinert worden war. In diesen Momenten entschied sich vermutlich Vaskos weiteres Schicksal. Sollte Clavain zu der Ansicht kommen, er sei seines Vertrauens nicht würdig, dann würde es keine Indiskretionen mehr geben, kein Wort über Individuen, die nicht der gesamten Kolonie bekannt waren. Die Begegnung mit Clavain würde ein Randereignis bleiben, und Vasko würde bald lernen, die Geschehnisse des heutigen Tages nicht überzubewerten.
»Es könnte manches erleichtern«, sagte Vasko zögernd mit Blick auf Scorpio. »Wir brauchen Sie, Sir. Besonders wenn sich tatsächlich alles ändert.«
»Wovon wir meiner Meinung nach ausgehen können«, sagte Clavain und schenkte sich ein Glas Wasser ein.
»Dann kommen Sie mit uns zurück, Sir. Wenn die Person in der Kapsel wirklich Ihr Freund Remontoire ist, würde er dann nicht erwarten, dass Sie anwesend sind, wenn wir ihn herausholen?«
»Er hat Recht«, sagte Scorpio. »Wir brauchen dich, Nevil. Ich brauche dein Einverständnis, die Kapsel zu öffnen, anstatt sie einfach im Meer zu versenken.«
Clavain schwieg. Wieder rüttelte der Wind an den Stangen. Das Licht im Zelt war in der letzten Stunde milchig trüb geworden, die Helle Sonne verschwand hinter dem Horizont. Scorpio fühlte sich wie so oft am Abend erschöpft und abgekämpft. Und er fürchtete sich vor der Rückfahrt, denn jetzt war sicherlich mit rauerer See zu rechnen.
»Wenn ich zurückkomme…«, begann Clavain und hielt inne, um einen Schluck zu trinken. Bevor er weitersprach, benetzte er sich mit der Zunge die Lippen. »Es wird nichts ändern, wenn ich mit euch komme. Ich hatte einen bestimmten Grund, mich hierher zurückzuziehen, und dieser Grund besteht nach wie vor. Ich habe die feste Absicht, mich wieder hier niederzulassen, sobald diese Geschichte erledigt ist.«
»Ich verstehe«, sagte Scorpio, obwohl er sich etwas anderes erhofft hatte.
»Gut, ich meine es nämlich ernst.«
»Aber zunächst fährst du mit uns und beaufsichtigst die Öffnung der Kapsel?«
»Gut. Aber nur das und nicht mehr.«
»Du wirst immer noch gebraucht, Clavain. Auch wenn es dir schwer fällt, stiehl dich nicht aus der Verantwortung, nachdem du so viel für uns getan hast.«
Clavain warf sein Wasserglas zu Boden. »Was habe ich denn für euch getan? Ich habe euch in einen Krieg hineingezogen, euer Leben zerstört und euch quer durch den Weltraum auf ein elendes Dreckloch von einem Planeten verschleppt. Ich bin nicht der Meinung, dass mir jemand dafür dankbar sein müsste, Scorpio. Ich wäre schon froh, wenn man so gnädig wäre, mir zu vergeben.«
»Aber die Leute haben das Gefühl, in deiner Schuld zu stehen. Wir alle denken so.«
»Er hat Recht«, sagte Vasko.
Clavain öffnete eine Schublade seines Klapptisches und zog einen halbblinden Spiegel mit zerkratzter Oberfläche heraus, der schon sehr alt sein musste.
»Kommst du nun mit?«, drängte Scorpio.
»Ich mag alt und müde sein, Scorpio, aber hin und wieder gelingt es der Welt doch noch, mich zu überraschen. Meine langfristigen Pläne haben sich nicht geändert, aber ich gebe zu, dass ich gerne wissen möchte, wer in dieser Kapsel steckt.«
»Schön. Wir können fahren, sobald du deine Sachen gepackt hast.«
Clavain brummte etwas Unverständliches und schaute in den Spiegel. Scorpio sah erstaunt, wie er heftig zurückfuhr. Es sind die Augen, dachte das Schwein. Clavain hatte sich zum ersten Mal seit Monaten selbst in die Augen gesehen, und was ihm entgegenschaute, gefiel ihm nicht.
»Ich werde sie alle zu Tode erschrecken«, sagte Clavain.