Hela

2615

 

 

Quaiche hatte die Umlaufbahn verlassen und spürte, wie sein Gewicht anwuchs, als die Tochter abbremste. Nun betrug die Geschwindigkeit nur noch wenige tausend Stundenkilometer. Hela schwoll an, das zerklüftete Gelände kam ihm entgegen. Das Radarecho – die Metallsignatur – war noch da. Die Brücke auch.

Quaiche hatte sich vorgenommen, nicht geradewegs auf das Bauwerk zuzustürzen, sondern sich in immer enger werdenden Spiralen zu nähern. Schon bei der ersten Runde, noch tausende von Kilometern über Helas Oberfläche, hatte er dem Anblick kaum noch widerstehen können. Es juckte ihn in den Fingern, das Rätsel zu lösen. Aus dem All war der Riss nur als Veränderung in der Albedo zu sehen gewesen, eine dunkle Narbe, die sich über die Welt zog. Nun war, besonders mit den Vergrößerungskameras, auch seine Tiefe zu erkennen. Die Schramme war nicht gleichmäßig; an manchen Stellen fielen die Seiten zum Talgrund hin sanft ab, dann wieder ragten vereiste Felsschichten kilometerhoch senkrecht auf, abweisend und glatt wie Granit oder grau glänzend wie feuchter Schiefer. Der Talboden war manchmal flach wie ein trockener Salzsee, dann wieder ein brüchiges Mosaik aus verkanteten und übereinander geschobenen Eisschollen, getrennt durch haarfeine, tief schwarze Rillen. Je näher er kam, desto mehr ähnelte das Ganze einem unfertigen Puzzle, das ein Gott in blinder Wut von sich geschleudert hatte.

Er kontrollierte den Radarschirm im Minutenabstand. Das Echo war noch da, und die Tochter hatte nichts entdeckt, was auf einen bevorstehenden Angriff schließen ließ. Vielleicht war es doch nur ein Stück Schrott. Auch das wäre beunruhigend, denn es hieße, dass jemand vor ihm so nahe an der Brücke gewesen sein musste, ohne es für nötig zu halten, jemand anderem davon zu berichten. Oder derjenige war einem Unglück zum Opfer gefallen, bevor er seinen Bericht absetzen konnte. Unter dem Strich war die eine Alternative so unerfreulich wie die andere.

Als er die erste Runde vollendet hatte, war seine Geschwindigkeit auf fünfhundert Meter pro Sekunde gefallen. Er war der Oberfläche nahe genug, um die Struktur des Bodens, den Wechsel zwischen zerklüftetem Hochland und flachen Ebenen zu erkennen. Der Mond bestand nicht nur aus Eis; das Innere war zumeist felsig, und in und auf der Eisschicht fand sich Geröll in großen Mengen. Schlafende Vulkane schickten Aschewolken aus. Hänge aus feinstem Sand wechselten sich ab mit scharfkantigen Felsblöcken so groß wie Habitats im Weltraum; einige hatten das Eis durchstoßen und ragten schräg nach oben wie die Hecks sinkender Schiffe; andere saßen an der Oberfläche wie riesige Skulpturen, die sich nach einer Seite neigten.

Die Schubdüsen der Tochter zündeten ständig, um Helas Schwerkraft entgegenzuwirken. Quaiche sank langsam tiefer und schob sich näher an den Riss heran. Über ihm brütete, eine schwarze Kugel mit nur einem schmalen beleuchteten Streifen, Haldora. Quaiche wandte sich kurz dem Gasriesen zu und beobachtete amüsiert die Gewitterstürme, die mit grellen Blitzen über sein dunkles Antlitz tobten. Lichtbögen schlängelten sich faszinierend langsam wie voll gefressene Aale über die Oberfläche.

Hela bekam im Moment noch Licht von der Sonne des Systems, aber bald würde es auf seiner Bahn um Haldora in den Schatten des Planeten eintreten. Ein Glück, dachte Quaiche, dass die Echoquelle auf dieser Seite des Mondes lag und ihm das beeindruckende Schauspiel des alles beherrschenden Gasriesen beschert hatte. Wäre er später im Rotationszyklus eingetroffen, dann hätte sich der Riss natürlich auf der von Haldora abgewandten Seite befunden. Einhundertsechzig Tage früher oder später, und er hätte diesen überwältigenden Anblick verpasst.

Wieder zuckte ein Blitz auf. Nur ungern wandte Quaiche sich wieder Hela zu.

