Fünfunddreißig

Hela

2727

 

 

Der Dekan hatte Rachmika in sein Turmzimmer rufen lassen. Als sie eintrat, sah sie erleichtert, dass er allein war. Der Generalmedikus war nicht zu sehen. Sie war nicht gern in Gesellschaft des Dekans, aber die falsche Freundlichkeit seines Leibarztes war ihr noch weniger geheuer. Im Geiste sah sie ihn irgendwo in der Morwenna herumschleichen und sich mit seinem Blutzoll oder einer der unsäglichen Praktiken beschäftigen, die man ihm nachsagte.

»Haben Sie es sich bequem gemacht?«, fragte der Dekan, als sie ihren Platz inmitten des Spiegelwaldes einnahm. »Ich hoffe es doch sehr. Ich bin sehr beeindruckt von Ihrem Scharfsinn, Miss Els. Es war ein brillanter Einfall von Grelier, Sie hierher bringen zu lassen.«

»Schön, dass ich Ihnen behilflich sein konnte«, sagte Rachmika. Sie goss sich einen Schluck Tee ein. Die Tasse zitterte in ihren Händen. Sie wollte nichts trinken – schon der Gedanke, dass sich der Eherne Panzer mit ihr in einem Raum befand, stellte ihre Nerven auf eine harte Probe –, aber sie musste wenigstens den Anschein von Ruhe bewahren.

»Ein echter Glücksfall«, sagte Quaiche. Er lag fast reglos in seinem Stuhl, nur seine Lippen bewegten sich. Im Turmzimmer war es kälter als sonst, und bei jedem Wort hing ihm der Atem wie eine weiße Wolke vor dem Mund. »Fast schon zu viel Glück.«

»Wie darf ich das verstehen, Dekan?«

»Sehen Sie sich das Malachitkästchen an«, sagte er. »Es steht auf dem Tisch neben dem Teegeschirr.«

Rachmika war das Kästchen bisher nicht aufgefallen, aber sie war sicher, dass es bisher nicht da gewesen war, wenn sie das Turmzimmer besuchte. Es stand auf kleinen Füßen, die wie Hundepfoten aussahen. Sie nahm es in die Hand. Es war leichter als erwartet. Sie nestelte an den goldglänzenden Metallverschlüssen herum, bis der Deckel aufsprang. Drinnen befanden sich viele Papiere: Blätter und Umschläge in allen Farben und Sorten, ordentlich mit einem Gummiband zusammengehalten .

»Öffnen Sie sie nur«, sagte der Dekan, »und werfen Sie einen Blick hinein.«

Sie nahm das Bündel heraus und zog das Gummiband ab. Die Papiere ergossen sich über den Tisch. Sie zog willkürlich ein Blatt heraus und entfaltete es. Es war blassblau und so dünn und durchscheinend, dass es nur auf einer Seite beschrieben war. Die gleichmäßigen Buchstaben waren ihr schon von hinten bekannt vorgekommen. Als sie das Blatt nun umdrehte, sah sie, dass die dunkelviolette Schrift ihre eigene war: kindlich noch, aber unverwechselbar.

»Das ist meine Korrespondenz«, sagte sie. »Meine Briefe an die archäologische Forschungsgruppe der Kirche.«

»Sind Sie erstaunt, sie hier wieder zu finden?«

»Ich bin erstaunt, dass man sie gesammelt und Ihnen vorgelegt hat«, sagte Rachmika. »Dass es möglich war, überrascht mich nicht. Sie waren immerhin an eine Organisation der adventistischen Kirche gerichtet.«

»Sind Sie jetzt empört?«

»Das kommt darauf an.« Sie war empört, aber das war nicht ihre einzige Empfindung. »Hat diese Briefe überhaupt jemals ein Vertreter der Forschungsgruppe zu Gesicht bekommen?«

»Die ersten schon«, antwortete Quaiche. »Doch fast alle anderen wurden abgefangen, bevor sie einen der Forscher erreichten. Das ging nicht gegen Sie persönlich: Die Leute erhalten ohnehin genügend Spinnerpost; wenn sie alles beantworten müssten, kämen sie nicht mehr zu ihrer Arbeit.«

»Ich bin kein Spinner«, sagte Rachmika.

»Nein, aber diese Briefe zeigen, dass Sie in der Flitzerfrage eine ziemlich unorthodoxe Position vertreten, nicht wahr?«

»Wenn Sie die Wahrheit für unorthodox halten?«, gab Rachmika zurück.

»Sie sind nicht die Einzige. Die Forschungsteams erhalten viele Briefe von wohl meinenden Amateurforschern. Meistens sind sie vollkommen wertlos. Jeder hat seine eigene kleine Lieblingstheorie über die Flitzer, aber leider hat keiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung von wissenschaftlicher Methodik.«

»So in etwa denke ich über die Forschungsteams«, sagte Rachmika.

