Hela
2727
Die Karawane schob sich vorsichtig durch Tunnel und über lächerlich schmale Simse. Der Weg schlängelte sich in vielen Windungen dahin, manchmal sogar gegen die Fahrtrichtung, sodass die hinteren Teile des Zuges vorwärts fuhren, die Maschinen an der Spitze aber wieder zurück.
In einer der Haarnadelkurven befand sich ein Teil der Karawane mit ihren stampfenden Motoren und Antriebssystemen sogar über dem anderen, sodass Rachmika von oben auf die Observatoren auf ihren Plattformen hinabschauen konnte.
Die Brücke wurde immer größer. Anfangs hatte sie ausgesehen wie ein filigraner, in allen Regenbogenfarben schillernder Kupferstich auf flachem schwarzem Hintergrund. Jetzt verfestigte sie sich langsam, wurde dreidimensional und wirkte leicht bedrohlich. Das war keine Fata Morgana, kein Trugbild des Lichtes und der Atmosphäre, sondern ein reales Objekt, und die Karawane gedachte allen Ernstes, es zu überqueren.
Rachmika fand die Dreidimensionalität beunruhigend und tröstlich zugleich. Die Brücke war jetzt mehr als nur ein Bündel von unendlich dünnen Linien, und obwohl viele ihrer Bauteile im Querschnitt immer noch sehr dünn waren, sahen sie von der Seite her nicht mehr ganz so zerbrechlich aus. Wenn sie sich selbst tragen konnte, würde sie auch die Karawane aushalten. Hoffentlich.
»Miss Els?«
Sie blickte sich um. Diesmal war es wirklich Quästor Jones. »Ja?«, sagte sie wenig begeistert.
»Bald sind wir auf der anderen Seite. Ich hatte Ihnen ein spektakuläres Erlebnis versprochen, nicht wahr?«
»Das ist richtig«, sagte sie. »Aber Sie haben mir noch nicht erklärt, Quästor, warum nicht jeder diese Abkürzung nimmt, wenn sie so gut ist, wie Sie behaupten.«
»Aberglaube«, sagte er, »verbunden mit übertriebener Vorsicht.«
»Übertriebene Vorsicht halte ich in Zusammenhang mit dieser Brücke durchaus für angebracht.«
»Sie haben doch nicht etwa Angst, Miss Els? Dazu besteht kein Anlass. Die Karawane wiegt insgesamt knapp fünfzigtausend Tonnen. Und das Gewicht verteilt sich naturgemäß über eine große Länge. Wir wollen schließlich nicht mit einer Kathedrale über die Brücke fahren. Das wäre nun wirklich Wahnwitz.«
»Wer käme schon auf eine solche Idee?«
»Niemand, der bei Verstand ist. Was beim letzten Mal passierte, sollte jeden abschrecken. Aber das braucht uns nun wirklich nicht zu kümmern. Die Brücke wird die Karawane tragen. Es wäre nicht das erste Mal. Ich hätte auch keine größeren Bedenken, sie jedes Mal zu benutzen, wenn wir uns vom Weg entfernen, aber die Wahrheit ist schlicht und einfach, dass uns das meistens nichts einbrächte. Sie haben selbst gesehen, wie mühsam die Anfahrt ist. In der Mehrzahl der Fälle würden wir mit der Brücke mehr Zeit verlieren als gewinnen. Diesmal ist es aus verschiedenen Gründen anders.« Der Quästor klatschte energisch in die Hände. »Kommen wir zur Sache. Ich konnte Ihnen eine Stelle in einem Räumtrupp beschaffen, der zu einer Adventistenkathedrale gehört.«
»Zur Morwenna?«
»Nein. Zur Eisernen Katharina, einer etwas kleineren Kathedrale. Jeder fängt einmal klein an. Wieso sind Sie überhaupt so erpicht darauf, auf der Morwenna zu arbeiten? Dekan Quaiche ist nicht immer ganz einfach. Der Dekan der Katharina ist ein guter Mann. Seine Sicherheitsbilanz ist ausgezeichnet, und er behandelt seine Leute ordentlich.«
Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht allzu deutlich zu zeigen. »Ich danke Ihnen, Quästor«, sagte sie. Sie hatte immer noch auf eine Anstellung in der Verwaltung gehofft, wo sie mit den Räumarbeiten nicht zu tun hätte. »Sie haben Recht. Es ist besser als gar nichts.«
»Die Katharina fährt mit der Hauptgruppe der Kathedralen von Westen her auf die Spalte zu. Wir treffen sie, nachdem wir die Brücke überquert haben, kurz bevor sie die Fahrt über die Teufelstreppe antritt. Sie können sich glücklich preisen, Miss Els. Nur wenige Menschen bekommen die Chance, die Absolutionsschlucht zweimal in einem Jahr zu überqueren, schon gar nicht innerhalb weniger Tage.«
»Ich weiß es zu schätzen.«
»Dennoch will ich noch einmal wiederholen, was ich Ihnen schon anfangs sagte: Die Arbeit ist schwierig, gefährlich und schlecht bezahlt.«
»Ich bin nicht wählerisch.«
»In diesem Fall werden Sie sich dem betreffenden Trupp anschließen, sobald wir den Weg erreichen. Machen Sie keine Dummheiten, dann kann Ihnen auch nichts passieren.«
»Ich werde es mir merken.«
Er legte den Finger an die Lippen und wandte sich zum Gehen, als hätte er anderswo zu tun, doch dann blieb er noch einmal stehen. Die Augen seines grünen Haustiers – es hatte die ganze Zeit auf seiner Schulter gesessen – waren wie zwei Pistolenläufe auf Rachmika gerichtet.
