Sechsundvierzig

 

 

Glaur war allein. Außer ihm war kein Techniker in den Gewölben des Maschinenraums zurückgeblieben. Die Kathedrale hatte die Störung heil überstanden; die Sirenen waren verstummt, die Warnlichter am Reaktor waren weniger geworden, die Kolben- und Kurbelstangen arbeiteten wieder im gewohnt hypnotischen Rhythmus. Der Boden schwankte von einer Seite zur anderen, aber nur Glaur verfügte aus langer Erfahrung über die nötige Empfindlichkeit, um das wahrzunehmen. Die Bewegung hielt sich innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen, und für jemanden, der die Morwenna nicht kannte, hätte sich der Boden angefühlt wie gewachsener, fest auf Hela verankerter Felsgrund.

Schwer atmend erklomm der Schichtleiter einen der Laufstege, die den Zentralkern aus Turbinen und Generatoren einschlossen. Er spürte den Luftzug von den Stangen, die dicht über seinem Kopf hin und her gingen, aber nach so vielen Jahren war ihm die Umgebung so vertraut, dass er sich nicht mehr unnötig duckte.

Vor einer unscheinbaren Klappe ohne Aufschrift blieb der Schichtleiter stehen. Er klappte die Bügel zurück, mit denen sie gehalten wurde, und zog sie nach oben, bis sie einrastete. Dahinter befanden sich die glänzenden silbrig blauen Elemente der Sicherungsschaltung: zwei große Hebel mit jeweils einem einzigen Schlüsselloch darunter. Der Vorgang war einfach gewesen, außerdem hatten sie ihn mit der Attrappe auf der anderen Seite des Maschinenblocks oft genug geübt.

Glaur hatte seinen Schlüssel in das eine Loch gesteckt, Seyfarth hatte einen zweiten in das Gegenstück eingeführt. Dann hatten sie die Schlüssel gleichzeitig umgedreht und anschließend synchron die beiden Hebel mit einer einzigen fließenden Bewegung bis zum Anschlag nach oben gezogen. Schläge und schwirrende Geräusche waren zu hören gewesen. In der ganzen Halle hatten schnatternde Relais die normalen Steuereingänge abgetrennt. Glaur wusste, dass seit dem Einschalten der Automatik hinter dieser Klappe eine Uhr die Sekunden herunterzählte. Inzwischen hatten die Hebel die Hälfte des Weges in die Ausgangsstellung zurückgelegt: Noch einmal zwölf bis dreizehn Stunden, dann würden die Relais mit neuerlichem Schnattern die manuelle Steuerung wiederherstellen.

Zu spät. In dreizehn Stunden würde es wahrscheinlich keine Morwenna mehr geben.

Glaur lehnte sich mit dem Rücken gegen den Handlauf, legte die behandschuhten Hände auf den linken Hebel und drückte mit aller Kraft nach unten. Der Hebel bewegte sich nicht: Er verharrte wie festgeschweißt im gleichen Winkel. Glaur nahm sich den rechten Hebel vor, dann beide gleichzeitig. Ein sinnloses Unterfangen: Niemand wusste besser als er, dass die Sperre noch auf sehr viel stärkere Kräfte ausgelegt war. Sie konnte selbst einem aufgebrachten Mob standhalten, ganz zu schweigen von einem einzelnen Mann. Aber er musste es versuchen, auch wenn die Erfolgschancen noch so gering waren.

Schweißüberströmt und nach Atem ringend, stieg Glaur in die Maschinenhalle hinab und holte schweres Werkzeug. Wieder auf dem Laufsteg angekommen, stellte er sich vor die Klappe und schlug mit verschiedenen Hämmern auf die Hebel ein. Das Klirren drang durch die ganze Halle und übertönte sogar den Maschinenlärm.

Aber auch damit erreichte er nichts.

Glaur brach erschöpft zusammen. Seine Hände waren so verschwitzt, dass sie kein Metall halten konnten, und seine Arme waren zu schwach, um selbst den leichtesten Hammer zu schwingen.

Wenn er die Sicherung auch mit Gewalt nicht dazu bringen konnte, ans Ende der Laufzeit zu springen, was blieb dann noch? Er wollte die Morwenna nicht zerstören, er wollte sie nur anhalten oder vom Weg abbringen. Er könnte den Reaktor beschädigen – die Anschlüsse dafür waren noch nicht gesperrt –, aber bis seine Eingriffe Wirkung zeigten, würden Stunden vergehen. Ebenso aussichtslos war der Plan, die Antriebsmaschinerie zu sabotieren: Dazu müsste er sie an irgendeiner Stelle blockieren, und das erforderte ein großes Hindernis. In der Werkstatt mochte es geeignete Metallteile geben – Kolben- oder Kurbelstangen, die man ausgebaut hatte, um sie zu reparieren oder einzuschmelzen –, aber so ein Ding könnte er niemals allein tragen. Jetzt noch Sand ins Getriebe zu streuen, wäre einfach zu viel verlangt.

Er hatte auch erwogen, die Leitsysteme zu beschädigen oder zu täuschen: die Kameras, die den Weg beobachteten, die Sternenkompasse, die den Himmel absuchten, die Magnetfeldsensoren, die nach der Signatur des unterirdischen Induktionskabels tasteten. Aber alle diese Systeme waren vielfach redundant und befanden sich zumeist außerhalb der belüfteten Bereiche, entweder hoch über der Erde oder in schwer zugänglichen Teilen des Unterbaus.

Gib auf, sagte er sich: Die Techniker, die die Sicherungsschaltung entwickelt hatten, waren nicht von gestern gewesen. Sie hatten sicherlich jede nahe liegende Möglichkeit ausgeschaltet, die Morwenna anzuhalten.

Die Kathedrale würde nicht stehen bleiben, und sie würde auch nicht vom Weg abweichen. Er hatte Seyfarth versprochen, bis zur letzten Minute zu bleiben und die Maschinen zu überwachen. Aber was hatte er denn noch zu überwachen? Man hatte ihm seine Maschinen genommen, hatte sie seiner Obhut entzogen, als ob man ihm nicht mehr vertraute.

