Dreiundzwanzig

Hela

2727

 

 

Quaiche war mit dem Ehernen Panzer allein in seinem Turmzimmer. Er hörte nur seine eigenen Atemzüge und die fürsorglichen Geräusche des Krankenstuhls, auf dem er ruhte. Die Jalousien waren halb heruntergelassen, parallele Linien so rot wie Feuer durchzogen den Raum.

Ganz schwach – und nur, weil er gelernt hatte, so etwas wahrzunehmen – spürte er die leichten Seitwärts- und Längsschwankungen der Morwenna, die nicht ausgeschaltet werden konnten. Sie ärgerten ihn nicht etwa, er empfand sie vielmehr als beruhigend. Stünde die Kathedrale völlig still, dann bedeutete das, dass sie hinter Haldora zurückfielen. Aber die Kathedrale war seit mehr als hundert Jahren nicht mehr stehen geblieben und damals nur für ein paar Stunden während eines Reaktorausfalls. Seither hatte sie sich immer weiter bewegt und war dabei immer weiter gewachsen. Ihre Höhe hatte sich erst verdoppelt, dann vervierfacht. Währenddessen war sie genau im richtigen Tempo den Weg entlanggekrochen, sodass Haldora fest über ihr stand und für sein aufgespreiztes, stets wachsames Auge über die Spiegel zu sehen war. Keine andere Kathedrale auf dem Weg hatte einen solchen Rekord zu verzeichnen: Die größte Rivalin der Morwenna, die Eisenfrau, hatte vor neunundfünfzig Jahren bei einer Panne einen ganzen Umlauf versäumt. Die Schande – die Kathedrale musste dreihundertzwanzig Tage lang auf demselben Fleck warten, bis die anderen Kathedralen zurückkehrten – lastete selbst sechs Jahrzehnte später noch schwer auf ihr. Jede andere Kathedrale einschließlich der Morwenna hatte dem Andenken an diese Demütigung ein eigenes Glasfenster gewidmet.

Der Stuhl fuhr ihn zum Westfenster und richtete ihn etwas auf, damit er besser sehen konnte. Mit jeder Bewegung veränderten ringsum auch die Spiegel ihre Stellung, um die Sichtverbindung aufrechtzuerhalten. Wohin er den Stuhl auch steuerte, Haldora war das alles beherrschende Objekt. Der Planet wurde mehrfach reflektiert, sein Licht durch rechte Winkel geschickt, zurückgeworfen und abermals gedreht, mit achromatischen Linsen vergrößert und wieder verkleinert, aber es war immer noch das Licht und kein Bild aus zweiter oder dritter Hand auf einem Schirm. Haldora war immer da, aber sein Antlitz veränderte sich von Stunde zu Stunde. Zum einen wechselten die Lichtverhältnisse im Laufe von Helas vierzigstündigem Orbit: Die voll beleuchtete Scheibe wurde zur Sichel und zur sturmumtosten Nachtseite. Und selbst wenn die Phase die gleiche war, die Schatten und Bänder waren von einem Umlauf zum nächsten nie ganz identisch. So wurde Quaiche immerhin vor dem Gefühl bewahrt, das Bild sei ihm schon ins Gehirn gebrannt.

Natürlich sah er nicht nur Haldora allein. Um den Planeten zog sich ein schwarzer bis silbrig grauer Ring, und daneben gab es auch noch seine unmittelbare Umgebung – ein breites Band mit verschwommenen Details. Wenn Quaiche die Augen zur Seite drehte, glitt Haldora an den Rand seines Blickfeldes, denn die Spiegel lenkten das Bild auf die ganzen Augen, nicht nur auf die Pupillen. Aber das tat er nur selten, aus Angst, der Planet könnte genau in dem Moment verschwinden, in dem er ihm nicht seine volle Aufmerksamkeit widmete.

Auch wenn Haldora genau vor ihm aufragte, hatte er gelernt, möglichst viel aus den Augenwinkeln aufzufangen. Es war überraschend, welche Lücken sein Gehirn füllen konnte, wie es Einzelheiten andeutete, die seine Augen nicht wirklich auflösen konnten. Mehr als einmal hatte Quaiche gedacht, wenn die Menschen wirklich begriffen, wie synthetisch ihre Welt war – wie viel davon sie nicht unmittelbar wahrnahmen, sondern durch Interpolation aus Erinnerungen und Schätzungen zusammenflickten –, würden sie still und leise den Verstand verlieren.

