Sechsundzwanzig
Hela
2727
Am nächsten Tag bekam Rachmika die Brücke zum ersten Mal zu Gesicht.
Das Ereignis wurde nicht mit Fanfarenstößen angekündigt. Sie befand sich im Innern der Karawane auf dem vorderen Beobachtungsdeck in einem der beiden ersten Fahrzeuge. Seit dem Zwischenfall mit dem Observator mit dem Spiegelgesicht hatte sie auf weitere Ausflüge auf das Dach verzichtet.
Man hatte ihr gesagt, die Karawane hätte die Spalte fast erreicht, aber die Landschaft hatte sich seit vielen Kilometern nicht mehr verändert. Die Karawane – sie war jetzt länger denn je, denn unterwegs hatten sich noch etliche Wagen angeschlossen – bewegte sich schwerfällig durch eine tiefe, vielfach gewundene Eisschlucht. Die blau geäderten Wände waren doppelt so hoch wie das höchste Fahrzeug. Gelegentlich schrammte ein Wagen dagegen, dann polterten tonnenschwere Eisblöcke herab. Für Fußgänger war der Weg zum Äquator überall riskant, aber hier mussten sie sich den engen Hohlweg mit der Karawane teilen und standen sicherlich Todesängste aus. Man konnte sie nicht mehr umfahren, sie mussten selbst darauf achten, zwischen den Rädern, den Ketten oder den stampfenden mechanischen Füßen zu bleiben. Wer dabei nicht ums Leben kam, musste damit rechnen, von Eisblöcken erschlagen zu werden. Rachmika beobachtete mit einer Mischung aus Grauen und Mitgefühl, wie ganze Gruppen unter dem riesigen Wagenzug verschwanden. Sie konnte nicht sehen, ob sie auf der anderen Seite wieder auftauchten, und sie bezweifelte, dass die Karawane anhalten würde, wenn es einen Unfall gäbe.
Irgendwann machte die Schlucht eine leichte Biegung nach rechts, der Blick auf die Landschaft war minutenlang versperrt. Und dann blieb ihr fast das Herz stehen, denn die Landschaft war einfach verschwunden. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich an die weißen Gipfel in der Ferne gewöhnt hatte. Es ging jetzt steil nach unten, und der schwarze Himmel hing viel tiefer herab als zuvor, wie ein Vorhang, der sich verheddert hatte und sich nun zu voller Länge entfaltete. Die Schwärze fraß sich förmlich in das Land hinein.
Die Straße verließ die Schlucht und führte auf ein Sims an einer Seite der Ginnungagap-Spalte. Zur Linken ragte die Felswand senkrecht auf; rechts war nur Leere. Die Straße war gerade so breit, dass die zwei Fahrzeuge des Zuges nebeneinander fahren konnten, wobei die rechten Wagen mit der Außenseite niemals mehr als zwei oder drei Meter von der Kante entfernt waren. Rachmika schaute zurück auf den langen bunten Wurm, der sich zum ersten Mal in seiner vollen Pracht zeigte: Räder, Ketten, Reifen, kolbengetriebene Beine und gegliederte Panzersegmente tasteten sich vorsichtig an der Kante entlang. Bei jedem falschen Tritt, jeder ungeschickten Berührung stürzten Tonnen von Eis in die Tiefe. Die einzelnen Fahrzeugführer steuerten, was das Zeug hielt, um die Mitte zwischen den Extremen zu halten und weder links an die Wand zu stoßen, noch rechts in die Tiefe zu stürzen. Langsamer durften sie nicht werden, denn die Abkürzung war ja nur genommen worden, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Rachmika fragte sich, was wohl mit dem Rest der Karawane geschähe, wenn ein Element sich verschätzte und abstürzte? Sie hatte die Verbindungen zwischen den einzelnen Fahrzeugen gesehen, wusste aber nicht, wie stabil sie waren. Würde der eine Unglückswagen alle anderen mitreißen oder tapfer alleine in den Tod stürzen, sodass die Lücke wieder geschlossen werden konnte? Gab es womöglich irgendeinen Katastrophenplan, der in solchen Fällen zum Tragen kam? Hatte man gar schon im Voraus die Verbindungen gelockert?
Immerhin befand sie sich ganz vorne. Wenn sie irgendwo sicher war, dann doch wohl hier, wo die Navigatoren das Gelände am besten überblicken konnten.