Glaur schaute von seinem Laufsteg hinab zu einem der im Boden eingelassenen Gucklöcher, über die er so oft gegangen war. Helas Oberfläche zog mit einem Drittel Meter pro Sekunde unter ihm vorbei.

 

Scorpios Fähre setzte auf der Brücke auf. Die ausgefahrenen Kufen wühlten sich knirschend durch den frisch geschmolzenen Schneematsch, der sofort wieder gefror. Das Schiffchen schwankte, als er sich losschnallte und sich umständlich vergewisserte, dass alle Anschlüsse seines Raumanzugs richtig funktionierten. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, sein Verstand setzte immer wieder aus wie ein zu schwaches Funksignal. Vielleicht hatte Valensin doch Recht gehabt, vielleicht wäre er tatsächlich besser auf der Unendlichkeit geblieben und hätte jemand anderen nach Hela geschickt.

Scheiß drauf, dachte Scorpio.

Er kontrollierte ein letztes Mal die Anzeigen auf dem Helmdisplay. Alles im grünen Bereich. Sinnlos, sich weiter verrückt zu machen: Der Anzug war in Ordnung, oder er war es nicht, und wenn der ihn nicht tötete, dann lauerte hinter der nächsten Ecke sicher eine andere Gefahr.

Stöhnend vor Schmerz drehte er sich um und löste die Verriegelung der Ausstiegsklappe. Die Tür fiel ab und landete lautlos im Matsch. Scorpio spürte ein leichtes Ziehen, als die Luft aus der Kabine entwich. Der Anzug schien dicht zu sein: Keines von den grünen Lichtern hatte auf Rot umgeschaltet.

Gleich darauf stand er draußen auf dem Eis: eine stämmige Gestalt, nur so groß wie ein Kind, in einem metallicblauen Spezialanzug für Schweine. Er watschelte zum Heck des Schiffes, öffnete, jede Berührung mit den kirschrot glühenden Abgasöffnungen vermeidend, ein Frachtabteil, streckte mit gequältem Grunzen die Arme hinein und tastete mit den klobigen, zweifingrigen Handschuhen umher. Fingerfertigkeit war ohnehin nicht die starke Seite von Hyperschweinen, und wenn man sie auch noch in einen Raumanzug steckte, waren sie etwa so geschickt wie Baumstümpfe. Aber Scorpio hatte geübt. Er hatte ein Leben lang Zeit gehabt.

Endlich zog er aus dem Fach eine Palette von der Größe eines Speisetabletts. Darin steckten, ausgepolstert wie Fabergé-Eier, drei Blasenminen. Eine davon nahm er heraus, fasste sie sehr behutsam mit zwei Händen – obwohl eine Blasenmine ganz sicherlich nicht versehentlich losgehen würde – und entfernte sich damit von der Fähre.

Er ging nur hundert Schritte weit: Das genügte, um sicherzustellen, dass die Mine nicht mit den Abgasen des Schiffes in Berührung kam. Dann kniete er nieder und schnitt mit Clavains Piezomesser eine kegelförmige Grube in die Eisschicht. In dieses Loch drückte er die Mine so tief wie möglich hinein. Als er die geriffelte Scheibe an der Oberseite um dreißig Grad drehen wollte, rutschte er mit den Handschuhen immer wieder ab. Aber irgendwann hatte er es doch geschafft. Die Scheibe rastete klickend ein. Ein kleines rotes Licht leuchtete auf. Die Mine war scharf. Scorpio erhob sich.

Da fiel ihm plötzlich auf, dass sich das Licht verändert hatte. Er stutzte und schaute zu Haldora empor. Der Gasriese war nicht mehr da; dafür hing über ihm ein Mechanismus, der einen sehr viel kleineren Himmelsabschnitt verdeckte und aussah wie ein kosmologisches Diagramm aus dem Mittelalter, ein Kunstwerk, entstanden in einem Augenblick visionärer Verzückung. Es war ein geometrisches Raster aus vielen feinsten Teilen. An der Peripherie waren noch deutlich einzelne Knoten zu erkennen, von denen strahlenförmig glitzernde Stäbe ausgingen. Zur Mitte hin überkreuzten sich diese Stäbe wieder und wieder, und irgendwann wurde die Struktur so dicht, dass das Auge sie nicht mehr zu fassen vermochte. Sie zu beschreiben oder gar sich einzuprägen, war vollends unmöglich. So blieb ihm nur der Eindruck Schwindel erregender Komplexität, ein Blick in das Uhrwerk des göttlichen Geistes. Er bekam Kopfschmerzen davon, eine Migräne meldete sich mit typischem Kribbeln und Flimmern. Es schien fast, als wollte das Ding nicht, dass er es länger betrachtete.

Er wandte sich ab, stapfte mit gesenktem Kopf zum Schiff zurück, verwahrte die restlichen beiden Minen wieder im Frachtabteil und stieg ein. Die Ausstiegsklappe ließ er liegen. Es lohnte sich nicht, das Schiff neu zu belüften: Er musste sich auf den Raumanzug verlassen.

Die Fähre hob mit einem Satz ab. Durch die Öffnung im Rumpf sah er die Oberfläche der Brücke zurückfallen, bis auch die Seiten in Sicht kamen. Darunter gähnte die Absolutionsschlucht. Schwindel erfasste ihn. Auf der Brücke hatte er sich so sehr mit der Mine beschäftigt, dass er verdrängt hatte, wie weit es in die Tiefe ging.

Das würde ihm beim nächsten Mal wohl nicht mehr gelingen.