Er schaute auf den Weg. Weit im Osten, in der Richtung, der die Morwenna folgte, sah er deutlich etwas funkeln. Es war der nördliche Rand des Gullveig-Gebirges, des größten Bergmassivs auf Helas Südhalbkugel. Diese Kette war die letzte große geologische Hürde, die sie vor der vergleichsweise einfachen Etappe durch die Jarnsaxa-Ebene und der sich anschließenden Rennbahn zur Teufelstreppe zu überwinden hatten. Der Weg führte durch die Nordflanke der Gullveig-Kette und durchquerte durch eine Reihe von tiefen Schluchten einige Vorberge. Dort war ein besonders schwerer Eissturz gemeldet worden, angeblich mehrere hundert Meter breit, der die Fahrbahn vollkommen blockierte. Quaiche hatte erst heute persönlich mit dem Anführer des Reparaturtrupps gesprochen, einem Mann namens Wyatt Benjamin, der vor langer Zeit bei einem nicht näher bekannten Unfall ein Bein verloren hatte.

»Sabotage, würde ich sagen«, hatte ihm Benjamin erklärt. »Etwa ein Dutzend Sprengladungen, mit Verzögerungszündern versehen, die bei der letzten Überquerung in der Wand angebracht wurden. Ein Störmanöver von nachhinkenden Kathedralen. Sie können nicht mithalten und neiden den anderen ihren Vorsprung.«

»In der Öffentlichkeit könnten Sie eine so schwere Anschuldigung nicht vorbringen«, hatte Quaiche bemerkt, als wäre er von selbst auf einen solchen Gedanken nie gekommen. »Aber Sie könnten Recht haben, sosehr es mich auch schmerzt.«

»Kein Irrtum möglich, das ist ein abgekartetes Spiel.«

»Die Frage ist, wer übernimmt die Räumung? Die Arbeiten müssten erledigt sein, bevor wir das Hindernis erreichen – in maximal zehn Tagen.«

Wyatt Benjamin hatte genickt. »Sie sollten möglichst weit weg sein, wenn wir das Eis beseitigen.«

»Warum?«

»Weil wir mit Hacken und Schaufeln nicht auskommen werden.«

Quaiche hatte genau verstanden, was damit gemeint war, und es kommentarlos hingenommen. »Vor drei oder vier Jahren gab es schon einmal einen Sturz dieser Größe, nicht wahr? In der Nähe der Glum-Kreuzung? Ich glaube mich zu erinnern, dass man damals konventionell gesprengt hat und weniger als zehn Tage für die Räumung brauchte.«

»Es wäre auch diesmal in weniger als zehn Tagen zu machen«, hatte Benjamin erklärt, »aber uns steht nur etwa die Hälfte der üblichen Geräte und Arbeitskräfte zur Verfügung.«

»Das ist merkwürdig.« Quaiche hatte die Stirn gerunzelt. »Was ist mit dem Rest?«

»Nichts. Männer und Maschinen wurden einfach abgezogen. Fragen Sie mich nicht, warum oder von wem. Ich arbeite nur für den Ewigen Weg. Und wenn es eine Glockenturm-Sache wäre, wüssten Sie vermutlich Bescheid.«

»Wohl schon«, hatte Quaiche gesagt. »Wahrscheinlich kam die Anweisung von einer der unteren Ebenen. Wissen Sie, was ich vermute? Irgendeine Abteilung hat einen Schaden entdeckt, der längst behoben sein sollte, aber bei der letzten Runde übersehen wurde. Jetzt braucht man das schwere Gerät, um die Reparatur möglichst schnell zu erledigen, bevor es jemand merkt.«

»Wir haben es schon gemerkt«, hatte Benjamin gesagt. Aber er hatte Quaiches Erklärung offenbar geschluckt.

»In diesem Fall müssen Sie die Blockade wohl mit anderen Mitteln beseitigen.«

»Die Mittel sind vorhanden«, hatte der Mann gesagt.

»Gottesfeuer.« Quaiche hatte möglichst viel Ehrfurcht in seine Stimme gelegt.

»Wenn es nötig ist, werden wir es einsetzen. Deshalb tragen wir es schließlich mit uns.«

»Atomare Sprengungen sollten immer nur der allerletzte Ausweg sein«, hatte Quaiche gewarnt. Er konnte nur hoffen, dass es überzeugend klang. »Sind Sie ganz sicher, dass diese Blockade mit konventionellen Mitteln nicht zu beseitigen ist?«

»In zehn Tagen mit den Männern und Geräten, die mir zur Verfügung stehen? Völlig ausgeschlossen.«

»Dann kommen wir um das Gottesfeuer nicht herum.«

Quaiche hatte seine knochigen Finger aneinander gelegt. »Informieren Sie die anderen Kathedralen über alle ökumenischen Grenzen hinweg. Wir werden die Führung übernehmen. Die anderen sollen zurückbleiben und den üblichen Sicherheitsabstand einhalten, wenn sie seit dem letzten Mal ihre Abschirmung nicht verbessert haben.«

»Wir haben keine andere Wahl«, hatte Wyatt Benjamin mit einem Nicken bestätigt.

