Einundzwanzig

Ararat

2675

 

 

Skade steckte zur Hälfte in einem Gespinst aus Eis und dem gefrorenen schwarzen Schaum der Unterdrückermaschinen. Aber sie war am Leben. Das sahen sie sofort, als sie sich durch die schmale Öffnung im zerdrückten Schott zwängten. Sie lag noch in der Kommandoliege. Ein Hauch von Interesse trübte die heitere Gelassenheit ihrer Züge, als sie leicht den Kopf in ihre Richtung drehte. Eine weiß behandschuhte Hand schwebte über einem tragbaren Holoklavier, das sie auf dem Schoß hielt, die Finger rasten so schnell über die Tasten, dass sie zu einem weißen Nebel verschwammen, und erzeugten Tonsalven, die den Besuchern wie Gewehrfeuer entgegenschossen.

Skade nahm die Hand von den Tasten. Die Musik verstummte. »Ich habe mich schon gefragt, wo ihr so lange bleibt.«

»Ich will mein Kind zurück, Miststück«, sagte Khouri.

Skade tat so, als hätte sie nichts gehört. »Was ist passiert, Clavain?«

»Ein kleines Missgeschick.«

»Die Wölfe haben dir die Hand abgefressen. Wie unerfreulich.«

Clavain zeigte ihr das Messer. »Ich habe getan, was nötig war. Erkennst du es, Skade? Es hat mir heute nicht zum ersten Mal das Leben gerettet. Mit diesem Messer habe ich nach unserer kleinen Meinungsverschiedenheit über die künftige Politik des Mutternetzes die Membran um den Kometen aufgeschnitten. Das hast du doch sicher nicht vergessen?«

»Seit ich dieses Messer zum letzten Mal gesehen habe, ist viel Wasser ins Meer geflossen. Zu jener Zeit hatte ich noch meinen alten Körper.«

»Was geschehen ist, tut mir Leid, aber ich habe auch damals nur getan, was nötig war. In der gleichen Situation würde ich heute wieder genauso handeln.«

»Daran zweifle ich nicht, Clavain. Man kann über dich sagen, was man will, aber zu deinen Überzeugungen hast du immer gestanden.«

»Wir wollen das Kind holen«, sagte er.

Sie nickte Khouri kaum merklich zu. »Das dachte ich mir.«

»Wirst du es uns freiwillig aushändigen, oder müssen wir erst ein blutiges Gemetzel veranstalten?«

»Was wäre dir denn lieber, Clavain?«

»Hör zu, Skade. Es ist vorbei. Was immer zwischen dir und mir vorgefallen ist, welchen Schaden wir uns zufügten, an welche Bindungen wir glaubten, es spielt alles keine Rolle mehr.«

»Das habe ich Remontoire auch gesagt.«

»Aber du hast mit ihm verhandelt«, sagte Clavain. »Wir wissen es. Also lass uns bis an die Grenzen gehen. Lass uns wieder mit vereinten Kräften kämpfen. Gib uns Aura zurück, und wir teilen alles mit dir, was sie uns sagt. So profitieren wir alle auf lange Sicht.«

»Was kümmert mich die lange Sicht, Clavain? Ich werde dieses Schiff nie wieder von außen sehen.«

»Wenn du verletzt bist, können wir dir helfen.«

»Das halte ich für höchst unwahrscheinlich.«

»Geben Sie mir Aura«, verlangte Khouri.

Scorpio trat näher und sah sich die verletzte Synthetikerin genauer an. Sie trug eine sehr helle, nahezu weiße Rüstung, wahrscheinlich Chamäleo-Panzerung: Die äußere Schale hatte sich der Farbe des Eises angepasst, das in der Kabine kondensiert oder durch die Wände gebrochen war, bevor die Beleuchtung versagte. Der Anzug war einer mittelalterlichen Ritterrüstung nachempfunden. Stark gewölbte verschiebbare Platten schützten die Gelenke, auch der Brustharnisch war deutlich gerundet. Über dem rockähnlich ausgestellten Hüftpanzer wirkte ihre Taille sehr weiblich, fast wie geschnürt. Der Rest des Körpers – der gesamte Unterleib – verschwand im Eis. Skade konnte sich so wenig von der Stelle rühren wie eine Schaufensterpuppe.

Sie war von warzenähnlichen schwarzen Häufchen von Unterdrückermaschinen umringt. Aber die Maschinen waren im Moment offenbar nicht aktiv. Skade hatte Ruhe vor ihnen.