 

Die Haltebucht war bereit für die Aufnahme der Sehnsucht nach Unendlichkeit. Das Schiff – oder was davon noch übrig war – war jetzt ganz nahe. Nach dem Verlassen des Orbits hatte der Captain eine Reihe von letzten Transformationen an sich vorgenommen, um die zu schützen, die seiner Obhut anvertraut waren, ohne Aura dadurch in irgendeiner Weise zu gefährden. Er hatte im Mittelbereich große Abschnitte der Rumpfverkleidung abgestoßen und sein unüberschaubar komplexes Innenleben freigelegt: Verstrebungen und Trennwände, die größer waren als so manches mittlere Raumschiff, ein knorpeliges Gewirr von Versorgungssystemen, wild wuchernd wie Kletterranken. Beim Abwurf des schützenden Panzers fröstelte ihn, als wäre er nun mit nackter Haut der Kälte des Alls ausgesetzt. Er hatte sein Inneres seit Jahrhunderten nicht mehr dem Vakuum geöffnet.

Nun setzte er die Transformationen fort. Teile der Inneneinrichtung wurden blockweise verschoben wie Dominosteine. Versorgungsleitungen wurden durchtrennt und neu angeschlossen. Bereiche des Schiffes, die bisher von anderswoher mit lebensnotwendiger Energie, mit Luft und mit Wasser versorgt worden waren, wurden nun autark. Andere ließ er sterben. Der Captain empfand die Veränderungen wie schweres Bauchgrimmen: Druck und Kälte, stechende Schmerzen. Dann waren plötzlich alle Empfindungen tot. Obwohl er es war, der die Umbauten eingeleitet hatte und sie auch überwachte, kam es ihm vor, als würde er sich selbst verstümmeln.

Was er sich jetzt antat, ließ sich nicht so leicht wieder ungeschehen machen.

Er sank tiefer und korrigierte seinen Kurs mit leichten Schubstößen. Das Gravitationsgefälle belastete seine Rumpfgeometrie und drohte ihn mit weichen Fingern in Stücke zu reißen.

Er stürzte weiter. Die Landschaft glitt unter ihm vorbei – nicht mehr nur Eis und Gletscherspalten, sondern bewohntes Gebiet mit kleinen Dörfern und einem Netz von Kommunikationsleitungen. Die Haltebucht gähnte wie ein goldener Riss am Horizont.

Geburtswehenartige Krämpfe schüttelten ihn. Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen. In seiner Mitte lösten sich Teile vom Rumpf, hinterließen saubere geometrische Löcher und zogen tausende von durchtrennten Leitungen hinter sich her wie ausgestochene Torfballen ihre bleichen Wurzeln. Der Captain hatte sich so weit wie möglich betäubt, aber wo Kabel und Versorgungsleitungen entzweigerissen waren, spürte er immer noch Phantomschmerzen. So, dachte er, muss es sich anfühlen, wen man verwundet wird. Aber er hatte den Schmerz erwartet und war dafür bereit. Irgendwie fand er ihn sogar erfrischend. Er erinnerte ihn daran, dass er noch lebte und seine bewusste Existenz einmal als Mensch aus Fleisch und Blut begonnen hatte. Solange er Schmerzen empfand, konnte er sich immer noch als Mensch fühlen.

Die zwanzig Rumpfabschnitte leisteten der Sehnsucht nach Unendlichkeit noch für einen Moment Gesellschaft, doch sobald sie den nötigen Sicherheitsabstand voneinander erreicht hatten, flammten winzige Steuerraketen auf und trugen sie fort. Die Raketen waren nicht stark genug, um sie dem Einfluss von Helas Schwerkraft vollends zu entziehen, aber sie konnten sie zurück in die Umlaufbahn bringen. Dort waren sie auf sich allein gestellt. Der Captain hatte für seine achtzehntausend Schläfer getan, was er konnte – viele von ihnen hatte er von Ararat bis hierher gebracht, einige hatte er vor Yellowstone aufgelesen –, aber jetzt waren sie außerhalb von ihm besser aufgehoben.

Er konnte nur hoffen, dass jemand kommen und sich ihrer annehmen würde.

Der Haltebucht war inzwischen deutlich größer geworden. In den Tiefen der Grube machten sich Schlitten und Arme bereit, die Reste des ausgeschlachteten Lichtschiffs zu umschließen.

 

»Was wollen Sie mit dem Ehernen Panzer?«, fragte Quaiche.

»Ich möchte ihn mitnehmen«, erklärte Rachmika mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. »Er soll nicht auf der Morwenna bleiben.«

Vasko sah erst Khouri und dann Rachmika an. »Hast du dein Gedächtnis jetzt wieder gefunden?«, fragte er. »Ich erinnere mich an mehr als zuvor«, sagte sie, an ihre Mutter gewandt. »Es kommt allmählich zurück.«

»Was bedeutet Ihnen eigentlich diese Frau?«, erkundigte sich Quaiche.

»Sie ist meine Mutter«, sagte Rachmika. »Und ich heiße auch nicht Rachmika. Das war der Name der Tochter, die meine Pflegeeltern verloren hatten. Es ist ein guter Name, aber es ist nicht der meine: Mein wirklicher Name lautet anders, aber er ist mir noch nicht wieder eingefallen.«

»Du heißt Aura«, sagte Khouri.

Rachmika spürte dem Namen nach, dann sah sie ihre Mutter fest an. »Ja. Jetzt weiß ich es wieder. So hast du mich früher genannt.«

»Ich hatte also Recht, was das Blut anging«, sagte Grelier und konnte ein Grinsen der Genugtuung nicht unterdrücken.

»Ja, Sie hatten Recht«, sagte Quaiche. »Zufrieden? Aber Sie haben sie hierher gebracht, Generalmedikus. Sie haben uns die Schlange ins Nest geholt. Es war Ihr Fehler.«

»Sie hätte früher oder später auf jeden Fall zu Ihnen gefunden«, antwortete Grelier. »Das war schließlich Ihr Auftrag. Warum zerbrechen Sie sich Ihretwegen überhaupt noch den Kopf?« Grelier deutete auf das Videobild des landenden Schiffes. »Sie haben doch, was Sie wollten? Sogar Ihre heilige Maschine schaut beifällig auf Sie herab.«

»Das Schiff sieht anders aus als zuvor«, sagte Quaiche und deutete mit zitternder Hand auf das Bild. Dann musterte er Vasko mit scharfem Blick. »Was soll das?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete der.