Quaiche hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. »Schon gut. Was sein muss, muss sein. Gott wird seine Hand über uns halten.«

Quaiche fuhr aus seinen Gedanken hoch und lächelte. Der Mann vom Ewigen Weg war fort, um die seltene Sprengung mit dem heiligen Verfahren der kontrollierten Fusion vorzubereiten. Er war allein mit dem Weg, dem Ehernen Panzer und der fernen Gullveig-Kette, die so betörend funkelte.

»Den Eissturz hast du veranlasst, nicht wahr?«

Er wandte sich dem Ehernen Panzer zu. »Wer hat euch das Wort erteilt?«

»Niemand.«

Er zwang sich zur Ruhe und ließ sich seine Angst nicht anmerken. »Ihr dürft nur sprechen, wenn ich euch die Erlaubnis dazu gebe.«

»Das siehst du eindeutig falsch.« Die Stimme war dünn und schrill: Sie kam aus einem billigen Lautsprecher, der an die Rückseite des Ehernen Panzers geschweißt war, wo ihn gewöhnliche Besucher nicht sehen konnten. »Wir hören alles, Quaiche, und wir reden, wenn es uns beliebt.«

Eigentlich dürfte das nicht möglich sein. Der Lautsprecher sollte nur funktionieren, wenn Quaiche ihn einschaltete. »Wie habt ihr das gemacht?«

Die Stimme klang, als käme sie aus einem primitiven Holzblasinstrument. Sie schien ihn verspotten zu wollen. »Das ist erst der Anfang, Quaiche. Du kannst uns in keinen Käfig sperren, aus dem wir nicht wieder herauskommen.«

»Dann sollte ich euch besser jetzt vernichten.«

»Das schaffst du nicht. Und du solltest es auch nicht tun.

Wir sind nicht dein Feind, Quaiche. Das müsstest du doch inzwischen erkannt haben. Wir wollen dir helfen. Und dazu brauchen wir unsererseits ein wenig Hilfe.«

»Ihr seid Dämonen. Mit Dämonen will ich nichts zu tun haben.«

»Keine Dämonen, Quaiche. Nur Schatten, genau wie du für uns.«

Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt. Sehr oft. »Ich kann mir verschiedene Verfahren vorstellen, um euch zu töten«, sagte er.

»Warum versuchst du es dann nicht?«

Wie immer schossen ihm gleich mehrere Antworten durch den Kopf: Weil sie ihm nützlich sein konnten. Weil er noch fähig war, sie zu kontrollieren. Weil er Angst hatte, was passieren würde, ob er sie nun tötete oder am Leben ließ. Weil er wusste, dass da, wo sie herkamen, noch mehr von ihrer Sorte warteten.

Viele mehr.

»Ihr wisst warum«, sagte er und schämte sich, weil es so jämmerlich klang.

»Die Auslöschungen häufen sich«, sagte der Eherne Panzer. »Du weißt doch, was das bedeutet?«

»Es bedeutet, dass wir am Ende der Zeiten leben«, sagte Quaiche. »Nicht mehr als das.«

»Es bedeutet, dass die Tarnung versagt. Bald wird die Maschinerie für alle zu sehen sein.«

»Es gibt keine Maschinerie.«

»Du hast sie gesehen. Und wenn die Auslöschungen ihren Höhepunkt erreichen, wird sie auch für andere sichtbar sein. Früher oder später wird jemand kommen, der bereit ist, Beziehungen zu uns aufzunehmen. Warum so lange warten, Quaiche? Warum verhandelst du nicht jetzt mit uns? Bessere Bedingungen wirst du nie mehr bekommen.«

»Ich verhandle nicht mit Dämonen.«

»Wir sind nur Schatten«, wiederholte der Anzug. »Nur Schatten, deren Flüstern zu dir dringt. Hilf du uns, den Abgrund zu überqueren, damit auch wir dir helfen können.«

»Das werde ich nicht tun. Niemals.«

»Die Krise ist nicht mehr fern, Quaiche. Alles weist darauf hin, dass sie bereits begonnen hat. Du hast die Flüchtlinge gesehen. Du kennst ihre Geschichten von den Maschinen, die aus der Dunkelheit und aus der Kälte kommen. Vernichtungsmaschinen. Wir haben es in diesem System schon einmal erlebt. Ohne unsere Hilfe kannst du sie nicht schlagen.«

»Gott wird mir helfen«, sagte Quaiche. Seine Augen tränten. Haldoras Bild verschwamm.

»Es gibt keinen Gott«, sagte der Anzug. »Es gibt nur uns, und unsere Geduld ist nicht grenzenlos.«

Doch dann verstummte er. Er hatte gesagt, was er sagen wollte. Quaiche blieb mit seinen Tränen allein.

»Gottesfeuer«, flüsterte er.

Offenbarung
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