»Ihr könnt Aura haben«, sagte sie. »Aber sie hat natürlich ihren Preis.«

»Wir werden nicht für sie bezahlen«, sagte Clavain. Seine Stimme klang rau und matt, ohne Kraft.

»Du hast doch eben von Verhandlungen gesprochen«, erinnerte ihn Skade. »Oder hattest du eher an Drohungen gedacht?«

»Wo ist sie?«

Skade bewegte einen Arm. Die Rüstung knirschte, ein Eisregen prasselte nieder. Sie klopfte auf die harte Platte über ihrem Unterleib. »Sie ist hier in mir. Mein Körper erhält sie am Leben.«

Clavain sah sich nach Khouri um. Sein Blick war ein stummes Eingeständnis. Alles, was sie ihnen erzählt hatte, stellte sich nun als wahr heraus. »Gut«, sagte er und wandte sich wieder an Skade. »Dafür danke ich dir. Aber jetzt will ihre Mutter sie wiederhaben.«

»Und dir geht es natürlich nur um die Mutter«, spottete Skade mit eisigem Lächeln. »Und um das Schicksal des Kindes.«

»Ich habe einen weiten Weg hinter mich gebracht, um dieses Kind zu holen.«

»Du hast einen weiten Weg hinter dich gebracht, um einen Wertgegenstand zu holen«, verbesserte Skade.

»Für dich bedeutet das Kind natürlich viel, viel mehr.«

»Das reicht«, unterbrach Scorpio. »Für dieses Hickhack haben wir keine Zeit. Wir wollen Khouris Kind. Die Gründe kümmern mich einen Dreck. Geben Sie es einfach heraus.«

»Herausgeben?« Skade lachte dem Schwein ins Gesicht. »Hast du dir das wirklich so einfach vorgestellt? Das Kind ist in mir. Es liegt in meinem Schoß und ist an meinen Kreislauf angeschlossen.«

»Sie«, betonte Khouri. »Aura ist kein ›Es‹, Sie herzloses Stück Dreck.«

»Aber sie ist auch kein Mensch«, sagte Skade, »selbst wenn Sie in diesem Punkt anderer Meinung sind.« Sie drehte den Kopf so, dass sie Clavain ansehen konnte. »Ja. Ich habe meine Absicht ausgeführt und mir von Delmar einen neuen Körper züchten lassen. Jetzt bin ich vom Hals abwärts nur Fleisch. Sogar die Gebärmutter ist mehr Organ als Maschine. Finde dich damit ab, Nevil: Ich bin lebendiger als du, nachdem du deine Hand verloren hast.«

»Du warst immer eine Maschine, Skade. Es war dir nur nicht bewusst.«

»Wenn das heißen soll, dass ich immer nur meine Pflicht getan habe, gebe ich dir Recht. Maschinen haben eine gewisse Würde: Sie können weder betrügen noch Treubruch begehen. Sie sind zu keinem Verrat fähig.«

»Ich bin nicht hier, um mir eine Moralpredigt anzuhören.«

»Willst du nicht wissen, was mit meinem Schiff passiert ist? Wie gefällt dir mein Eispalast?« Sie deutete in die Runde, als erwarte sie, dass man ihren Einrichtungsgeschmack bewunderte. »Ich habe ihn speziell für dich gebaut.«

»Ich glaube eher, dass deine kryo-arithmetischen Aggregate außer Kontrolle geraten sind«, sagte Clavain.

»Wenn du meine Bemühungen abwerten willst, nur zu«, schmollte Skade.

»Was ist passiert?«, fragte Scorpio ruhig.

Sie seufzte. »Du wirst es nicht verstehen. Die besten Köpfe im Mutternest hatten Mühe, die Grundlagen des Verfahrens zu begreifen. Du hast nicht einmal die Intelligenz eines Standardmenschen. Du bist nur ein Schwein.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diese Attacken unterlassen würden.«

»Soll das eine Drohung sein? Solange ich Aura in mir trage, kannst du mir nichts anhaben. Wenn ich sterbe, stirbt auch sie. So einfach ist das.«

»Die perfekte Geiselsituation«, bemerkte Clavain.