»Das Schiff wird seinen Zweck erfüllen«, sagte Khouri. »Sie brauchen es doch nur wegen seiner Triebwerke. Und die bekommen Sie. Nun geben Sie den Ehernen Panzer heraus und lassen Sie uns gehen.«

Quaiche schien den Vorschlag ernsthaft in Erwägung zu ziehen. »Wo wollen Sie damit hin? Sie haben kein Schiff mehr.«

»Hauptsache, wir können die Morwenna verlassen«, sagte Khouri. »Sie mögen Selbstmordgedanken hegen, Dekan, aber wir neigen nicht dazu.«

»Glauben Sie, ich wäre so lange am Leben geblieben, wenn mich der Gedanke an Selbstmord auch nur im Mindesten reizen könnte?«

Khouri sah erst Malinin, dann Rachmika an. »Er weiß, wie er von hier wegkommt. Sie hatten niemals vor, in der Kathedrale zu bleiben, nicht wahr?«

»Alles eine Frage des richtigen Zeitpunkts«, sagte Quaiche. »Das Schiff hat die Haltebucht fast erreicht. Das ist der Augenblick meines Sieges. Der Augenblick, der alles auf Hela verändert. Der sogar Hela selbst verändert. Denn danach wird nichts wieder so sein wie früher. Es wird keinen Ewigen Weg mehr geben, keine Prozession der Kathedralen. Nur eine Stelle auf Hela wird genau unter Haldora liegen, diese Stelle wird sich nicht mehr bewegen, und nur eine einzige Kathedrale wird sie besetzen.«

»Diese Kathedrale ist noch nicht gebaut«, sagte Grelier.

»Das hat Zeit, Generalmedikus. Alle Zeit der Welt, sobald ich meinen Anspruch geltend gemacht habe. Denn ich bin es, der diese Stelle aussucht, verstehen Sie? Meine Hand liegt auf Hela. Ich kann die Welt wie einen Globus drehen. Und mit meinem Finger wieder anhalten.«

»Und die Morwenna?«, fragte Grelier.

»Wenn diese Kathedrale auf der anderen Seite der Brücke ankommt, gut. Wenn nicht, dann unterstreicht das nur, dass eine Ära zu Ende geht und eine neue beginnt.«

»Er will gar nicht, dass es ihr gelingt«, flüsterte Vasko. »Das wollte er nie.«

Der Krankenstuhl des Dekans gab ein Klingelzeichen.

 

Scorpio wich nicht von der Stelle, obwohl alle Instinkte ihn zur Flucht drängten. Die runzlige schwärzlich violette Kugel, die bei der Detonation der vordersten Blasenmine entstanden war, hatte sich binnen eines Lidschlags auf ihn zugewälzt – eine Wand, die durch nichts aufzuhalten war und ihn selbst mitsamt dem Teil der Brücke, auf dem er stand, zu verschlingen drohte. Aber er hatte die drei Sprengkörper sorgfältig platziert, und aus Remontoires Beschreibung wusste er, dass die Wirkung von Blasenminen sehr zuverlässig zu berechnen war, immer vorausgesetzt, sie detonierten überhaupt. Auf Hela gab es keine Luft, also brauchte er keine Druckwelle zu fürchten; das Einzige, was er zu berücksichtigen hatte, war der Radius der expandierenden Sphäre, die ihm am nächsten war. Wenn er für eventuelle Schwingungen der Oberfläche einen kleinen Sicherheitsspielraum einplante, müsste er gefahrlos bis auf wenige hundert Meter an die Nominalgrenze herangehen können.

Die Brücke war vierzig Kilometer breit. Er hatte die Sprengkörper in einer Reihe angeordnet. Die Zentren waren jeweils sieben Kilometer voneinander entfernt, die mittlere Mine befand sich am höchsten Punkt des Brückenbogens. Wenn sich die Kugeln überschnitten, müssten sie gemeinsam vierunddreißig Kilometer aus der Brückenmitte heraussprengen und nur zu beiden Seiten der Spalte wenige Kilometer stehen lassen. Als Scorpio die Minen zündete, hatte er immer noch mehr als anderthalb Kilometer über dem Abgrund gestanden.

Die Kugelgrenze schien dicht vor seiner Nase zu sein, dabei war sie fast einen Kilometer entfernt. Die runzlige Oberfläche kräuselte und wölbte sich, Falten und Blasen entstanden und verschwanden wieder. Vor ihm führte die Brücke noch immer in die Wand hinein: In seiner Fantasie wölbte sie sich nach wie vor über die ganze Spalte. Doch in Wirklichkeit war sie schon nicht mehr da: Wenn die Kugel sich verflüchtigte, würde von dem Bauwerk nichts mehr zu sehen sein.

Die vorderste Kugel verschwand. Die mittlere war bereits fort, und die am weitesten entfernte platzte einen Augenblick später.

Er machte sich auf den Weg zur Kante. Die Brückenzunge fühlte sich unter seinen Füßen so fest an wie zuvor, obwohl sie nicht mehr mit der anderen Seite verbunden war. Als er sich dem Ende näherte, wurde er langsamer. Dieser Teil könnte weniger stabil sein als der Abschnitt unmittelbar an der Klippe. Er war nur wenige Meter von der Detonationsgrenze entfernt gewesen, und in diesem Bereich konnten die seltsamsten Quanteneffekte auftreten. Möglicherweise hatten sich die atomaren Eigenschaften des Brückenmaterials so verändert, dass die Festigkeit bedenklich gelitten hatte. Da ging man besser auf Zehenspitzen – auch wenn man ein Hyperschwein war.

Als er sich der Kante näherte, wurde ihm schwindlig. Ein wunderbar glatter Schnitt wie von einem Chirurgenskalpell. Diese Präzision sowie die Tatsache, dass von der Mittelpartie keinerlei Trümmer geblieben waren, ließen den Eindruck entstehen, die Brücke sei erst im Bau, und vermittelten ihm das Gefühl, weniger ein Wandale denn ein Bewunderer zu sein, der ein noch unvollendetes Werk betrachtete.