»Noch etwas, Miss Els«, sagte der Quästor und schaute über die Schulter.
»Ja?«
»Sie haben vor kurzem mit einem Herrn gesprochen?« Er musterte sie mit schmalen Augen. »Nun, ich kann Ihnen nur abraten…«
»Wovon?«
»Sich mit seinesgleichen einzulassen.« Der Quästor schaute zerstreut in die Ferne. »In der Regel empfiehlt es sich nicht, mit Observatoren oder anderen Pilgern einer ähnlich strengen Glaubensrichtung zu verkehren. Doch nach meiner Erfahrung ist es besonders unklug, mit Menschen Bekanntschaft zu schließen, die in ihrem Glauben wankend geworden sind.«
»Es ist aber doch wohl meine Sache, mit wem ich mich unterhalte?«
»Natürlich, Miss Els, bitte nehmen Sie mir die Warnung nicht übel. Sie entspringt einzig und allein der großen Güte meines Herzens.« Er steckte seinem Tierchen einen Krümel in den Mund. »Nicht wahr, Peppermint?«
»Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein«, erklärte das Geschöpf.
Die Karawane überwand die Auffahrt zur Ostseite der Brücke. Einen Kilometer vor dem Pfeiler bog die Straße in die Felswand hinein und führte durch einen engen Hohlpass mit scharfen Haarnadelkurven und tückischen Steigungen, der sie, kurz unterbrochen von Tunneln und offenen Simsen, auf die Höhe der Brückendecke brachte. Hinter ihnen lag die Landschaft wie eine unüberwindliche Eiswüste mit riesigen Blöcken. Vor ihnen erstreckte sich die Brückendecke wie eine perspektivische Zeichnung aus dem Bilderbuch, gerade wie ein Gewehrlauf, nach beiden Seiten hin offen, zur Mitte hin leicht aufgewölbt, schimmernd wie diamanthartes Eis im Sternenschein.
Sobald der Untergrund eben wurde und keine unmittelbaren Hindernisse mehr zu befürchten waren, steigerte die Karawane die Geschwindigkeit und raste auf den Punkt zu, wo der Boden zu beiden Seiten hin abfiel. Die Fahrbahn wurde glatter und breiter, es gab keine Furchen, keine Steinschläge und keine mannshohen Spalten mehr. Und es gab kaum noch Pilger, denen man ausweichen musste. Die meisten Pilger mieden die Brücke, und so war das Risiko, dass einer oder auch mehrere Unglückliche unter den Wagen zermalmt wurden, nur noch gering.
Rachmika musste ihre Einschätzung der Größe des Bauwerks mehrmals nach oben korrigieren. Sie erinnerte sich, dass der Brückenkörper von ferne einen leichten Bogen beschrieben hatte. Von hier aus erschien die Decke jedoch flach und eben wie mit einem Laser ausgerichtet, bis sie weit vorne im Nichts verschwand. Als sie versuchte, sich diesen Widerspruch zu erklären, wurde ihr fast schwindlig. Sie erkannte, dass sie im Moment wohl nur einen kleinen Teil der Decke sehen konnte. Es war wie beim Aufstieg auf einen Berg von der Form einer Halbkugel: Der Gipfel lag unterhalb der Sichtlinie.