Er überflog soeben die Kante der Ginnungagap-Spalte. Hier ging es erschreckend steil in die Tiefe. Obwohl die Schwerkraft nur ein Viertel Ge betrug, war der Höhenschwindel ebenso stark wie auf einer schwereren Welt. Das war auch sinnvoll, denn ein Sturz in die Spalte wäre selbst hier noch tödlich gewesen. Obendrein gab es keine Atmosphäre, die ein fallendes Objekt abgebremst hätte, keine Grenzgeschwindigkeit, die zumindest eine schwache Chance offen ließe, einen Unfall zu überleben.

Egal. Die Tochter hatte ihn noch nie im Stich gelassen, warum sollte sie gerade jetzt damit anfangen? Er konzentrierte sich auf das Bauwerk, das er näher untersuchen wollte, und ließ das Schiff bis unter die interpolierte Bodenhöhe sinken.

Dann wendete er und flog der Länge nach durch die Spalte. Er war auf seiner Seite ein bis zwei Kilometer weit nach innen abgetrieben worden, aber die andere Wand wirkte dadurch nicht näher. Die Wände waren nicht überall gleich weit voneinander entfernt, aber hier am Äquator war die Spalte überall mindestens fünfunddreißig Kilometer breit. An der flachsten Stelle hatte sie eine Tiefe von fünf bis sechs Kilometern, und an den steilsten und engsten Strecken fiel der Talboden bis auf zehn oder elf Kilometer ab. Ein verdammt tiefer Riss in der Mondkruste. Quaiche fühlte sich zunehmend unwohl. Er hatte das Gefühl, in einer Bügelfalle zu stecken, die gleich zuschnappen würde.

Er sah auf die Uhr: Noch vier Stunden, bis die Dominatrix von der anderen Seite von Haldora wieder auftauchte. Vier Stunden waren eine lange Zeit; bis dahin sollte er längst auf dem Rückweg sein.

»Durchhalten, Mor«, sagte er. »Bald ist es vorbei.«

Sie konnte ihn natürlich nicht hören.

Er war südlich vom Äquator in die Spalte eingeflogen und strebte nun der nördlichen Hemisphäre zu. Unter ihm floss der zerklüftete Boden träge dahin. Vor der fernen Wand war die Schiffsbewegung kaum wahrzunehmen, aber die nähere Wand raste so schnell vorüber, dass er doch einen gewissen Eindruck von seiner Geschwindigkeit bekam. Gelegentlich verlor er das Gefühl für die Dimensionen, und die Spalte erschien ihm längst nicht mehr so groß. Solche Momente waren gefährlich. Gerade wenn eine fremde Landschaft anfing, vertraut, anheimelnd und beherrschbar zu wirken, kam gewöhnlich der tödliche Schlag.

Plötzlich stieg zwischen den Wänden die Brücke über den Horizont. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Jetzt war endgültig kein Zweifel mehr möglich: Sie war ein künstliches Bauwerk, aus dünnen, glänzenden Fäden gesponnen. Er wünschte, Morwenna wäre hier und könnte sie sehen.

Er zeichnete alles auf, während Kilometer über ihm die Brücke immer näher kam: ein geschwungener Bogen, auf beiden Seiten über eine verwirrend komplizierte, filigrane Stützkonstruktion mit den Wänden verbunden. Kein Grund, noch länger zu verweilen. Wenn er den Bogen einmal durchflog, müsste das genügen, um Jasmina zu überzeugen. Wenn sie wollte, konnte sie ja später mit leistungsfähigeren Geräten zurückkommen.

Quaiche blickte staunend nach oben, als er den Bogen passierte. Die Fahrbahn – wie sonst sollte er es nennen? – zeichnete sich schwach leuchtend vor dem finsteren Gasriesen ab und teilte Haldoras Antlitz wie ein dünnes, milchig weißes Band in zwei Hälften. Wie mochte es wohl sein, sie zu Fuß zu überqueren?

Die Tochter scherte so heftig aus, dass rote Schleier seinen Blick trübten.

»Was…?«, begann Quaiche.

Die Frage erübrigte sich: Die Tochter tat genau das, was sie sollte: Sie flog ein Ausweichmanöver. Er wurde angegriffen. Quaiche verlor das Bewusstsein, kam wieder zu sich, tauchte abermals weg. Die Landschaft raste an ihm vorbei. Grelle Lichtstöße blendeten ihn – der Widerschein der Steuerdüsen. Wieder ein Blackout und für einen Moment zurück ins Bewusstsein. Ein Rauschen in den Ohren. Er sah die Brücke aus verschiedenen Blickwinkeln, kurze, zusammenhanglose Einzelbilder, durcheinander geratene Schnappschüsse. Von unten. Von oben. Wieder von unten. Die Tochter suchte nach einer Deckung.