Er drehte sich um. Weit hinter der Stelle, wo seine Fähre auf dem Eis hockte, kroch die Morwenna heran. Von hier aus gesehen schien sie den Rand der Klippe bereits erreicht zu haben. In Wirklichkeit hatte sie noch eine kleine Strecke zu fahren, aber bald würde sie da sein.

Wenn sie die Brücke nicht mehr vorfand, würde sie wohl oder übel anhalten müssen. Die Frage, wie viel sie riskieren wollte, wie groß die Chancen für eine erfolgreiche Überquerung der Absolutionsschlucht wären, stellte sich nicht mehr. Er hatte die Situation ein für alle Mal geklärt. Es gab keine Lorbeeren mehr zu ernten, es gab nur noch die Zerstörung.

Wenn die Leute bei Verstand waren, mussten sie anhalten.

In seinem Helm blinkte ein rosarotes Licht auf und gleichzeitig schrillte ein Alarmton. Scorpio blieb stehen. Er befürchtete schon einen Defekt an seinem Raumanzug. Doch das Blinklicht meldete nur den Empfang eines starken modulierten Funksignals außerhalb der üblichen Kommunikationsfrequenzen. Der Anzug wollte wissen, ob er das Signal interpretieren und an ihn weiterleiten sollte.

Wieder schaute Scorpio zur Kathedrale zurück. Es musste von der Morwenna kommen.

»Nur zu«, sagte er.

Der Anzug erklärte, es handle sich um eine kurze Aufzeichnung, die sich ständig wiederholte. Sie sei als Hologramm formatiert.

»Ich will es sehen«, befahl Scorpio. Er war jetzt nicht mehr so sicher, dass es etwas mit der Kathedrale zu tun hatte.

Zehn Meter vor ihm entstand eine Gestalt auf dem Eis. Niemand, den er erwartet hätte; nicht einmal jemand, den er kannte. Die Erscheinung trug keinen Raumanzug und hatte den seltsam asymmetrischen Körperbau von Raumfahrern, die den größten Teil ihrer Existenz in der Schwerelosigkeit verbrachten. Die Gliedmaßen waren einsteckbare Prothesen, das Gesicht war verwüstet wie eine Planetenoberfläche nach einem kleineren Atomkrieg. Ein Ultra, dachte Scorpio; doch nach kurzem Überlegen änderte er seine Meinung. Wahrscheinlich war der Mann kein Ultra, sondern gehörte einer anderen, weniger sozialen Gruppierung von menschlichen Raumfahrern an: den Raumpiraten.

»Du konntest sie nicht unangetastet lassen, wie?«, fragte die Gestalt. »Ein Objekt, das so schön und zugleich so rätselhaft war, konntest du einfach nicht ertragen. Du musstest wissen, was es war. Du musstest wissen, wo seine Grenzen lagen. Meine Brücke. Dieses wunderschöne, zarte Gebilde. Ich habe sie für dich gebaut, sie stand hier wie ein Geschenk. Aber damit konntest du dich nicht zufrieden geben. Du musstest sie testen. Du musstest sie zerstören. Verdammt, du musstest sie kaputtmachen.«

Scorpio ging einfach durch die Gestalt hindurch. »Tut mir Leid«, sagte er. »Kein Interesse.«

»Sie war so schön«, sagte der Mann. »So verdammt schön.«

»Sie war mir im Weg«, sagte Scorpio.

 

Keiner der Anwesenden sah den Bericht, den Quaiche auf dem Display seines Krankenstuhls las. Aber Rachmika beobachtete seine Lippenbewegungen und bemerkte den leichten Ansatz eines Stirnrunzelns, so als hätte er zum ersten Mal einen Fehler begangen.

»Worum geht es?«, fragte Grelier.

»Die Brücke«, antwortete Quaiche. »Sie scheint nicht mehr da zu sein.«

Grelier beugte sich tiefer über den Stuhl. »Das muss ein Irrtum sein.«

»Offenbar nicht, Generalmedikus. Das Induktionskabel – wir verwenden es für die Navigation in Notfällen – ist eindeutig durchtrennt.«

»Dann muss es jemand durchgeschnitten haben.«

»Ich bekomme gleich die Bilder von der Oberfläche. Dann wissen wir mehr.«

Alle wandten sich dem Bildschirm zu, der den Sinkflug der Sehnsucht nach Unendlichkeit gezeigt hatte. Das Bild flimmerte in gespenstischen Farben, dann stabilisierte es sich und zeigte eine vertraute Szene, eingefangen von einer statischen Kamera, die wohl an der Wand der Ginnungagap-Spalte angebracht sein musste.

Der Dekan hatte Recht: Es gab keine Brücke mehr. Geblieben waren nur die beiden Enden: Die verschnörkelten Zuckerkringel ragten aus den Klippen, als wollten sie den Rest der Brücke durch eine elegante mathematische Extrapolation andeuten. Der größte Teil des Bogens fehlte. Und auf dem Grund waren keine Trümmer zu sehen. Seit Rachmika von der Überquerung wusste, hatte sie sich hin und wieder den Einsturz des Bauwerks ausgemalt. Doch immer hatte sich vor ihrem inneren Auge eine Lawine aus Splittern und Scherben zu einem glitzernden Geröllhaufen aufgetürmt, der selbst schon ein Wunder war: ein Zauberwald aus Glas, in dem man sich verirren konnte.

»Was ist geschehen?«, fragte der Dekan.

Rachmika wandte sich ihm zu. »Spielt das eine Rolle? Sie sehen doch selbst, dass sie nicht mehr da ist. Sie können die Schlucht nicht mehr überqueren. Was hindert Sie noch, die Kathedrale anzuhalten?«

»Haben Sie nicht zugehört, Kind?«, fragte er. »Die Kathedrale wird nicht anhalten, weil sie nicht anhalten kann.«

Khouri stand auf. Vasko folgte ihrem Beispiel. »Dann können wir nicht länger bleiben. Du kommst mit uns, Aura.«

Rachmika schüttelte den Kopf. Sie war an den Namen noch nicht gewöhnt. »Ich gehe nicht, ohne mitzunehmen, wozu ich gekommen bin.«

»Sie hat Recht«, sagte eine neue Stimme, die dünn und metallisch klang.