»Ich behaupte nicht, es wäre einfach gewesen. Die beiden Immunsysteme mussten stark verändert werden, bevor wir aufhörten, uns gegenseitig abzustoßen.« Skade warf Khouri einen messerscharfen Blick zu. »Verabschieden Sie sich von der Vorstellung, sie wieder in Ihren Schoß zurückzuholen. Ich fürchte, Sie beide sind nicht mehr kompatibel.«

Khouri wollte etwas erwidern, aber Clavain hob rasch die unverletzte Hand und kam ihr zuvor. »Du bist also doch zu Verhandlungen bereit«, sagte er, »sonst hättest du dir diese Warnung sparen können.«

Skade ließ Khouri nicht aus den Augen. »Sie können mit Aura von hier weggehen. An Bord dieses Schiffes müssten sich noch genügend funktionsfähige chirurgische Instrumente finden. Durch den Kaiserschnitt kann ich Sie steuern, oder Sie können improvisieren. Es ist schließlich keine Hirnoperation.« Sie sah Clavain an. »Ihr habt ein Lebenserhaltungsgerät mitgebracht?«

»Natürlich.«

»Dann steht nichts mehr im Weg. Ich bin mit Auras Bewusstsein noch über neuronale Bahnen verbunden und kann sie für die Dauer der Operation ins Koma versetzen.«

»Ich habe ein chirurgisches Besteck gefunden«, meldete Jaccottet und schob einen schweren schwarzen Koffer vor sich her. Auf dem Deckel war unter einer Reifschicht in Halbrelieftechnik ein Äskulapstab abgebildet. »Selbst wenn es nicht funktioniert, haben wir wahrscheinlich alles, was wir brauchen, in unserer eigenen Notfallausrüstung.«

»Machen Sie auf!«, sagte Clavain. Seine Stimme klang hohl, als ahnte er etwas, das allen anderen bisher noch entgangen war.

Man hörte ein Zischen, dann sprang der Koffer auf. Mehrere Tabletts kamen zum Vorschein, voll gepackt mit mattweißen chirurgischen Instrumenten in passgenauen Hartschaumeinsätzen. Die Instrumente mit ihren Griffschalen und Präzisionsgelenken erinnerten Scorpio an ein exotisch-bizarres Essbesteck. Sie bestanden nicht aus intelligentem Material, denn sie waren für den Einsatz im Krieg bestimmt, wo höher entwickelte Spezialinstrumente durch unkontrollierbare Nanomaschinen zerstört werden konnten.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Skade.

Jaccottet hob mit behandschuhten Fingern ein Instrument aus seiner Einbettung. Seine Hand zitterte. »Ich bin eigentlich kein Chirurg«, sagte er. »Ich hatte beim Sicherheitsdienst eine Sanitätsausbildung absolviert, aber die ging nicht bis zur Feldchirurgie.«

»Kein Problem«, erklärte Skade. »Wie gesagt, ich kann Sie durchsteuern. Sie sind der Einzige, der dafür infrage kommt. Das Schwein hat nicht die nötige Fingerfertigkeit, und Khouri steht emotional zu sehr unter Druck. Und Clavain… nun, das versteht sich wohl von selbst.«

»Nicht nur wegen meiner Hand«, sagte Clavain.

»Nein, nicht allein deshalb«, stimmte Skade zu.

»Sag es ihnen«, verlangte Clavain.

»Clavain kann die Operation nicht durchführen…« – Skade wandte sich an die drei anderen, als wäre Clavain gar nicht da –, »weil er ihr Ende nicht mehr erleben wird. So lautet nämlich meine Bedingung: Ihr könnt mit Aura abziehen, aber Clavain stirbt hier und jetzt. Das ist nicht verhandelbar, Widerspruch ist zwecklos. Entweder läuft es so, oder es läuft überhaupt nicht. Ihr habt die Wahl.«

»Das können Sie nicht machen«, sagte Scorpio.

»Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Clavain stirbt. Aura bleibt am Leben. Ihr könnt mit dem abziehen, was ihr haben wolltet. Ist das etwa kein befriedigendes Ergebnis?«

»Nicht so«, sagte Khouri. »Bitte nicht so.«

»Bedauerlicherweise habe ich mir alles schon sehr genau überlegt. Ich liege nämlich im Sterben. Dieser Palast ist mein Mausoleum. Damit bleiben – zumindest für mich – nicht mehr viele Alternativen. Entweder sterbe ich und nehme Aura mit. Dann verliert die Menschheit – was immer man darunter versteht – alles, was dieses Kind an Gaben hat. Oder ich überlasse sie euch, dann können diese Gaben nutzbar gemacht werden. Auf lange Sicht mag das weder die Ausrottung verhindern noch das Überleben garantieren, aber es könnte den Ausschlag geben zwischen Ausrottung jetzt, in diesem Jahrhundert, und Ausrottung erst in einigen Jahrtausenden. Nicht gerade eine großzügig bemessene Gnadenfrist, gewiss… aber wie ich die menschliche Natur einschätze, werden wir nehmen, was wir kriegen können.«

»Vielleicht kann sie noch mehr bewirken«, sagte Clavain.