Er lachte. Ihre Dreistigkeit gefiel ihm. »Von Selbstzweifeln sind Sie nicht angekränkelt, Miss Els, nicht wahr?«

Sie schob die Papiere zu einem unordentlichen Stapel zusammen und stopfte sie in den Kasten zurück. »Ich habe damit gegen kein Gesetz verstoßen«, sagte sie. »Ich habe Ihnen von meiner Korrespondenz nur deshalb nichts erzählt, weil Sie mich nicht danach gefragt haben.«

»Niemand behauptet, Sie hätten irgendwelche Vergehen oder Verbrechen begangen. Ihre Briefe haben nur meine Neugier geweckt. Ich habe sie gelesen und mitverfolgt, wie ihre Argumente im Lauf der Zeit immer reifer wurden. Einige der Punkte, die Sie ansprechen, halte ich sogar für durchaus erwägenswert.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Rachmika.

»Nicht so spitz. Ich meine es ernst.«

»Es ist Ihnen doch völlig gleichgültig, Dekan. Allen in der Kirche ist es gleichgültig. Wieso auch nicht? Ihre Lehre verbietet alle Erklärungen außer der, die in den Broschüren verbreitet wird.«

»Und die lautet?«, fragte er spöttisch.

»Die Flitzer sind ein unwichtiges Detail, und ihre Ausrottung steht mit den Haldora-Auslöschungen in keinem Zusammenhang. Wenn sie überhaupt eine theologische Funktion haben, dann sollen sie vor Vermessenheit warnen und das dringende Bedürfnis nach Erlösung unterstreichen.«

»Die Ausrottung einer Alien-Kultur ist doch heutzutage kein großes Rätsel mehr?«

»Hier ist etwas anderes vorgefallen«, sagte Rachmika. »Die Flitzer wurden nicht vom gleichen Schicksal ereilt wie die Amarantin oder eine der anderen erloschenen Zivilisationen.«

»Das ist der Kern Ihrer Einwände?«

»Ich denke, es wäre besser, wenn wir wüssten, was wirklich geschah.« Sie klopfte mit den Fingernägeln auf den Deckel des Kästchens. »Sie wurden ausgelöscht, aber die Katastrophe trägt nicht den Stempel der Unterdrücker. Wer immer das getan hat, hinterließ zu viele Spuren.«

»Vielleicht hatten die Unterdrücker es eilig. Vielleicht ging es ihnen nur darum, die Flitzer zu vernichten, die Artefakte ihrer Kultur interessierten sie nicht.«

»Das ist nicht ihre Art. Ich weiß, wie sie mit den Amarantin verfahren sind. Auf Resurgam hat nichts überlebt, was nicht unter meterdickem Fels begraben worden war. Ich weiß, wie es war, Dekan: Ich war dort.«

Er wandte sich ihr zu. Sein Lidspreizer blitzte auf. »Sie waren dort?«

»Ich meine«, verbesserte sie sich hastig, »ich habe so viel darüber gelesen und so lange darüber nachgedacht, als wäre ich dort gewesen.« Ein Schauer überlief sie: Hinterher ließ sich das Gesagte leicht entschärfen, aber als sie es aussprach, war sie fest überzeugt gewesen, es sei die Wahrheit.

»Das Problem ist«, sagte Quaiche, »wenn Sie die Unterdrücker als mögliche Zerstörer der Hela-Kultur ausschließen, müssen Sie einen anderen Schuldigen finden. Vom philosophischen Standpunkt aus sehen wir das hier nicht gerne.«

»Es mag keine elegante Lösung sein«, räumte sie ein, »aber wenn die Wahrheit einen zweiten – oder gar einen dritten -Urheber verlangt, dann sollten wir auch den Mut haben, die Beweise zu akzeptieren.«

»Und Sie haben sicherlich auch eine Vorstellung, wer dieser andere Schuldige sein könnte?«

Ihr Blick streifte unwillkürlich den verschweißten Raumanzug. Sie hatte nicht vorgehabt, sich ablenken zu lassen, und der Dekan hatte wahrscheinlich nichts bemerkt, aber sie ärgerte sich trotzdem. Warum konnte sie ihre eigenen Reaktionen nicht so gut beherrschen, wie sie die von anderen zu lesen verstand?

»Nein«, sagte sie. »Aber ich habe einen Verdacht.«

Der Stuhl des Dekans veränderte seine Stellung, und eine Welle von entsprechenden Bewegungen durchlief die Spiegel. »Als Grelier mir zum ersten Mal von Ihnen erzählte – weil er den Eindruck hatte, Sie könnten mir nützlich sein –, sagte er etwas von einem persönlichen Kreuzzug.«

»Tatsächlich?«

»Grelier hatte den Eindruck, es ginge dabei um Ihren Bruder. Ist das wahr?«

»Mein Bruder fand Arbeit bei den Kathedralen«, sagte sie.