Niemand sagte ein Wort. Nicht die Stimme an sich war erschreckend, sondern der Ort, von dem sie ganz eindeutig kam. Alle wandten sich dem Ehernen Panzer zu. Äußerlich hatte er sich nicht verändert: finster, grau und über und über bedeckt mit sinnverwirrend feinen Zeichnungen und groben, blasigen Schweißnähten.

»Sie hat Recht«, wiederholte der Anzug. »Wir müssen jetzt gehen, Quaiche. Du hast dein Schiff, dein sehnlichster Wunsch wurde erfüllt. Du hast die Möglichkeit, Hela abzubremsen. Jetzt gib uns frei. Wir haben mit deinen Plänen nichts zu tun.«

»Bisher habt ihr immer nur zu mir gesprochen, wenn ich allein war«, sagte Quaiche.

»Wir haben auch zu dem Mädchen gesprochen, wenn du nicht zuhören wolltest. Bei ihr war es einfacher: Wir konnten direkt in ihren Kopf schauen. Das stimmt doch, Rachmika?«

Sie sagte tapfer: »Ich möchte, dass ihr mich von jetzt an Aura nennt.«

»Dann eben Aura. Aber das ändert doch nichts? Du hast einen weiten Weg zurückgelegt, um uns zu finden. Nun bist du am Ziel. Und es gibt keinen Grund mehr, warum uns der Dekan nicht an dich übergeben sollte.«

Grelier schüttelte den Kopf, als fühle er sich als Opfer eines Scherzes, der zu weit gegangen war. »Der Panzer spricht. Der Panzer spricht, und alle stehen da und tun so, als sei das ganz alltäglich.«

»Für einige von uns«, sagte Quaiche, »ist es das auch.«

»Das sind also die Schatten?«, fragte Grelier.

»Nur ihr Abgesandter«, verbesserte der Panzer. »Aber der Unterschied ist im Moment nicht von Belang. Und jetzt möchten wir die Morwenna bitte unverzüglich verlassen.«

»Ihr bleibt hier«, sagte Quaiche.

»Nein«, sagte Rachmika. »Dekan – geben Sie uns den Panzer. Ihnen bedeutet er nichts, für uns ist er von größtem Wert. Die Schatten wollen uns helfen, gegen die Unterdrücker zu bestehen. Und dieser Panzer ist unsere einzige direkte Verbindung zu ihnen.«

»Wenn sie Ihnen so wichtig sind, dann schicken Sie doch noch eine Sonde nach Haldora.«

»Wir wissen nicht, ob das ein zweites Mal funktioniert. Was immer Sie erlebt haben, könnte eine Ausnahme gewesen sein. Wir können nicht alles auf die schwache Chance setzen, dass es sich wiederholt.«

»Hör auf sie, Quaiche«, drängte der Panzer. »Sie hat Recht: Wir sind die einzig sichere Verbindung zu den Schatten. Wenn ihr unsere Hilfe wollt, müsst ihr für unsere Sicherheit sorgen.«

»Und der Preis für diese Hilfe?«, fragte Quaiche.

»Ist kaum der Rede wert, wenn dagegen die Ausrottung steht. Wir wollen nur von unserer Seite des Bulk zu euch herüberkommen. Ist das so viel verlangt? Ist dieser Preis so hoch?«

Rachmika wandte sich den anderen zu. Sie hatte das Gefühl, Zeugnis für die Schatten ablegen zu müssen. »Sie können herüberkommen, wenn der Massengenerator eingeschaltet werden darf. Das ist eine Maschine im Herzen des Haldora-Empfängers. Sie kann Körper herstellen, und dann können die Bewusstseine durch den Bulk schlüpfen und diese Körper besetzen.«

»Schon wieder Maschinen«, sagte Vasko. »Vor einer Gruppe laufen wir davon, und dann verhandeln wir mit der nächsten.«

»Wenn es nicht anders geht…«, sagte Rachmika. »Im Übrigen sind sie nur deshalb Maschinen, weil sie nach allem, was sie durchmachen mussten, keine andere Wahl hatten.« Sie erinnerte sich an die kurzen hypnagogischen Visionen, die ihr die Schatten von ihrem Leben im Universum übermittelt hatte: von ganzen Galaxien, die grün gefärbt waren von der grausamen Seuche; von Sonnen wie smaragdgrünen Laternen. »Früher waren sie uns einmal sehr ähnlich«, fügte sie hinzu. »Sie standen uns näher, als wir ahnen.«

»Es sind Dämonen«, sagte Quaiche. »Sie haben nichts mit uns gemein. Es sind nicht einmal Maschinen.«

»Dämonen?«, fragte Grelier nachsichtig.

»Die natürlich geschickt wurden, um meinen Glauben auf die Probe zu stellen. Mein Vertrauen in das Wunder zu erschüttern. Meinen Geist mit Fantasien von anderen Universen zu vergiften. Mir Zweifel daran einzuflößen, dass die Auslöschungen Worte Gottes sind. Mich straucheln zu lassen in der Stunde meiner größten Prüfung. Es ist nämlich kein Zufall: Je mehr meine Pläne für Hela ihrer Vollendung entgegenreiften, desto beißender wurde der Hohn der Dämonen.«

»Sie hatten Angst, von Ihnen zerstört zu werden«, sagte Rachmika. »Sie begingen den Fehler, Sie als vernünftiges Individuum zu behandeln. Hätten sie sich als Dämonen oder Engel ausgegeben, sie hätten vielleicht mehr erreicht.« Sie beugte sich über ihn, bis sie seinen Atem riechen konnte: alt und essigsauer wie ein aufgelassener Weinkeller. »Für Sie mögen es Dämonen sein, Dekan, ich will Ihnen da nicht widersprechen. Dennoch haben Sie kein Recht, sie uns vorzuenthalten.«

»Es sind Dämonen«, sagte er. »Und deshalb kann ich sie Ihnen nicht ausliefern. Ich hätte schon vor Jahren den Mut aufbringen müssen, sie zu vernichten.«

»Bitte«, sagte Rachmika.

