Siebenundvierzig

 

 

Das Sonderkommando der Kathedralengarde bewachte die Gefangenen, als Grelier das Turmzimmer verließ. Quaiches geflüsterte Befehle klangen ihm im Ohr. Als er zurückkehrte, hatte er für Rachmika einen Anzug in etwa der richtigen Größe dabei: Es war nicht derselbe, den sie während der Reise auf der Karawane getragen hatte, sondern ein blutrotes Adventistenmodell.

Grelier ließ die einzelnen Teile in ihren Schoß fallen. »Ziehen Sie ihn an«, befahl er. »Aber brauchen Sie nicht zu lange. Ich habe es ebenso eilig wie Sie, von hier wegzukommen.«

»Ich gehe nicht ohne den Ehernen Panzer«, sagte sie. »Und nicht ohne meine Freunde«, fügte sie mit einem Blick auf ihre Mutter hinzu. »Sie kommen beide mit.«

»Nein«, sagte Quaiche. »Sie bleiben mindestens so lange hier, bis Sie und ich auf dem Schiff in Sicherheit sind.«

»Auf welchem Schiff?«, fragte Vasko.

»Auf dem Ihren natürlich«, sagte Quaiche, als verstünde sich das von selbst. »Auf der Sehnsucht nach Unendlichkeit. Da gibt es noch immer eine ganze Menge, was ich nicht verstehe. Das Schiff scheint sogar ein eigenes Bewusstsein zu haben. Rätsel über Rätsel: Aber mit der Zeit werden wir ihnen schon auf den Grund gehen. Ich weiß nur eines: Ich traue diesem Schiff durchaus zu, auf dumme Gedanken zu kommen und sich womöglich selbst in die Luft zu sprengen.«

»Es hat Menschen an Bord«, sagte Vasko.

»Während ich mit Ihnen spreche, versucht ein voll bewaffneter Trupp von Kathedralengardisten von der Haltebucht aus eine Übernahme. Diese Gardisten verfügen über Waffen und Rüstungen, die den ersten Infiltrationseinheiten vorenthalten wurden, und sie brauchen nicht auf Verstärkung aus dem All zu warten. Glauben Sie mir, sie werden dieses Schiff in wenigen Stunden säubern, ganz gleich, welche Tricks es anwendet. Bis dahin halte ich die persönliche Anwesenheit von Rachmika – Pardon, Aura – für das einzig sichere Mittel, um das Schiff an einer Torheit zu hindern. Immerhin hat es sich praktisch aus freien Stücken in meine Haltebucht gestürzt, sobald ich ihm meine Position klar gemacht hatte.«

»Ich werde Sie nicht retten«, sagte Rachmika. »Wenn Sie mir die Schatten nicht ausliefern, sind Sie mit oder ohne mich ein toter Mann, Dekan.«

»Die Schatten und Ihre Freunde bleiben hier.«

»Das ist Mord.«

»Nein, nur eine Vorsichtsmaßnahme.« Er winkte einen der Gardisten näher an seinen Krankenstuhl heran. »Haken, diese Leute bleiben in diesem Raum, bis Sie hören, dass ich die Haltebucht wohlbehalten erreicht habe. Es sollte nicht länger als dreißig Minuten dauern, aber Sie handeln nicht ohne meinen ausdrücklichen Befehl. Verstanden?«

Der Gardist nickte. »Und wenn wir nichts von Ihnen hören, Dekan«

»Die Kathedrale erreicht in vier Stunden das westliche Ende der Brücke. In drei Stunden und dreißig Minuten können Sie die Gefangenen freilassen und selbst fliehen. Finden Sie sich so bald wie möglich an der Haltebucht ein.«

»Und der Eherne Panzer, Sir?«, fragte Haken.

»Stürzt mit der Mor in die Tiefe. Die Kathedrale nimmt ihre Dämonen mit in den Tod.« Quaiche wandte sich an Grelier, der Rachmika die den letzten Feinheiten des Adventistenanzugs erklärte. »Generalmedikus? Sie hätten nicht zufällig Ihren Medizinkoffer bei sich?«

Grelier schien gekränkt. »Ich verlasse meine Räume niemals ohne ihn.«

»Dann öffnen Sie ihn. Suchen Sie eine Spritze mit einem starken Mittel. DEUS-X zum Beispiel. Das sollte als Ansporn genügen, meinen Sie nicht?«

»Wie Sie das Mädchen kontrollieren, ist Ihre Sache«, sagte Grelier. »Ich gehe allein. Ich finde, es ist Zeit, dass unsere Wege sich trennen.«

»Darüber sprechen wir später«, sagte Quaiche. »Noch sind Sie ebenso auf mich angewiesen wie ich auf Sie. Ich hatte schon geahnt, dass unsere Beziehung auf eine kleinere Krise zusteuern könnte, deshalb befahl ich Hakens Männern, Ihr Schiff unbrauchbar zu machen.«

»Das stört mich nicht weiter. Ich nehme das andere.«

»Es gibt kein anderes. Hakens Männer haben sich auch um die Ultra-Fähre gekümmert.«

»Dann sitzen wir also alle auf der Kathedrale fest?«, fragte Grelier.

»Nein. Sagte ich nicht eben, wir würden uns zur Haltebucht begeben? Etwas mehr Vertrauen, Generalmedikus. Etwas mehr Vertrauen.«

»Dafür ist es schon etwas zu spät«, sagte Grelier. Doch er griff schon nach seinem Koffer und öffnete ihn. Die aufgereihten Injektionsspritzen wurden sichtbar.