»Und Sie wurden unruhig, weil Sie länger nicht von ihm gehört hatten, bekamen Angst um ihn, und beschlossen, ihm zu folgen. Das war doch die Geschichte?«

Er gab dem Wort ›Geschichte‹ eine Betonung, die ihr nicht gefiel. »Wieso sollte es nicht wahr sein?«

»Weil ich mich frage, wie weit es Ihnen tatsächlich um Ihren Bruder geht. War er wirklich der Grund für Ihre weite Reise, Rachmika, oder lieferte er nur den Vorwand und verhinderte den Eindruck, dass Sie eigentlich aus intellektueller Eitelkeit hierher kamen?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Ich glaube, Sie haben Ihren Bruder schon vor Jahren aufgegeben«, sagte der Dekan. »Im Herzen wussten sie, dass Sie ihn nicht wiedersehen würden. Tatsächlich ging es Ihnen um die Flitzer und Ihre Theorien dazu.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Dieses Bündel Briefe sagt etwas anderes. Es spricht von einer tief verwurzelten Zwangsvorstellung, die ganz und gar nicht zu einem Kind passt.«

»Ich bin Harbins wegen hier.«

Er sprach mit der ruhigen Eindringlichkeit eines Lateinlehrers, der auf eine grammatikalische Feinheit im Zeitengebrauch hinweist. »Sie sind meinetwegen hier, Rachmika. Sie sind mit der Absicht zum Weg gekommen, bis zur Spitze der Kathedralenregierung vorzudringen, weil Sie überzeugt waren, nur ich hätte die Antworten, die Sie suchten, nach denen Sie gierten wie eine Süchtige.«

»Ich habe mich nicht aufgedrängt«, sagte sie mit nicht geringerem Nachdruck. »Sie haben mich von der Eiserne Katharina holen lassen.«

»Sie hätten früher oder später auch selbst hierher gefunden. Sie sind wie ein Maulwurf, der sich an die Oberfläche gräbt. Sie hätten sich in einer der Forschungsgruppen nützlich gemacht und von dort Verbindungen zu mir geknüpft. Es hätte Monate oder auch Jahre dauern können. Grelier – sein schmutziges Herzchen sei gepriesen – hat den Gang der Dinge nur etwas beschleunigt.«

»Sie irren sich«, sagte sie. Ihre Hände zitterten. »Ich wollte nicht zu Ihnen. Ich wollte nicht hierher. Warum sollte mir das so viel bedeuten?«

»Weil Sie sich in den Kopf gesetzt haben, ich hätte gewisse Erkenntnisse«, sagte der Dekan. »Dinge, die etwas verändern könnten.«

Sie tastete nach dem Kästchen. »Das nehme ich mit«, sagte sie. »Es gehört schließlich mir.«

»Die Briefe gehören Ihnen. Aber Sie dürfen auch das Kästchen behalten.«

»Ist es jetzt vorbei?«

Er schien überrascht. »Vorbei, Miss Els?«

»Der Vertrag. Meine Anstellung.«

»Ich wüsste nicht, warum«, sagte er. »Ihren eigenen Worten zufolge waren Sie nicht verpflichtet, Ihr Interesse an den Flitzern zu erwähnen. Sie haben weder ein Verbrechen begangen noch mein Vertrauen missbraucht.«

Ihre schweißnassen Hände hinterließen Spuren auf dem Kästchen. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr gestatten würde, die verschollenen Briefe zu behalten: diese kindlich ernsthaften Botschaften ihres früheren Ichs. »Ich dachte, Sie wären verärgert«, sagte sie.

»Sie sind mir immer noch nützlich. Ich erwarte in Kürze weitere Ultras und wüsste gern, was Sie von ihnen halten. Ihre ganz persönlichen Eindrücke und Beobachtungen sind sehr wertvoll für mich, Miss Els. Ich würde gern weiter davon profitieren.«

Sie stand auf und drückte das Kästchen an sich. Das hörte sich an, als wäre die Audienz beendet. »Darf ich noch etwas fragen?«, stammelte sie.

»Ich habe Ihnen so viele Fragen gestellt. Warum also nicht auch umgekehrt?«

Sie zögerte. Während sie ihre Bitte aussprach, hatte sie noch vorgehabt, sich nach Harbin zu erkundigen. Der Dekan musste wissen, was mit ihm geschehen war: Selbst wenn er ihren Bruder nie zu Gesicht bekommen hätte, könnte er ohne großen Aufwand aus den Archiven der Kathedrale die Wahrheit ans Licht fördern. Doch als es jetzt so weit war und der Dekan ihr die Frage gestattet hatte, brachte sie nicht die Kraft auf, sie zu stellen. Nicht weil sie Angst vor der Antwort hatte. Sie ahnte bereits, wie die Wahrheit aussehen musste. Was sie fürchtete, war ihre eigene Reaktion, wenn sie ihr offenbart würde. Wenn sich nun herausstellte, dass Harbin ihr doch nicht so wichtig war, wie sie beteuert hatte? Wenn alles, was der Dekan sagte, richtig wäre und sie Harbin nur zum Vorwand für ihr eigentliches Anliegen genommen hätte? Könnte sie das ertragen?

Rachmika schluckte. Sie fühlte sich sehr jung und sehr allein. »Ich wollte fragen, ob Sie jemals von den Schatten gehört haben«, sagte sie.

Aber der Dekan antwortete nicht. Und sie begriff, dass er ihr keine Antwort versprochen hatte.

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