Hela

2727

 

 

Die Gespräche mit den Ultras wurden fortgesetzt. Rachmika saß dabei und beobachtete. Sie trank Tee und sah zu, wie ihr fragmentiertes Bild durch die Spiegel schwamm. Jede Stunde brachte sie der Absolutionsschlucht um mehr als einen Kilometer näher. Aber im Turmzimmer gab es keine Uhren, und so konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, wie viel Zeit jeweils verging.

Nach jedem Gespräch berichtete sie Quaiche, was sie zu sehen geglaubt hatte, wobei sie sich bemühte, nichts auszuschmücken, aber auch nichts zu übersehen, was wichtig sein könnte. Am Ende des dritten Gesprächs konnte sie in etwa einschätzen, worum es ging. Quaiche wollte, dass die Ultras eines ihrer Schiffe in einen niedrigen Orbit um Hela brachten und für ihn den Leibwächter spielten.

Was er eigentlich fürchtete, wusste sie nicht. Den Ultras gegenüber behauptete er, er wolle sich gegen andere Raumfahrergruppen schützen, er hätte in letzter Zeit mehrfach Anschläge vereitelt, die darauf abzielten, Hela unter Kontrolle zu bekommen und die adventistischen Behörden um ihren Vorrat an Flitzerfunden zu bringen. Wenn ein bewaffnetes Lichtschiff den Mond umkreiste, würden die Feinde es sich zweimal überlegen, ob sie sich in Helas Angelegenheiten einmischten. Die Ultras wiederum sollten mit Handelsprivilegien für das Risiko entschädigt werden, das sie eingingen, wenn mit ihrem kostbaren Schiff so dicht an die Welt heranflogen, die einst die Gnostische Himmelfahrt zerstört hatte. Rachmika konnte ihre Nervosität förmlich riechen: Obwohl sie immer nur in kleinen Fähren auf Hela landeten und die Lichtschiffe in sicherer Entfernung am Rand des Systems parkten, wollten sie keine Minute länger als nötig auf der Morwenna verbringen.

Rachmika hatte den Verdacht, dass Quaiche mehr wollte als nur Schutz. Sie war sicher, dass der Dekan ihr etwas verheimlichte. Aber das konnte sie nur ahnen, sein Gesicht verriet ihr nichts. Er war praktisch undurchschaubar, nicht nur, weil der mechanische Lidspreizer all die minimalen Ausdrucksveränderungen unterdrückte, auf die sie angewiesen war. Sein Gesicht war insgesamt von einer maskenhaften Starre, als wären die für die Steuerung der Muskeln zuständigen Nerven durchtrennt oder mit irgendeinem Gift gelähmt worden. Auch wenn sie ihn heimlich beobachtete, waren seine Züge leer. Seine Grimassen wirkten steif und übertrieben wie bei einer Handpuppe. Welche Ironie, dachte sie, dass ausgerechnet der Mann sie zu sich geholt hatte, damit sie für ihn in den Gesichtern der Menschen läse, während er sein eigenes Gesicht systematisch verschloss.

Endlich waren die Gespräche für diesen Tag zu Ende. Rachmika hatte Quaiche ihre Erkenntnisse mitgeteilt, und er hatte aufmerksam zugehört. Zu welchen Schlüssen er selbst gekommen war, behielt er für sich, aber er stellte ihre Beobachtungen kein einziges Mal infrage und widersprach auch nicht, sondern nickte nur eifrig und beteuerte, sie sei ihm eine große Hilfe gewesen.

Es stünden noch weitere Ultras auf der Warteliste, aber für heute sei es genug.

»Sie können jetzt gehen, Miss Els. Selbst wenn Sie die Kathedrale anschließend verlassen sollten, haben Sie mir einen großen Dienst erwiesen, und ich werde veranlassen, dass Sie angemessen entlohnt werden. Sagte ich nicht etwas von einer guten Stellung auf der Eiserne Katharina?«

»Ja, Dekan.«

»Das wäre eine Möglichkeit. Sie könnten aber auch in die Vigrid-Region zurückkehren. Sie haben dort Familie, nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie, doch in diesem Moment erschien ihr die eigene Familie plötzlich so fern und abstrakt, als sei sie ihr nur aus Erzählungen bekannt. Sie erinnerte sich an die Räume des Hauses, an die Gesichter und die Stimmen ihrer Eltern, aber die Erinnerungen waren dünn und durchsichtig wie die Facetten in den Glasfenstern.