»Das werden wir beide nicht mehr erfahren, aber ich will dir nicht widersprechen. Was Aura wert ist, lässt sich – noch – nicht abschätzen. Deshalb ist sie ja auch immer noch so begehrt.«

»Warum geben Sie sie nicht frei?«, fragte Khouri. »Geben Sie sie frei und tun Sie das einzige Mal in Ihrer beschissenen Existenz etwas Gutes.«

»Hast du sie mitgebracht, um die Verhandlungen zu erleichtern?« Skade zwinkerte Clavain zu. In diesem Moment wirkten sie wie zwei alte Freunde, die in heiteren Erinnerungen schwelgten.

»Keine Sorge«, sagte Clavain zu Khouri. »Sie bekommen Aura wieder.«

»Nein, Clavain, nicht auf diese Weise«, wehrte sie ab.

»Anders wird es nicht gehen«, gab er zurück. »Dafür kenne ich Skade zu gut. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bleibt sie auch dabei.«

»Ein Glück, wenn du das begreifst«, sagte Skade. »Du hast vollkommen Recht. Meine Position steht unverrückbar fest.«

»Warum töten wir sie nicht?«, fragte Khouri. »Und operieren sofort hinterher?«

»Es wäre einen Versuch wert«, sagte Scorpio. In Chasm City hatte er – zur Abschreckung – oftmals so langsam wie möglich töten müssen. Aber er kannte auch verschiedene Möglichkeiten, das Leben eines intelligenten Wesens rasch zu beenden. Solche Verfahren fanden etwa bei Euthanasie- oder Auftragsmorden Anwendung. Einige waren wirklich sehr schnell. Die Schwierigkeit war nur, dass er keines davon jemals wissentlich an einem Synthetiker ausprobiert hatte, schon gar nicht an einer Synthetikerin, die eine Geisel im Leib trug.

Clavain fasste Khouri am Arm. »Das wird sie nicht zulassen«, erklärte er ruhig. »Sie wird einen Weg finden, um Aura zu töten, bevor wir an sie herankommen. Aber es ist schon in Ordnung. Es soll eben so sein.«

»Nein, Clavain«, wiederholte Khouri.

Er winkte ab. »Ich bin hierher gekommen, um Aura zu befreien. Daran hat sich nichts geändert.«

»Ich will nicht, dass Sie sterben.«

Clavain lächelte. Die Fältchen um seine Augen vertieften sich. »Das glaube ich Ihnen. Ich will es eigentlich auch nicht. Seltsam, wie schnell die Vorstellung an Reiz verliert, wenn einem jemand anderer die Entscheidung abnimmt. Aber Skade will meinen Tod, und deshalb führt wohl kein Weg daran vorbei.«

»Wollen wir nicht endlich anfangen?«, unterbrach Skade.

»Moment mal«, sagte Scorpio. Er hatte sich im Geist zurechtgelegt, was er sagen wollte, aber die Worte kamen ihm selbst unwirklich vor. »Angenommen, wir stimmen zu… und Sie töten Clavain… wer garantiert uns denn, dass Sie ihren Teil des Abkommens einhält?«

»Auch das hat sie bedacht«, sagte Clavain.

»Gewiss doch«, antwortete Skade. »Ich habe auch das entgegengesetzte Szenario durchgespielt: Wer garantiert mir, dass ihr Clavain nicht einfach mitnehmt, sobald ihr Aura habt? Gegenseitiges Vertrauen ist hier keine ausreichende Basis. Deshalb habe ich mir eine Lösung ausgedacht, die beide Parteien zufrieden stellen sollte.«

»Sag es ihnen«, verlangte Clavain.

Skade deutete auf Jaccottet. »Sie – Sicherheitsmann – führen den Kaiserschnitt durch.« Ihr Blick huschte zu Scorpio. »Du – Schwein – richtest Clavain hin. Beide Operationen werden von mir dirigiert. Ich ordne jeden einzelnen Schnitt an. Alles läuft parallel. Der eine Eingriff dauert genau so lang wie der andere.«

Scorpio brauchte einen Moment, um den entsetzlichen Plan zu begreifen. Dann keuchte er: »Nein!«

»Du hast wohl noch immer nicht verstanden, worum es geht?«, fragte Skade. »Soll ich sie lieber gleich töten, damit es vorbei ist?«