Sie ging zu einem anderen Aussichtsfenster und schaute nach hinten. Das erste halbe Dutzend Fahrzeuge dieser Karawanenkolonne befand sich inzwischen auf der Brücke. Die schroffen Klippen blieben zurück, und sie konnte zum ersten Mal ermessen, wie tief die Spalte tatsächlich war.
Es ging erschreckend steil hinab. Die Geologie hatte mit titanischen Klauen ihre Spuren in die Klippenwände gegraben, senkrechte und waagrechte, schräge oder aufgerollte oder mit geradezu obszöner Geschmeidigkeit ineinander gefaltete Schichten waren zu sehen. An den Wänden glitzerte und funkelte blaugraues Eis zwischen dunkleren Streifen von Sedimentgestein. Das Sims, auf dem die Karawane gefahren war, lag nun zur Linken und erschien viel zu schmal und unsicher für eine Straße, besonders für einen Zug mit einem Gewicht von fünfzigtausend Tonnen. Jetzt sah Rachmika, dass sich die Klippe unter dem Sims oft beängstigend nach innen wölbte. Sie hatte sich auf der Fahrt nie ganz sicher gefühlt, war aber doch überzeugt gewesen, dass der Boden unter den Wagen mehr als ein paar Dutzend Meter dick wäre.
Der Quästor ließ sich nicht mehr sehen, solange sie auf der Brücke waren. Binnen einer Stunde schien die andere Seite der Spalte kaum noch weiter entfernt als die Seite, die hinter ihnen zurückblieb. Offenbar näherten sie sich der Mitte. Rachmika legte rasch, aber möglichst unauffällig ihren Druckanzug an und schlich auf das Dach des Wagens.
Von hier oben sah alles ganz anders aus. Im belüfteten Abteil war die Szene steril und fast etwas irreal gewesen. Jetzt konnte sie die gesamte Spalte überblicken, und auch der Boden, gut ein Dutzend Kilometer unter ihr, war besser zu erkennen. Von dieser Warte aus schien er vorwärts zu kriechen, während das flache Fahrbahnband hinter der Karawane zurückwich. Der Kontrast verursachte ihr prompt Schwindelgefühle, und sie hätte sich am liebsten mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf das Dach der Maschine gelegt, um nicht über den Rand fallen zu können. Doch sie beugte zwar die Knie, um ihren Schwerpunkt zu senken, nahm aber allen Mut zusammen und blieb aufrecht stehen.
Die Fahrbahn schien kaum breiter zu sein als die Karawane selbst. Sie fuhren genau in der Mitte, nur gelegentlich schwenkten sie nach der Seite aus, um einer Stelle mit dickerem Eis oder einem anderen Hindernis auszuweichen. Auf der gefrorenen Oberfläche lagen Felsbrocken, die irgendwo auf Hela aus einem Vulkan ausgeschleudert worden waren. Einige waren halb so hoch wie die Räder der Karawane. Rachmika betrachtete es als gutes Omen, dass diese Kolosse die Brücke beim Aufschlag nicht zerschmettert hatten. Und wenn die Fahrbahn gerade breit genug war für zwei Reihen von Karawanenfahrzeugen, dann war die Vorstellung, eine Kathedrale könnte das gleiche Manöver durchführen, einfach absurd.
In diesem Augenblick entdeckte sie auf dem Boden der Spalte ein riesiges Schuttfeld, mehrere Kilometer breit, schwarz und sternenförmig. Soweit sie das bestimmen konnte, befand sich das Epizentrum des Flecks genau unter der Brücke. Unweit davon lagen etliche größere Bruchstücke. Rachmika glaubte, die Spitze eines schief stehenden Turms zu erkennen. Und unter einer Decke von Staub und Schutt zeichneten sich Maschinenteile ab.
Jemand hatte also doch versucht, die Brücke mit einer Kathedrale zu überqueren.
Den Blick starr nach vorne gerichtet, ging sie von einem Fahrzeug zum anderen. Dies war ihre ganz private Überquerung. Die Observatoren lagen noch auf ihren schrägen Plattformen und schauten zu Haldoras geschwollener Kugel auf. Mit ihren verspiegelten Visieren erinnerten sie an Dutzende von ordentlich verpackten Titaneiern.