»Sie könnten mit einem hübschen Bonus nach Hause kommen – sagen wir, fünftausend Öku. Wie hört sich das an?«

»Das wäre sehr großzügig«, antwortete sie.

»Die zweite Möglichkeit – die ich natürlich bevorzugen würde – wäre, dass Sie auf der Morwenna bleiben und mir auch weiterhin bei meinen Gesprächen mit den Ultras zur Seite stehen. Dafür würde ich Ihnen pro Arbeitstag zweitausend Öku bezahlen. Wenn wir die Brücke erreichen, hätten Sie doppelt so viel verdient, wie Sie mit nach Hause nehmen könnten, wenn Sie heute abreisten. Und auch damit müsste Ihr Arbeitsverhältnis noch nicht beendet sein. Ich kann Sie beschäftigen, solange Sie wollen. Rechnen Sie sich selbst aus, was da in einem Jahr zusammenkäme.«

»So viel kann ich gar nicht wert sein«, sagte sie.

»O doch, Miss Els. Haben Sie nicht gehört, was Grelier sagte? Nur ein Mensch unter tausend, vielleicht auch unter einer Million besitzt Ihre Rezeptivität. In meinen Augen sind Sie damit in jedem Fall zweitausend Öku pro Tag wert.«

»Und wenn mein Rat falsch ist?«, fragte sie. »Ich bin nur ein Mensch. Ich mache Fehler.«

»Sie werden keine Fehler machen«, erklärte er mit einer Überzeugung, die ihr unheimlich war. »Ich glaube nur an wenige Dinge, Rachmika, außer an Gott selbst. Aber an Sie glaube ich. Das Schicksal hat Sie in meine Kathedrale geführt. Sie sind geradezu ein Himmelsgeschenk, das nur ein Tor zurückweisen würde.«

»Ich fühle mich nicht wie ein Geschenk«, sagte sie.

»Wie fühlen Sie sich denn?«

Wie ein Racheengel, wollte sie schon sagen. Doch sie hielt sich zurück. »Ich fühle mich müde, weit weg von zu Hause, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Arbeiten Sie mit mir zusammen. Warten Sie ab, wie es läuft. Wenn es Ihnen nicht zusagt, können Sie immer noch gehen.«

»Ist das ein Versprechen, Dekan«

»Gott ist mein Zeuge.«

Sie konnte nicht erkennen, ob er log. Hinter Quaiche erhob sich Grelier mit knackenden Kniegelenken und fuhr sich mit der Hand durch die bläulich weißen Stoppeln. »Dann werde ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen«, sagte er. »Sie haben sich doch zum Bleiben entschlossen?«

»Vorerst ja«, sagte Rachmika.

»Gut. Richtige Wahl. Es wird Ihnen hier sicher gefallen. Der Dekan hat Recht. Es ist ein großes Glück, gerade zu dieser Zeit hier anzukommen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Willkommen auf der Morwenna.«

»Das war alles?«, fragte sie und schüttelte die Hand. »Keine Formalitäten? Kein Initiationsritual?«

»Nicht für Sie«, sagte Grelier. »Sie sind genau wie ich Spezialist auf einem weltlichen Gebiet, Miss Els, und wir würden nicht im Traum daran denken, Ihnen mit religiösem Gefasel den Verstand zu vernebeln.«

Sie sah Quaiche an. Sein Gesicht war unter der Metallbrille unergründlich wie eh und je. »Wohl kaum.«

»Da wäre nur eines«, sagte Grelier. »Ich muss Ihnen ein Quäntchen Blut abnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Sie wurde nervös. »Blut?«, fragte sie.

Grelier nickte. »Ausschließlich zu medizinischen Zwecken. Zurzeit sind besonders in der Vigrid- und in der Hyrrokkin-Region eine Reihe garstiger Erreger im Umlauf. Aber keine Sorge.« Er ging zu dem Medizinschrank an der Wand. »Ich brauche nur eine winzige Menge.«

Offenbarung
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