Achtundzwanzig
Ararat
2675
Vasko und Scorpio trugen den Inkubator vorsichtig in den leeren Frachtraum. Der Himmel verdüsterte sich, die Unterseite des Shuttles heizte sich auf und glühte kirschrot, die Leuchtelemente zischten und tickten. Khouri stemmte sich gegen den Schwall heißer Luft, der sich unter den Flügeln staute, und folgte den beiden misstrauisch. Sie hatte weiter nichts mehr gesagt, seit sie aufgewacht war, und tat willig wie eine Schlafwandlerin alles, was man von ihr verlangte. Valensin folgte seinen Patienten und fügte sich mürrisch in das gleiche Schicksal. Seine beiden Medizin-Servomaten rollten, durch unzerreißbare Gehorsamsbande an ihren Herrn gefesselt, hinter ihm her.
»Warum gehen wir nicht zum Schiff?«, fragte Valensin immer wieder.
Scorpio hatte bisher nicht geantwortet. Er sprach wieder in sein Armband, wahrscheinlich mit Blood oder einem seiner Stellvertreter. Dann schüttelte er den Kopf und stieß einen Fluch aus. Was immer er erfahren hatte, dachte Vasko, es war sicher keine erfreuliche Nachricht.
»Ich gehe nach vorne«, sagte Antoinette. »Vielleicht braucht der Pilot Hilfe.«
»Sag ihm, er soll langsam und ruhig fliegen«, befahl Scorpio. »Kein Risiko. Und er soll sich darauf einrichten, uns notfalls rasch ins All zu bringen.«
»Vorausgesetzt, die Mühle schafft es noch bis in den Orbit.«
Sie starteten. Vasko half dem Arzt und seinen mechanischen Helfern, den Inkubator zu sichern. Valensin zeigte ihm, was man tun musste, um den Innenwänden Vorsprünge und Nischen mit unterschiedlichen Adhäsionseigenschaften zu entlocken. Bald klebte der Inkubator fest am Boden, und die beiden Servomaten überwachten seine Funktionen. Aura, ein runzliges, von Monitoren und Schläuchen umgebenes Ding unter getöntem Plastik, bekam von dem ganzen Trubel offenbar nichts mit.
»Wohin fliegen wir?«, fragte Khouri. »Zum Schiff?«
»Das Schiff hat gewisse Probleme«, sagte Scorpio. »Komm, sieh es dir an. Es wird dich sicherlich interessieren.«
Sie umkreisten die Unendlichkeit auf der gleichen Höhe wie zuvor. Khouri starrte mit großen verständnislosen Augen nach draußen. Vasko konnte es ihr nicht verdenken. Er selbst hatte das Schiff zum letzten Mal vor nur dreißig Minuten gesehen. Da hatte die Biomasse gerade erst angefangen, es zu verschlingen, und man hatte sich an den Anblick noch gewöhnen können. Jetzt war es verschwunden. Dafür ragte ein hoher, grüner Turm mit flaumig verschwommener Oberfläche aus dem Wasser. Er selbst wusste, dass sich unter der Masse ein Schiff befand, aber er konnte nur vermuten, wie unbegreiflich es für jemanden aussehen musste, der die frühen Stadien der Umhüllung durch die Schieber nicht mitbekommen hatte.
Aber war da nicht noch etwas anderes? Vasko hatte es sofort bemerkt, aber als optische Täuschung abgetan, dadurch erzeugt, dass er selbst im Innern des Shuttles schräg stand. Doch seit er durch einige Risse im Nebel den Horizont erkennen konnte, war ihm klar, dass das, was er da sah, keine Illusion war und auch nichts mit seiner eigenen Position zu tun hatte.
Das Schiff neigte sich zur Seite. Bisher wich es nur wenige Grad von der Senkrechten ab, aber das genügte, um Entsetzen auszulösen. Der Turm, der so lange ein Wahrzeichen der Landschaft gewesen war, scheinbar so alt wie die Geografie des Planeten, drohte umzufallen.
Er wurde von der Biomasse der Musterschieberorganismen in einer gemeinschaftlichen Anstrengung nach unten gezogen.
»Das ist nicht gut«, sagte Vasko.
»Erklären Sie mir, was da vorgeht«, bat Khouri und trat neben ihn.