Da bemerkte sie auf dem Dach des nächsten Wagens eine weitere Gestalt im Druckanzug, die an einer Seite am Geländer lehnte. Der andere wurde etwa zur gleichen Zeit auf sie aufmerksam, wandte sich ihr zu und winkte ihr.
Sie ging an den Observatoren vorbei und überquerte den schwankenden Verbindungssteg. In diesem Augenblick schwenkte die Karawane scharf aus, um zwischen zwei Steinschlägen hindurchzukommen, und holperte dann knirschend über eine Serie von kleineren Hindernissen.
Der Druckanzug ihres Gegenübers war von unauffälligem Schnitt. Rachmika wusste nicht, ob es der gleiche Typ war, den die Observatoren trugen, sie hatte nie unter ihre Kutten geschaut. Das verspiegelte Silbervisier verriet nichts.
»Pietr?«, fragte sie auf der allgemeinen Frequenz.
Sie bekam keine Antwort, aber die Gestalt winkte noch energischer.
Konnte das eine Falle sein? Der Quästor hatte von ihrem Gespräch mit dem jungen Mann erfahren. Deshalb war anzunehmen, dass er auch von dem ersten Stelldichein auf dem Dach wusste. Rachmika zweifelte nicht daran, dass sie sich im Zuge ihrer Ermittlungen Feinde machen würde, aber bisher hätte sie – vielleicht mit Ausnahme des Quästors – noch keinen zu nennen gewusst. Und der hatte, nachdem er ihr die Stellung im Räumungstrupp besorgt hatte, vermutlich ein persönliches Interesse daran, sie heil und gesund am Ewigen Weg abzuliefern.
Unter solchen Überlegungen näherte sie sich der Gestalt. Der Anzug war ein Hartschalenmodell, das an die Figur des Trägers angepasst war. Helm und Gliedmaßen waren olivgrün, die Faltenbälge an den Gelenken glänzten silbern. Anders als die Anzüge, die sie bei den Fußpilgern gesehen hatte, war er völlig schmucklos und frei von religiösem Firlefanz.
Das Visier wandte sich ihr zu. Hinter dem Glas spielten Lichtreflexe über ein Gesicht, sie sah die harten Schatten unter den prägnanten Wangenknochen.
Pietr streckte einen Arm aus, öffnete mit der anderen Hand eine Klappe über dem Handgelenk, wickelte eine dünne optische Faser ab und reichte Rachmika das Ende.
Natürlich. Sichere Kommunikation. Sie nahm die Faser und steckte sie in den entsprechenden Anschluss ihres Anzugs. Mit solchen Kabeln ließ sich bei Ausfall des Funkkontakts oder bei komplettem Netzwerkversagen eine Direktverbindung von Anzug zu Anzug herstellen. Und sie waren ideal für vertrauliche Gespräche.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte Pietr.
»Ich wüsste gern, wozu wir diese Mantel-und-Degen-Komödie spielen.«
»Man kann nie vorsichtig genug sein. Wir hätten besser gar nicht von den Auslöschungen gesprochen, zumindest nicht unten im Wagen. Glaubst du, dass uns jemand belauscht hat?«
»Nachdem du gegangen warst, kam der Quästor und warnte mich vor dir.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Pietr. »Er ist selbst nicht religiös, aber er weiß, wo seine Interessen liegen. Er steht im Sold der Kirchen, also möchte er nicht, dass irgendjemand mit unorthodoxen Gerüchten Verwirrung stiftet.«
»Du hast nun dich nun wirklich nicht für die Abschaffung der Kirchen ausgesprochen«, gab Rachmika zurück. »Soweit ich mich erinnere, haben wir uns nur über die Haldora-Auslöschungen unterhalten.«
»Schon das erachten gewisse Leute als gefährlich. Aber was sagst du zu dieser Aussicht – ist sie nicht grandios?« Pietr drehte sich einmal um sich selbst und unterstrich seine Aussage mit einer weit ausholenden Gebärde.