»Nein.« Clavain wandte sich an seinen Freund. »Scorp, du musst es tun. Du hast die Kraft dazu, ich weiß es. Du hast es mir schon tausendmal bewiesen. Tu es, mein Freund, bring die Sache zu Ende!«

»Ich kann es nicht.«

»Ich weiß, es ist das Härteste, was man dir jemals zugemutet hat. Ich bitte dich trotzdem darum.«

Scorpio konnte nur wiederholen: »Ich kann es nicht.«

»Du musst.«

»Nein«, sagte eine andere Stimme. »Er muss nicht. Ich werde es tun.«

Alle, auch Skade, sahen sich nach dieser Stimme um. Vasko Malinin stand mit einer Pistole in der Öffnung des zerdrückten Schotts. Er wirkte ebenso verfroren und verwirrt wie alle anderen.

»Ich werde es tun«, wiederholte er. Er hatte offenbar schon eine Weile da gestanden, ohne dass ihn jemand bemerkt hätte.

»Sie hatten Anweisung, draußen zu warten«, sagte Scorpio.

»Blood hat diese Anweisung widerrufen.«

»Blood?« fragte Scorpio.

»Urton und ich hörten Schüsse. Es klang, als kämen sie von hier drinnen. Ich nahm Verbindung zu Blood auf, und er gab mir die Erlaubnis, der Sache nachzugehen.«

»Sie haben Urton da draußen allein gelassen?«

»Nur für kurze Zeit, Sir. Blood schickt ein Flugzeug. Es wird in weniger als einer Stunde hier sein.«

»So war das nicht vorgesehen«, sagte Scorpio.

»Verzeihung, Sir, aber Blood war der Meinung, wenn einmal geschossen würde, sei es an der Zeit, die Vorschriften zu ändern.«

»Dagegen ist nichts zu sagen«, bemerkte Clavain.

Scorpio nickte. Die Aufgabe, die man ihm gestellt hatte, ging fast über seine Kräfte. Aber er konnte sie nicht auf Vasko abwälzen, so gern er es gerade in diesem Fall getan hätte. »Sonst noch etwas zu melden?«, fragte er.

»Das Meer verhält sich sonderbar, Sir. Es ist grüner geworden, und rings um den Eisberg tauchen immer neue Biomasse-Inseln auf, so weit das Auge reicht.«

»Die Schieber«, sagte Clavain. »Blood hatte bereits gemeldet, dass die Aktivität zunimmt.«

»Das ist noch nicht alles, Sir. Weitere Augenzeugen berichten von Erscheinungen am Himmel. Angeblich seien sogar Objekte in die Atmosphäre eingetreten.«

»Die Kämpfe kommen näher«, sagte Clavain. Es klang fast ungeduldig. »Nun gut, Skade, ich denke, niemand von uns möchte die Sache noch länger hinausziehen.«

»Weisere Worte wurden nie gesprochen«, sagte sie und nickte.

»Du musst uns sagen, was zu tun ist. Vermutlich sollen wir dir zuerst die Rüstung abnehmen.«

»Das ist meine Sache«, sagte sie. »Kümmert ihr euch darum, dass der Inkubator bereitsteht.«

Scorpio richtete eine imaginäre Pistole auf Vasko. »Sie gehen zum Boot zurück, teilen Blood mit, dass wir in schwierigen Verhandlungen stecken, und kommen mit dem Inkubator wieder hierher.«

»Zu Befehl, Sir. Aber noch einmal, ich weiß, wie schwer es Ihnen fällt…« Vasko brachte den Satz nicht zu Ende. »Ich will nur sagen, ich bin bereit, es zu übernehmen.«

»Ich weiß«, sagte Scorpio, »aber ich bin sein Freund. Und ich möchte auf keinen Fall das Gewissen eines anderen mit einer solchen Tat belasten.«

»Du hättest dir nichts vorzuwerfen, Scorp«, sagte Clavain.

Nein, dachte Scorpio. Er hätte sich nichts vorzuwerfen. Außer, dass er seinen besten, seinen einzigen, echten Freund unter den Menschen langsam zu Tode gefoltert hätte, um das Leben eines Kindes zu retten, das er nicht kannte und das ihm gleichgültig war. Er hätte keine andere Wahl? Er täte nur, was Clavain von ihm wollte? Na und? Das würde ihm weder die Tat selbst, noch die Schuldgefühle erleichtern, mit denen er hinterher würde leben müssen. Denn was in der nächsten halben Stunde passierte – sehr viel länger konnte die Prozedur wohl hoffentlich nicht dauern –, würde sich so unauslöschlich in sein Gedächtnis einbrennen wie die Narbe auf seiner Schulter. Jene Narbe, die er sich selbst beigebracht hatte, als er die smaragdgrüne Tätowierung entfernte, die ihn als Besitz eines Menschen auswies.