Hier stimmte etwas nicht. Sie hätte senkrecht abheben müssen, auf der Stelle und ohne lange zu fragen. Ihre Aufgabe war es, ihn bei jeder denkbaren Gefahr so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Dieses Zaudern – diese Unschlüssigkeit – passte ganz und gar nicht zu ihr.

Es sei denn, sie wäre in die Enge getrieben und könnte keinen Fluchtweg finden.

In einem lichten Moment sah er das Situationsdisplay auf der Konsole. Er wurde von drei feindlichen Objekten beschossen. Sie waren aus Spalten im Eis aufgetaucht, drei neue metallische Echos, die mit dem ersten nichts zu tun hatten.

Die Räubertochter schüttelte sich wie ein nasser Hund. Quaiche sah die Abgasfahnen seiner eigenen Miniaturraketen vorbeirasen, sie flogen auf Zickzack- und Korkenzieherbahnen, um nicht von den im Eis vergrabenen Wachposten getroffen zu werden. Wieder schwanden ihm die Sinne. Als er diesmal zu sich kam, sah er eine kleine Lawine über eine Klippenwand kriechen. Einer der Angreifer war außer Gefecht gesetzt: Mindestens eine seiner Raketen hatte ihr Ziel gefunden.

Die Konsole flackerte. Der Rumpf wurde tief schwarz. Als er wieder klar wurde und die Konsole sich stabilisierte, leuchteten überall in feuerroten lateinischen Lettern Warnungen auf. Ein schwerer Treffer.

Wieder erbebte das Schiff, wieder raste ein Schwarm Raketen davon, winzige, daumengroße Antimateriegeschosse mit einer Sprengwirkung im Kilotonnenbereich.

Die nächste Ohnmacht. Und beim Aufwachen das Gefühl zu stürzen.

Noch eine kleine Lawine; noch ein Angreifer weniger auf dem Display. Einer der Wachposten war immer noch aktiv, und er hatte nichts mehr, womit er sich wehren konnte. Aber der Posten feuerte nicht. Vielleicht war er beschädigt – vielleicht musste er auch nur nachladen.

Die Tochter versank in einem Strudel von Wahlmöglichkeiten und konnte sich nicht entscheiden.

»Übernehme Kommando«, erklärte Quaiche. »Bring mich hier raus.«

Prompt und mit voller Wucht setzte die Beschleunigung ein. Wieder legten sich rote Schleier vor seine Augen. Aber diesmal blieb er bei Bewusstsein. Das Schiff bemühte sich, ihn so lange wie möglich wach zu halten, indem es verhinderte, dass ihm das Blut in den Beinen versackte.

Die Landschaft blieb unter ihm zurück. Nun sah er die Brücke von oben.

Wieder ein Treffer. Für einen winzigen Moment setzte der Schub aus, das kleine Schiff rannte wie gegen eine Wand. Die Räubertochter bemühte sich, die Triebwerke wieder anzuwerfen, aber irgendetwas – ein wichtiges Antriebssystem – musste schwer beschädigt sein.

Die Landschaft hing reglos unter ihm. Und kam wieder näher.

Er stürzte ab.

Und alles wurde schwarz um ihn.

 

Quaiche verlor immer wieder das Bewusstsein, während er schräg auf die senkrechte Wand der Spalte zufiel. Er fand sich damit ab, dass dies das Ende war. Gleich würde er gegen diese schroffe Wand geklatscht werden und in einem Funkenschauer aufgehen. Doch im allerletzten Moment keuchte die Tochter einen Schubstoß heraus und dämpfte die Wucht des Aufpralls.

Obwohl sich auch der Rumpf verformte, um die Kräfte abzufangen, war es schlimm genug. Die Klippe drehte sich rasend schnell: Wand, Horizont, dann eine flache Decke, die auf ihn herabzustürzen drohte. Quaiche wurde ohnmächtig, kam zu sich, wurde wieder ohnmächtig. In der Ferne machte die Brücke die Drehung mit. Wo seine Raketen die Wachposten abgeschossen hatten, rülpsten die Lawinen an den Felswänden immer noch Eis – und Schuttwolken aus.

Und Quaiche und sein Edelsteinschiffchen purzelten weiter dem Boden der Spalte zu.

Offenbarung
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