Vom Krankenstuhl kam ein neues Signal. Quaiche schürzte die Lippen und schloss in Verzückung oder Angst die Augen.

»Es ist vollbracht«, sagte er. »Das Schiff befindet sich in der Haltebucht. Ich habe mein Ziel erreicht.«

 

Auf dem Bildschirm war alles zu sehen. Die Sehnsucht nach Unendlichkeit lag wie ein gefangenes mythisches Meeresungeheuer von monströsen Ausmaßen in dem Trog, den Quaiche für sie hatte bauen lassen. Die Halterungen und Träger des Schlittens umfassten und stützten den Rumpf an hundert Stellen und passten sich allen Unregelmäßigkeiten und architektonischen Schnörkeln geschickt an. Der Schaden, den sich das Schiff beim Landeanflug selbst zugefügt hatte – der Abwurf der Rumpfverkleidung im Mittelbereich und die Abstoßung so vieler innerer Teile –, war jetzt so deutlich sichtbar, dass Quaiche sich schon fragte, ob seine Trophäe womöglich zu geschwächt wäre, um die ihr zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Aber die Zweifel verflogen sofort wieder: Das Schiff hatte den Belastungen des Anflugs und den brutalen Schlag beim Aufsetzen auf den Schlitten überstanden. Das Gerüst war darauf eingerichtet, den Aufprall der gewaltigen Massen zu dämpfen, dennoch waren im Augenblick der Kollision alle Belastungsindikatoren in den roten Bereich geschossen. Doch das Gerüst – jedenfalls so viel davon wie nötig – hatte standgehalten und das Schiff ebenfalls. Die Unendlichkeit hatte sich nicht das Rückgrat gebrochen, die Triebwerke waren nicht von den Auslegern gerissen worden. Damit hatte sie den schlimmsten Teil der Reise überstanden. Bei dem, was nun von ihr verlangt wurde, wäre sie nicht mehr solchen Belastungen ausgesetzt wie bei der Landung. Alle seine Erwartungen hatten sich erfüllt.

Quaiche winkte sein Publikum näher heran. »Sehen Sie sich das an. Das Heck des Schiffes wird soeben ein wenig angehoben, damit die Abgase nicht Helas Oberfläche treffen. Ein kleiner, aber sehr wichtiger Schritt.«

»Sobald die Triebwerke gezündet werden«, sagte Vasko, »wird es sich aus Ihrer Haltebucht losreißen.«

Quaiche schüttelte den Kopf. »Das wird nicht geschehen. Ich habe nicht einfach den erstbesten Fleck auf der Karte gewählt. Diese Region ist geologisch extrem stabil. Die Haltebucht selbst wurde tief in Helas Kruste verankert. Sie wird sich nicht von der Stelle bewegen. Glauben Sie, ich hätte die Geologie vergessen, nachdem ich so viel Mühe darauf verwandt habe, dieses Schiff in die Hände zu bekommen!« Wieder ein Klingelsignal. Quaiche zog sich ein biegsames Mikrofon heran und flüsterte seinem Verbindungsmann an der Haltebucht etwas zu. »Das ist hoch genug«, sagte er. »Kein Grund, noch länger zu warten. Mr. Malinin?«

Vasko sprach in seinen Kommunikator. Er verlangte nach Scorpio, aber stattdessen meldete sich ein anderes Mitglied des Ältestenrats.

»Bitten Sie das Schiff, die Triebwerke zu zünden«, sagte Vasko.

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sie bereits den Lichtschein sahen. Zwei grell weiße Speere mit violetten Rändern lösten sich aus den Synthetikertriebwerken. Die Kamera war von so viel Helligkeit überfordert. Das Schiff schob sich ein Stück nach vorne, der letzte matte Fluchtversuch eines gefangenen Ungetüms. Aber die Haltebucht fing den Schock der Triebwerksaktivierung ab, und die Unendlichkeit rutschte allmählich in ihre Ausgangsposition zurück. Die Triebwerke brannten sauber und ruhig.

»Da«, sagte Grelier und zeigte auf ein Fenster des Turmzimmers. »Wir können es direkt beobachten.«

Die Abgasstrahlen strichen wie zwei erlöschende weiße Suchscheinwerfer über den Horizont.

Einen Augenblick später durchlief ein Zittern die Morwenna.

Quaiche rief nach Grelier und deutete auf seine Augen. »Entfernen Sie dieses grässliche Ding von meinem Gesicht. Ich brauche es nicht mehr.«

»Den Lidspreizer?«

»Nehmen Sie ihn ab. Aber vorsichtig.«

Grelier hob den Metallrahmen behutsam ab.

»Es wird eine Weile dauern, bis Ihre Augenlider in die alte Stellung zurückkehren«, erklärte er. »Bis dahin würde ich die Sonnenbrille auflassen.«

Quaiche hielt sich die dunklen Gläser vor das Gesicht wie ein Kind, das mit der Brille eines Erwachsenen spielte. Ohne den Lidspreizer waren sie viel zu groß und wollten nicht halten.

»Jetzt können wir gehen«, sagte er.

 

Scorpio lief zu seinem Schiffchen, das wie ein flacher Kieselstein auf dem Eis lag, stieg durch die offene Tür ein und steuerte von den Resten der Brücke weg. Die Landschaft mit dem tiefen Riss raste unter ihm vorbei, scharfe schwarze Schatten flossen wie einzelne Tintenflecken darüber hin. Eine Wand der Spalte war jetzt so schwarz wie die Nacht, die andere war nur am oberen Rand erleuchtet. Scorpio wünschte sich einerseits, die Brücke wäre noch da. Er hätte seine letzte Tat gerne rückgängig gemacht, um die Konsequenzen in Ruhe überdenken zu können. So war es ihm immer ergangen, wenn er eine Person verletzt oder etwas beschädigt hatte. Jedes Mal bereute er seine Impulsivität, doch diese Reue war nie von Dauer.