Vielleicht ginge es auch noch schneller. Und vielleicht brauchte Clavain nicht allzu sehr zu leiden. Wenn es ihm gelungen war, bei der Amputation seiner Hand die meisten Schmerzen zu blockieren, könnte er wohl auch noch stärkere neuronale Barrikaden errichten, an denen die Qualen, die Skade ihm zufügen wollte, einfach abprallten.

Aber würde Skade das nicht merken?

»Gehen Sie. Sofort«, sagte er zu Vasko. »Und lassen Sie sich Zeit.«

»Dann bis später, Sir.« Vor dem Schott blieb Vasko noch einmal stehen und sah sich um, als wollte er sich die Szene einprägen. Scorpio erriet, was der Junge dachte. Wenn er zurückkehrte, würde Clavain nicht mehr unter den Lebenden sein.

»Mein Sohn«, sagte Clavain, »tun Sie, was er sagt. Es ist schon gut. Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen.«

»Ich wünschte, ich könnte irgendwie helfen, Sir.«

»Das können Sie nicht. Nicht hier und nicht jetzt. Das ist wieder eine von den harten Lektionen in der Schule des Lebens. Manchmal kann man einfach nicht das Richtige tun. Man muss einfach fortgehen und an einem anderen Tag weiterkämpfen. Eine bittere Medizin, mein Sohn, aber früher oder später müssen wir sie alle schlucken.«

»Ich verstehe, Sir.«

»Ich kenne Sie noch nicht lange, aber doch lange genug, um mir ein Bild von Ihren Fähigkeiten zu machen. Sie sind ein guter Mann, Vasko. Die Kolonie braucht Sie und Ihresgleichen. Das sollten Sie respektieren, und Sie sollten die Kolonie nicht im Stich lassen.«

»Sir«, sagte Vasko.

»Wenn das vorüber ist, wird Aura wieder unter uns sein. Sie ist vor allem anderen die Tochter ihrer Mutter. Lassen Sie nicht zu, dass irgendjemand das vergisst.«

»Jawohl, Sir.«

»Aber sie gehört auch uns allen. Sie ist zunächst noch sehr zerbrechlich, Vasko. Sie muss beschützt werden, bis sie herangewachsen ist. Diese Aufgabe übertrage ich Ihnen und Ihrer Generation. Achten Sie gut auf dieses kleine Mädchen, es könnte das Letzte sein, worauf es ankommt.«

»Ich werde mich um sie kümmern, Sir.« Vasko sah Khouri an, als wollte er sie um Erlaubnis dazu bitten. »Wir alle werden uns um sie kümmern. Ich gelobe es.«

»Das klingt so, als würden Sie es ernst meinen. Ich kann mich doch auf Sie verlassen?«

»Ich werde mein Bestes tun, Sir.«

Clavain nickte müde und resigniert. Er stand vor einem Abgrund, dessen Tiefe außer ihm niemand ermessen konnte. »Mehr konnte auch ich niemals tun. Meistens war es genug. Und jetzt gehen Sie bitte und grüßen Sie Blood von mir.«

Vasko setzte noch einmal zum Sprechen an, aber die Worte blieben ungesagt. Er drehte sich um und verschwand.

»Warum hast du ihn fortgeschickt?«, fragte Scorpio nach einigen Sekunden.

»Weil ich nicht will, dass er das, was jetzt kommt, mit ansehen muss.«

»Ich werde so schnell sein, wie sie mich lässt«, sagte Scorpio. »Ich kann doch so rasch arbeiten wie Jaccottet, nicht wahr, Skade?«

»Ich gebe das Tempo vor, und daran wirst du dich halten.«

»Machen Sie es nicht schwerer als unbedingt nötig«, bat Scorpio.