»Wir wissen es nicht«, sagte Scorpio. »Angefangen hat es vor einer Stunde. Das Meer hatte sich um die Basis herum verdichtet und einen Ring aus Materie gebildet, der das Schiff zu verschlingen drohte. Nun sieht es so aus, als wollten die Schieber es umwerfen.«
»Könnten sie das schaffen?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Es muss ein paar Millionen Tonnen wiegen. Aber die Masse dieses Schiebermaterials ist auch nicht zu vernachlässigen. Dennoch halte ich es für unwahrscheinlich, dass es umfällt.«
»Wirklich?«
»Ich würde eher befürchten, dass es auseinander bricht. Es ist ein Lichtschiff, darauf ausgelegt, eine Beschleunigung von ein oder auch mehr Ge entlang der Achse auszuhalten. Wenn es auf der Oberfläche eines Planeten steht, ist die Belastung nicht höher als bei einem normalen Weltraumflug. Aber die Schiffe sind nicht dafür gebaut, seitlichem Druck standzuhalten. Wenn die Kräfte von der Seite her angreifen, kommt es zum Bruch. Noch ein paar Grad mehr, und ich muss mir ernsthaft Sorgen machen. Dann könnte es passieren.«
»Wir brauchen dieses Schiff, Scorp«, sagte Khouri. »Es ist unsere einzige Möglichkeit, von hier wegzukommen.«
»Danke für die Information«, sagte er, »aber ich kann im Moment wohl nicht allzu viel tun – oder soll ich mich mit den Musterschiebern anlegen?«
Schon die Vorstellung war einfach absurd. Die Musterschieber waren harmlos, außer für ein paar bedauernswerte Einzelindividuen. Gegen die Menschheit im Ganzen hatten sie niemals böse Absichten erkennen lassen. Sie waren Archive, die verlorenes Wissen, verschwundene Bewusstseine speicherten. Aber wenn sie nun versuchten, die Sehnsucht nach Unendlichkeit zu zerstören, mussten die Menschen doch zurückschlagen? Das konnten sie einfach nicht zulassen.
»Hat dieses Shuttle Waffen an Bord?«, fragte Khouri.
»Einige«, sagte Scorpio. »Hauptsächlich leichte Artillerie für Kämpfe von Schiff zu Schiff.«
»Irgendetwas, womit man gegen diese Biomasse vorgehen könnte?«
»Einige Teilchenstrahlwaffen, die allerdings innerhalb von Ararats Atmosphäre nicht allzu wirksam sein dürften. Alles andere würde wahrscheinlich auch Löcher in das Schiff reißen. Wir könnten es mit den Teilchenstrahlen probieren…«
»Nein!«
Die Stimme kam aus Khouris Mund. Aber sie schoss förmlich heraus wie ein Schwall Erbrochenes. Und sie war kaum als Khouris Stimme wiederzuerkennen.
»Eben sagtest du doch…«, begann Scorpio.
Khouri ließ sich – scheinbar völlig erschöpft – auf eine der Liegen fallen, die das Shuttle ausgeformt hatte, und presste die Hand gegen die Stirn.
»Nein«, wiederholte sie, diesmal weniger heftig. »Nein. Nicht. Tut es nicht. Helft uns.«
Wortlos drehten sich Vasko, Scorpio, Valensin – und auch Khouri – nach dem Inkubator mit dem Fötus um, der von Valensins Maschinen überwacht wurde. Die winzige rosarote Gestalt zappelte und stemmte sich hilflos gegen ihre Fesseln.
»Helfen?«, fragte Vasko.
Wieder schienen die Worte ohne Khouris Zutun aus ihrem Mund zu kommen. Sie rang krampfhaft nach Luft. »Sie. Helfen. Wollen.«
Vasko trat an den Inkubator und beobachtete mit einem Auge Khouri, mit dem anderen ihre Tochter. Valensins Servomaten scharrten aufgeregt mit den Füßen. Sie wussten nicht, was sie tun sollten, ihre Gelenkarme zuckten nervös.
»Sie?«, fragte Vasko. »Sie, die Musterschieber?«
Die rosa Gestalt strampelte mit den Beinchen und ballte ein winziges, aber bereits voll ausgebildetes Fäustchen. Das Miniaturgesicht wirkte finster. Die Augen waren geschlossen, die Lider verklebt.
»Sie. Musterschieber«, sagte Khouri.
Vasko wandte sich an Scorpio. »Ich glaube, wir haben das alles ganz falsch verstanden«, sagte er.
»Wirklich?«
»Warten Sie. Ich muss mit Antoinette sprechen.«
Ohne die Erlaubnis des Schweins abzuwarten, ging er zur Brücke. Antoinette und der Pilot waren auf den Kommandoliegen festgeschnallt. Sie hatten das ganze Cockpit durchsichtig gemacht und schienen, umgeben von losgelösten Anzeigen und Schaltpulten, im Nichts zu schweben. Von Schwindel erfasst, trat Vasko einen Schritt zurück, dann nahm er sich zusammen.
»Können wir auf der Stelle fliegen?«, fragte er.