Rachmika hatte es inzwischen geschafft, den Anzug anzulegen. Einen Helm gab es nicht; der wurde ihr noch vorenthalten. Sie sah erst ihre Mutter und dann Vasko an. »Sie können sie nicht hier festhalten. Sie müssen mit uns kommen.«

»Man wird sie rechtzeitig gehen lassen«, sagte Quaiche.

Rachmika spürte, wie die kalte Nadel ihren Hals berührte.

»Gehen wir?«, fragte Grelier.

»Ich lasse sie nicht hier«, beharrte Rachmika.

»Uns wird nichts passieren«, sagte Khouri. »Geh du nur mit ihm und tu, was er sagt. Auf dich allein kommt es jetzt an.«

Rachmika atmete tief durch, dann fügte sie sich. Sie hatte keine andere Wahl. »Bringen wir es hinter uns«, sagte sie.

 

Glaur gestattete sich einen letzten Blick zurück, bevor er das vibrierende Imperium des Maschinenraums für immer verließ. Tiefer Stolz erfasste ihn: Die Maschinen liefen einwandfrei, seit Seyfarth und er die beiden Schlüssel in die Sicherungsanlage gesteckt und die Morwenna auf automatische Steuerung umgestellt hatten. So musste sich der Direktor einer Schule fühlen, wenn er in eine Klasse schaute und sah, dass sich die Schüler auch in Abwesenheit eines Lehrers fleißig ihren Studien widmeten. Mit der Zeit würden sich ohne menschliche Aufsicht Mängel einschleichen: Am Reaktor würden Warnlampen aufleuchten, und die Turbinen samt den dazugehörigen Mechanismen würden sich überhitzen, wenn sie nicht rechtzeitig geschmiert und nachgestellt wurden. Aber bis dahin würden noch viele Stunden vergehen: Wahrscheinlich wäre die Morwenna schon lange vorher zerstört. Wie gut die Chancen der Kathedrale standen, die Brücke heil zu überqueren, kümmerte Glaur nicht mehr. An der Hauptnavigationskonsole wurde angezeigt, dass das Induktionskabel ein Stück vor der Kathedrale durchgerissen war. Die Bruchstelle konnte sich überall im Umkreis von hundert Kilometern von der jetzigen Position der Mor befinden, aber für Glaur stand fest, dass die Brücke zerstört worden sein musste. Von wem und wie wusste er nicht. Höchstwahrscheinlich war der Täter eine gegnerische Kathedrale, die dem Dekan selbst diesen einen tollkühnen Versuch nicht gönnte, sich unsterblichen Ruhm zu erwerben. Es musste aber ein faszinierender Anblick gewesen sein. Fast so spektakulär wie in Kürze der Absturz der Morwenna.

Er wandte sich ab und stieg die Wendeltreppe zum nächsten Stockwerk hinauf. Schwerfällig schleppte er sich in einem Druckanzug für Notfälle, den er sich aus der Werkstatt geholt hatte, von Stufe zu Stufe. Noch hatte er das Visier hochgeklappt, aber er rechnete damit, schon bald draußen auf Helas Oberfläche zu stehen und auf den Spuren der Kathedrale zu Fuß zur gewohnten Route des Ewigen Weges zurückzukehren. Viele waren schon dorthin unterwegs: Wenn er stramm marschierte, konnte er sicher früher oder später eine der Gruppen einholen. Vielleicht konnte er sich auf dem Garagendeck sogar ein Fahrzeug organisieren, falls sie nicht schon alle vergeben waren.

Glaur war fast oben angekommen. Etwas stimmte nicht: Der Ausgang war mit einem Metallgitter versperrt. Es war das Schutzgitter, das normalerweise offen stand und nur geschlossen wurde, wenn ein Mitglied des Glockenturms in besonderer Mission unterwegs war.

Man hatte ihn im Maschinenraum eingeschlossen.

Glaur wich zurück. Es gab noch andere Treppen, aber er war überzeugt, dass er auch dort auf Hindernisse stoßen würde. Wozu sollte man einen Ausgang blockieren, wenn man die anderen offen ließ?

Der Schichtleiter geriet in Panik. Er packte das Tor und rüttelte daran. Es erbebte, aber er würde es nicht mit Gewalt öffnen können. Selbst wenn er einen Schlüssel gehabt hätte, gab es auf seiner Seite kein Schloss. Er brauchte einen Schneidbrenner, um in die Haupträume der Morwenna zu gelangen.

Er zwang sich zur Ruhe: Noch war Zeit genug. Er konnte davon ausgehen, dass man ihn versehentlich eingeschlossen hatte. Vielleicht hatte derjenige gedacht, die Halle sei leer, und man sollte sie gegen mögliche Sabotageversuche schützen, auch wenn diese wenig Aussicht auf Erfolg hätten.

Er brauchte nur einen Schneidbrenner. Das war zum Glück kein Problem. Nicht hier unten im Maschinenraum.

Glaur nahm sich zusammen und zwang sich, nicht wie ein Wahnsinniger die Treppen hinabzustürmen. Im Geiste durchwühlte er bereits die Werkstatt und suchte nach dem Gerät, das für diese Aufgabe am besten geeignet wäre.

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