»Er braucht doch nicht zu leiden?«, fragte Khouri. »Er kann doch den Schmerz blockieren?«

»Dazu wollte ich gerade kommen.« Skade lächelte schlangenhaft und weidete sich an ihrer eigenen Schläue. »Clavain – würdest du deinen Freunden bitte erklären, was du mir gestatten wirst.«

»Ich habe keine Wahl, nicht wahr?«

»Nicht, wenn du die Sache zu Ende bringen willst.«

Clavain rieb sich die Stirn. Sie war mit Reif bedeckt, die Augenbrauen waren weiß wie kleine Hermeline. »Seit ich diesen Raum betrat, rennt Skade mit ihren Angriffsalgorithmen gegen meine neuronalen Barrikaden, Sicherheitsschichten und Firewalls an und versucht, zu den tiefer liegende Kontrollmechanismen vorzudringen. Und ich muss sagen, sie ist ungeheuer stark. Das Einzige, was sie noch aufhält, ist das Alter meiner Implantate. Sie müssen ihr vorkommen wie eine mechanische Rechenmaschine. Mit ihren hoch entwickelten Verfahren kommt sie auf diesem Schlachtfeld nicht weiter.«

»Und?«, sagte Khouri und kniff die Augen zusammen, als hätte sie etwas Offensichtliches übersehen.

»Wenn es ihr gelänge, diese Schichten zu durchbrechen«, sagte Clavain, »könnte sie alle von mir errichteten Schmerzblockaden abschalten. Sie könnte wie in einem Damm einen Durchlass nach dem anderen öffnen und den Schmerz einströmen lassen.«

»Aber sie schafft es nicht?«, fragte Scorpio.

»Nur, wenn ich es zulasse. Nur, wenn ich sie hereinbitte und die Kontrolle an sie abgebe.«

»Aber das würdest du doch niemals tun.«

»Nein«, sagte Clavain. »Es sei denn, sie würde mich dazu zwingen.«

»Skade, bitte«, sagte Khouri.

»Senke die Blockaden ab«, sagte Skade, ohne sie zu beachten. »Senke sie ab und gewähre mir Zutritt. Sonst ziehe ich mein Angebot zurück. Und Aura stirbt.«

Clavain schloss die Augen nur ein klein wenig länger als bei einem normalen Lidschlag und setzte – vermutlich mit vielen schwierigen und selten benutzten Befehlen zur neuronalen Steuerung – Standardsicherungen außer Kraft, die seit Jahrzehnten bestanden hatten.

Dann schlug er die Augen wieder auf. »Erledigt«, sagte er. »Du hast die Kontrolle.«

»Ich möchte mich vergewissern.«

Clavain entfuhr ein leises Wimmern. Sein Unterkiefer spannte sich, er presste die Hand auf den Stumpf seines linken Arms. An seinem Hals traten die Sehnen wie Stricke hervor.

»Wahrhaftig, du hast sie«, knirschte er unter Qualen.

»Die Verbindung steht«, erklärte Skade ihrem Publikum. »Er kann mich nicht mehr abwehren oder meine Befehle blockieren.«

»Bringen wir es hinter uns«, bat Clavain noch einmal. Seine Züge entspannten sich, als sei eine Wolke vorübergezogen. Scorpio verstand. Skade wollte ihn zwar foltern, aber eine externe Schmerzquelle hätte sie bei ihren sorgfältig koordinierten Bemühungen gestört. Besonders, wenn diese Schmerzquelle nichts mit ihren eigenen Plänen zu tun hatte.

Skade legte die behandschuhten Hände auf ihren Leib. Bisher war die Rüstung fugenlos glatt gewesen, doch jetzt löste sich die stark gewölbte weiße Platte vor dem Oberkörper. Skade legte sie neben sich und drückte die Arme wieder an die Seiten. Unter der Öffnung spannte sich ein dünnes Netz, die innere Schicht eines Raumanzugs, und darunter zitterte weiches menschliches Fleisch.

»Wir sind bereit«, sagte sie.

Jaccottet kniete neben ihr nieder und drückte ein Knie gegen den Eishügel, der Skades untere Körperhälfte bedeckte. Der schwarze Koffer mit den Chirurgeninstrumenten stand offen neben ihm.

»Schwein«, sagte sie. »Nimm ein Skalpell aus dem unteren Fach. Das genügt fürs Erste.«

Scorpio versuchte mit dem Huf das Instrument aus dem Hartschaum zu scharren. Khouri beugte sich vor, holte es heraus und reichte es ihm.

»Ich bitte Sie zum letzten Mal«, sagte Scorpio. »Zwingen Sie mich nicht dazu.«

Clavain setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben ihn. »Lass es gut sein, Scorp. Tu einfach, was sie sagt. Ich habe noch ein paar Asse im Ärmel, von denen sie nichts weiß. Sie wird nicht alle meine Befehle blockieren können, auch wenn sie sich das einbildet.«

»Du erzählst ihm das nur, weil du meinst, du würdest es ihm damit leichter machen«, höhnte Skade.