Er wusste jetzt, dass sich die Experten geirrt hatten, was die Brücke anging. Sie war doch nicht von den Flitzern gebaut worden, sondern von Menschen. Sicherlich hatte sie mehr als hundert Jahre hier gestanden, aber sehr viel älter war sie wohl nicht. Doch bevor sie zertrümmert, auseinander gerissen wurde, hatte man nicht erfahren, woher sie stammte – nicht einmal, woraus sie bestand. Sie war das Produkt einer weit fortgeschrittenen Wissenschaft, aber es war eher die Wissenschaft der demarchistischen Ära gewesen als die der verschwundenen Aliens. Er dachte an den Mann, der ihm auf dem Eis erschienen war, an seine Trauer darüber, dass sein wunderschönes Bauwerk zerstört worden war. Aber es war keine Liveübertragung, sondern nur eine Aufzeichnung gewesen. Sie war vermutlich bei der Fertigstellung der Brücke angefertigt worden und sollte erst aktiviert werden, wenn jemand das Bauwerk beschädigte oder zerstörte. Der Baumeister hatte diese Möglichkeit demnach immer in Betracht gezogen; vielleicht hatte er sogar damit gerechnet. Für Scorpio hatte er sich so angehört, als hätten sich seine Befürchtungen bestätigt.

Die Fähre entfernte sich von der Spalte. Er flog jetzt über festem Grund, unter ihm war andeutungsweise der Weg zu erkennen. Da fuhr auch die Morwenna, nur noch drei bis vier Kilometer vom Abgrund entfernt, und zog ihren langen Schatten hinter sich her wie eine schwarze Brautschleppe. Scorpio schlug sich die Brücke und ihren Erbauer aus dem Sinn. Alles, was er wollte, alles, worauf es jetzt noch ankam, befand sich in dieser Kathedrale. Er musste einen Weg ins Innere finden.

Er flog so nahe heran, dass er zusehen konnte, wie die mächtige Laufmaschine langsam vorwärts kroch. Die gemessenen Bewegungen der Strebepfeiler wirkten hypnotisch beruhigend. Er hatte sich also nicht getäuscht: Die Morwenna fuhr immer noch weiter auf die Spalte zu, als wüsste sie nicht, dass es keinen Übergang mehr gab.

Damit hatte er nicht gerechnet.

Vielleicht würde sie gleich langsamer werden, wenn die nach vorne gerichteten Sensoren die Lücke auf ihrem Weg entdeckten. Oder sie marschierte einfach weiter auf die Kante zu, als würde die Brücke noch existieren. Ihm kam ein schrecklicher Verdacht: Vielleicht spielte Quaiche nicht nur den Helden, sondern konnte die Kathedrale tatsächlich nicht anhalten?

Er näherte sich auf fünfhundert Meter und hielt sich auf annähernd gleicher Höhe mit der Spitze des Hauptturms. Jetzt brauchte er nur noch eine Landeplattform oder eine andere Fläche, auf der er niedergehen konnte, und von dort einen Zugang ins Innere der Kathedrale. Auf der großen Landeplattform herrschte zu viel Betrieb; er konnte seine Fähre nicht aufsetzen, ohne einen Zusammenstoß mit einem der beiden anderen Schiffe zu riskieren, die bereits dort geparkt waren. Das eine war eine unbekannte rote Miniraumfähre von der Form einer Muschel; das andere war die Fähre, mit der Vasko und Khouri von der Sehnsucht nach Unendlichkeit hierher geflogen waren. Nur mit ihr konnten alle – auch Aura und der Anzug – in den Orbit zurückgebracht werden, er würde sich also hüten, sie zu beschädigen oder von der Plattform zu schieben.

Aber es gab andere Möglichkeiten, außerdem hätte er mit einer Landung auf dem dafür bestimmten Feld auf das Überraschungsmoment verzichtet. Er umkreiste, mit leichten Schubstößen seine Höhe haltend, die Kathedrale, und beobachtete, wie der flackernde Lichtschein aus seinen Triebwerken gleich den Blitzen eines Sommergewitters über die Morwenna hinzuckte. Schatten und Licht bewegten sich mit ihm, ließen Türme und Erker übereinander gleiten und verschmelzen. Es war, als erwachte das mächtige Gebäude aus Stein und Metall gähnend aus tiefem Schlaf. Sogar die Fratzengesichter wurden in die Bewegungsillusion mit einbezogen, die Köpfe mit den aufgerissenen Mäulern schienen ihm mit der geschmeidigen, gut geölten Bösartigkeit von Geschützrohren zu folgen.

Das war keine Illusion.

Von einem der Gesichter blitzte Feuer auf, sein Schiff erbebte und machte einen Satz. In seinem Helm schrillte Alarm. Auf der Konsole blinkten Warnsymbole. Kathedrale und Landschaft legten sich beunruhigend schräg, das Schiff ging in einen rasanten, kaum noch kontrollierten Sturzflug. Die Korrekturdüsen bemühten sich mit Notzündungen, das abstürzende Schiff zu stabilisieren, aber es war aussichtslos. Er konnte sich nicht einmal von der Morwenna entfernen, geschweige denn, den Orbit erreichen. Scorpio riss hart an der Steuerung, um das beschädigte Schiff von den fratzenhaften Verteidigungssystemen wegzulenken. Seine Brust schmerzte, als er sich mit aller Kraft auf den Knüppel legte. Er stöhnte auf und biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Wieder spuckte ihm ein Kopf rotes Feuer entgegen. Durch das Schiff ging ein Ruck, und es stürzte noch schneller. Scorpio stemmte sich ein, einen Moment später krachte das Schiff auf das Eis. Er blieb bei Bewusstsein, aber der Schmerz war überwältigend – ein Aufschrei des Zornes, der Empörung löste sich aus seiner Kehle. Das Schiff überschlug sich mehrmals und blieb schließlich auf der Seite liegen. Die offene Tür war über ihm, und darin stand wie eingerahmt Haldoras entblößtes Herz.

Er ließ sich mindestens eine Minute Zeit, bevor er sich bewegte.

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