Als mehrere Minuten vergingen, ohne dass sich ein Unglück ereignete, wurde sie ruhiger. Zum ersten Mal widmete sie ihre Aufmerksamkeit der Brücke, die schon die ganze Zeit vor ihnen aufragte.
Die Karawane bewegte sich an der Ostflanke der Ginnungagap-Spalte südwärts auf den Äquator zu. Die Brücke lag noch ein ganzes Stück weiter südlich. Vielleicht war es nur Einbildung, aber Rachmika glaubte, die Krümmung der Welt erkennen zu können, wenn sie an der hohen Wand entlang in die Ferne schaute. Die Oberkante war unregelmäßig gezackt, aber wenn sie die Unebenheiten im Geiste ausblendete, schien sie einen sanften Bogen zu beschreiben wie die Bahn eines Satelliten. Wie weit die Brücke entfernt oder wie breit an dieser Stelle die Spalte war, ließ sich schwer schätzen. Rachmika erinnerte sich zwar, dass die Spalte dort, wo die Brücke sie überspannte, eine Breite von vierzig Kilometern hatte, aber die Gesetze der Perspektive galten hier einfach nicht: Es gab keine visuellen Anhaltspunkte, keine Objekte dazwischen, die ein Gefühl für die abnehmende Größe vermitteln konnten; und keine Atmosphäre, die Einzelheiten getrübt oder Farben gedämpft hätte. Die Brücke und die gegenüberliegende Wand wirkten riesig und weit entfernt, aber sie mochten ebenso gut fünf Kilometer wie vierzig Kilometer entfernt sein.
Rachmika schätzte den Abstand zur Brücke immer noch auf fünfzig bis sechzig Kilometer Luftlinie – mehr als zwei Hundertstel von Helas Umfang –, aber die Straße auf dem Sims hatte unzählige Kurven und Windungen, und so konnten leicht noch hundert Kilometer Fahrt vor ihnen liegen, bevor sie die Auffahrt zur Ostseite erreichten.
Immerhin war die Brücke jetzt zu sehen – und sie entsprach ganz und gar ihren Vorstellungen. Alle Welt behauptete, keine Fotografie könne das Bauwerk auch nur annähernd wiedergeben. Rachmika hatte das immer bezweifelt, doch jetzt sah sie ein, dass die Meinung der Öffentlichkeit richtig war: Um die Brücke würdigen zu können, musste man sie mit eigenen Augen sehen.
Was die Menschen an der Brücke am meisten bestürzte, war gerade, dass sie nicht fremdartig war. Wenn man die Größe und das seltsame Material außer Acht ließ, hätte sie aus irgendeiner Epoche der Menschheitsgeschichte hierher versetzt worden sein können, ein Bauwerk der Erde vielleicht, aus dem Zeitalter des Stahls und der Dampfmaschine. Der Anblick ließ Bilder von Laternen und Pferden aufsteigen, von Duellen und feurigen Liebhabern, von Winterpalästen und Wasserspielen – nur war sie riesengroß und sah aus, als wäre sie aus Glas geblasen oder aus Zucker gezogen.
Der Brückenkörper schwang sich in sanftem Bogen von einer Seite der Spalte zur anderen. Der höchste Punkt befand sich in der Mitte. Davon abgesehen war sie vollkommen flach und hatte keinerlei Aufbauten. Es gab keine Geländer zu beiden Seiten der atemberaubend schmalen Fahrbahn – die für Rachmika von hier aus wie eine dünne blitzende Messerklinge aussah. An einigen Stellen schien sie Sprünge zu haben, bis sie den Kopf ein wenig drehte und der Lichteinfall sich veränderte. Das zarte Gebilde war fünfzig Kilometer entfernt, und doch konnte sie mit einer Kopfbewegung beeinflussen, was sie davon sah! Der Brückenbogen war tatsächlich zum größten Teil frei schwebend, doch an beiden Enden zogen sich filigrane Stützen auf eine Breite von fünf oder sechs Kilometern von den Wänden nach innen. Sie bestanden aus kitschigen Spiralen und Kringeln, fleischigen Schnörkeln und organisch wirkenden Voluten, die das Licht einfingen und in alle Regenbogenfarben zerlegten, bevor sie es zu ihr zurückwarfen. Mit jeder Kopfbewegung fügten sich die Farben zu einer neuen wundervollen Komposition.
Die Brücke wirkte so luftig, als könnte ein zu heftiger Atemzug sie davonblasen.
Und dieses fragil wirkende Ding sollten sie überqueren.