»Er hat mich noch nie belogen«, sagte Scorpio. »Ich glaube nicht, dass er jetzt damit anfängt.«

Das weiße Messerchen in seiner Hand war lächerlich leicht, ein harmloses Chirurgenspielzeug. Das Instrument an sich war unschuldig, doch in diesem Augenblick erschien es ihm wie die Verkörperung alles Bösen im Universum, sogar das jungfräuliche Weiß war ein Ausdruck von Feindseligkeit. Er hielt gigantische Möglichkeiten in seiner Hand. Er konnte das Instrument nicht so fassen, wie die Hersteller es beabsichtigt hatten. Trotzdem konnte er gut genug damit umgehen, um schweren Schaden anzurichten. Für Clavain spielte es vermutlich keine große Rolle, wie geschickt er arbeitete. Eine gewisse Ungenauigkeit mochte sogar helfen, den weißglühenden Schmerz zu dämpfen, den Skade ihm zufügen wollte.

»Wie soll ich mich hinsetzen?«, fragte Clavain.

»Leg dich auf den Rücken«, befahl Skade. »Die Hände an die Seiten.«

Clavain gehorchte. »Noch etwas?«

»Das liegt bei dir. Für einige letzte Worte wäre jetzt die richtige Gelegenheit. In ein paar Minuten könnte es dir schwer fallen.«

»Nur eines«, sagte Clavain.

Scorpio trat näher. Der gefürchtete Augenblick war fast da. »Was, Nevil?«

»Wenn es vorbei ist, verliert keine Zeit. Bringt Aura in Sicherheit. Das ist wirklich alles, worauf es mir ankommt.« Er hielt inne und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. In seinem spärlichen Bart glitzerten die Eiskristalle. »Aber wenn es möglich ist und dich nicht allzu sehr belastet, möchte ich dich bitten, mich auf See zu bestatten.«

»Wo?«, fragte Scorpio.

»Hier«, antwortete Clavain. »So schnell es geht. Keine Zeremonie. Den Rest erledigt das Meer.«

Skade ließ sich nicht anmerken, ob sie die Bitte gehört hatte oder sich dafür interessierte. »Fangen wir an«, sagte sie zu Jaccottet. »Sie tun genau, was ich sage. Ach ja, Khouri?«

»Ja?«, fragte die Frau.

»Für Sie besteht wirklich kein Anlass, das mit anzusehen.«

»Sie ist meine Tochter«, sagte Khouri. »Ich rühre mich nicht von der Stelle, bis ich sie wiederhabe.« Sie wandte sich an Clavain, und Scorpio hatte den Eindruck, als fände eine stumme Zwiesprache statt, bei der Dinge von gewaltiger Tragweite ausgetauscht wurden. Vielleicht war es tatsächlich so. Immerhin waren sie jetzt beide Synthetiker.

»Es ist gut«, sagte Clavain laut.

Khouri kniete nieder und küsste ihn auf die Stirn. »Ich wollte nur Danke sagen.«

Hinter ihr begann Skade wieder auf dem Holoklavier zu spielen.

 

Draußen vor dem Eisberg stand Urton auf dem weißen Saum, der immer breiter wurde, und sah Vasco so vorwurfsvoll an, als wäre er ein Kind, das die Schule geschwänzt hatte. »Du hast dir viel Zeit gelassen«, sagte sie.

Vasko fiel auf die Knie und übergab sich. Die Übelkeit hatte ihn plötzlich und ohne Vorwarnung überfallen. Danach fühlte er sich innerlich wie ausgehöhlt.

Urton kniete sich neben ihn auf das Eis. »Was hast du? Was ist los?«, drängte sie.

Aber er konnte nicht sprechen. Er wischte sich das Erbrochene vom Kinn. Seine Augen brannten. Er schämte sich und fühlte sich zugleich befreit, als hätte ihm das qualvolle Eingeständnis seiner emotionalen Schwäche unerwartete neue Kräfte verliehen. Als sich das Innerste seines Wesens nach außen kehrte, hatte er den ersten Schritt in die Welt der Erwachsenen getan, die Urton und Jaccottet für ihr ureigenes Reich hielten.

Der Himmel war grau-violett wie ein Bluterguss. Das Meer war unruhig. Graue Schatten glitten durch die Wellen.

»Sprich mit mir, Vasko«, sagte Urton.

Er rappelte sich mühsam auf. Sein Hals schmerzte, aber sein Geist war so klar und rein wie eine leere Luftschleuse.

»Hilf mir mit dem Inkubator«, sagte er.

Offenbarung
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