Antoinette sah über die Schulter. »Natürlich.«
»Dann halten Sie an. Haben Sie Radargeräte? Antikollisionssensoren oder dergleichen?«
»Natürlich«, wiederholte sie, als hätte sie lange keine so dummen Fragen mehr gehört.
»Dann richten Sie sie auf das Schiff.«
»Können Sie mir einen Grund dafür nennen, Vasko? Wir sehen alle, dass sich das verdammte Ding schräg legt.«
»Tun Sie es einfach.«
»Zu Befehl, Sir«, sagte sie. Ihre kleinen Hände mit dem klirrenden Schmuck betätigten die Schalter, die über ihrer Liege schwebten. Ein Ruck ging durch das Schiff, dann schwebte es auf der Stelle. Das Blickfeld drehte sich, bis der schiefe Turm genau vor ihnen lag.
»Bleiben Sie so«, sagte Vasko. »Und jetzt richten Sie das Radar – oder was auch immer – auf das Schiff. So weit unten wie möglich.«
»So werden wir den Neigungswinkel nicht messen können«, sagte Antoinette.
»Die Neigung interessiert mich nicht. Ich glaube nicht, dass sie ernsthaft vorhaben, es umzuwerfen.«
»Nicht?«
Vasko lächelte. »Ich denke, das ist nur ein Nebeneffekt. Sie wollen es wegschleppen.«
Er wartete, bis sie das Gerät eingestellt hatte. Vor ihr schwebte ein pulsierendes kugelförmiges Display, gefüllt mit grünen Linien und Ziffern. »Da ist das Schiff«, erklärte sie und deutete auf das dickste Signal auf der Radarkarte.
»Gut. Und jetzt sagen Sie mir, wie weit es entfernt ist.«
»Vierhundertvierzig Meter«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Das ist ein Mittelwert. Das grüne Zeug verändert ständig seine Dicke.«
»Schön. Behalten Sie diese Zahl im Auge.«
»Sie wächst«, sagte der Pilot.
Vasko spürte, wie ihm jemand seinen heißen Atem ins Genick blies. Er drehte sich um. Das Schwein schaute ihm über die Schulter.
»Vasko hat etwas entdeckt«, sagte Antoinette. »Entfernung zum Turm beträgt jetzt… vierhundertfünfzig Meter.«
»Ihr treibt ab«, sagte Scorpio.
»Nein.« Das klang gekränkt. »Wir stehen bombenfest, zumindest innerhalb der Messfehlertoleranz. Vasko hat Recht, Scorpio – das Schiff bewegt sich. Sie ziehen es auf das Meer hinaus.«
»Wie schnell bewegt es sich?«
»Das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen. Ein, vielleicht zwei Meter pro Sekunde.«
Antoinette schaute auf ihren Armbandkommunikator. »Die Neutrinowerte steigen noch immer. Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit uns bleibt, aber mehr als ein paar Stunden sind es wohl kaum.«
»Dann wäre das Schiff beim Start nur wenige Kilometer weiter draußen«, sagte Scorpio.
»Das ist besser als nichts«, meinte Antoinette. »Wenn sie es wenigstens aus der Bucht schleppen könnten, damit wir besser vor den Flutwellen geschützt wären… das müsste doch etwas bringen?«
»Ich glaube es erst, wenn ich es sehe«, antwortete das Schwein.
Vasko fühlte sich bestätigt. »Aura hatte Recht. Sie wollen nichts Böses. Sie wollen uns retten, indem sie das Schiff aufs offene Meer hinausschaffen. Sie sind auf unserer Seite.«
»Schön und gut«, sagte Scorpio, »aber woher wussten sie überhaupt, dass wir in diesem Schlamassel stecken? Schließlich ist niemand ins Meer gestiegen und hat es ihnen erklärt. Die Schwimmer waren ja nicht dazu bereit.«
»Vielleicht doch«, sagte Vasko. »Ist das jetzt nicht egal? Das Schiff bewegt sich. Das ist alles, was zählt.«
»Schon«, sagte Scorpio. »Ich hoffe nur, es ist noch nicht zu spät.«
Antoinette wandte sich an den Piloten. »Können Sie uns näher heranbringen? Das grüne Zeug scheint weiter oben nicht allzu dick zu sein. Vielleicht kann man das Landedeck noch anfliegen.«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte der Mann ungläubig.
Antoinette schüttelte nur den Kopf. Sie war schon dabei, ihm die Steuerung wieder voll zu übergeben. »Leider nein. Wenn wir möchten, dass John die Pferde zurückhält, bis das Schiff die Bucht verlassen hat, muss jemand runtergehen und mit ihm reden. Und wer, glauben Sie, hat diesen Strohhalm gezogen?«
»Ich glaube, sie meint es ernst«, sagte Vasko.
»Tun Sie, was sie sagt«, befahl Scorpio.