Rachmika lächelte über seine Begeisterung. »Ich weiß nicht recht. Ich schaue nicht so gern in die Tiefe.«
»Ach, komm schon. Vergiss die Auslöschungen, vergiss deine Nachforschungen – wonach auch immer –, und genieße diesen Blick. Hier wird dir etwas geboten, was Millionen von Menschen niemals zu sehen bekommen.«
»Ich komme mir vor wie ein Eindringling«, sagte Rachmika. »Als hätten die Flitzer diese Brücke gebaut, damit man sie bewundert, aber nicht, damit man sie benutzt.«
»Ich weiß nicht viel über die Flitzer. Ich meine, wir haben keine Ahnung, wie sie dachten, wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt die Erbauer waren. Aber die Brücke steht nun einmal, nicht wahr? Und es wäre doch ein Jammer, sie nicht wenigstens hin und wieder zu befahren.«
Rachmika schaute auf den sternförmigen Fleck hinab. »Ist es wahr, was mir der Quästor erzählte? Hat es tatsächlich einmal jemand mit einer Kathedrale versucht?«
»Es geht das Gerücht. Aber in den ökumenischen Aufzeichnungen wirst du kein Wort davon finden.«
Sie packte das Geländer fester und starrte weiter fasziniert in die Schlucht. »Aber es ist trotzdem wahr?«
»Es war eine Splittersekte«, sagte Pietr. »Eine abtrünnige Kirche mit einer kleinen Kathedrale. Sie nannten sich die Numeriker. Sie waren keiner der ökumenischen Organisationen angeschlossen und unterhielten auch kaum Handelsbeziehungen zu den anderen Kirchen. Ihr Glaube war – ungewöhnlich. Es ging ihnen nicht nur darum, sich von den Lehren der anderen Kirchen abzusetzen. Zum einen waren sie Polytheisten. Die meisten Kirchen sind streng monotheistisch und haben starke Bindungen an die alten Abrahamsreligionen. Ich nenne sie Feuer-und-Schwefel-Kirchen. Ein Gott, ein Himmel, eine Hölle. Aber die da unten diese Schweinerei angerichtet haben… sie gingen sehr viel weiter. Sie waren nicht die einzigen Polytheisten, aber ihre gesamte Weltsicht – ihre Kosmologie – war so radikal in ihrer Unorthodoxie, dass es zu keinem interökumenischen Dialog kommen konnte. Die Numeriker waren strenggläubige Mathematiker. Das Studium der Zahlen war für sie die höchste Berufung, der einzig mögliche Zugang zum Göttlichen. Sie glaubten, dass es für jede Zahlenklasse einen Gott gebe: den Gott der Ganzen Zahlen, den Gott der Realen Zahlen, den Gott der Null. Und es gab Untergötter: einen Gott der Irrationalen Zahlen, einen Gott der diophantinen Primzahlen. Den anderen war das unheimlich. Sie grenzten die Numeriker aus, und die wurden in ihrer Isolation mit der Zeit paranoid.«
»Was unter den Umständen nicht verwunderlich ist.«
»Aber das war noch nicht alles. Sie versuchten, die Auslöschungen mit einigen ziemlich obskuren Wahrscheinlichkeitstheorien statistisch zu erfassen. Das war nicht so einfach. Damals gab es noch nicht so viele Fälle, die Daten waren deshalb spärlicher – aber sie behaupteten, ihre Verfahren seien robust genug, um auch damit Ergebnisse zu erzielen. Und was sie entdeckten, war vernichtend.«
»Weiter«, drängte Rachmika. Jetzt verstand sie endlich, warum Pietr gewollt hatte, dass sie während der Überquerung auf das Dach kam.
»Sie behaupteten als Erste, dass sich die Auslöschungen häuften, doch das war statistisch schwer zu beweisen. Es gab bereits Einzelberichte, wonach die Fälle immer wieder geballt aufträten, aber jetzt, so behaupteten die Numeriker, würden die Zeiträume dazwischen immer kürzer. Weiterhin behaupteten sie, die Dauer der einzelnen Auslöschungen sei länger geworden, wobei sie einräumten, dass die Anhaltspunkte dafür statistisch weit weniger ›signifikant‹ seien.«
»Aber sie hatten Recht?«
Pietr nickte. Die gespiegelte Landschaft in seinem Helmvisier kippte nach vorn. »Zumindest mit der ersten Behauptung. Heute kommen selbst grobe statistische Verfahren zum gleichen Ergebnis. Die Auslöschungen werden eindeutig häufiger.«
»Und die zweite Behauptung?«
»Ist nicht bewiesen. Aber sie war auch mit all den neuen Daten nicht zu widerlegen.«
Wieder wagte Rachmika einen Blick auf den Fleck in der Tiefe. »Aber was ist dann passiert? Wieso sind sie da unten gelandet?«
»Das weiß niemand so genau. Wie gesagt, die Kirchen wollen nicht einmal zugeben, dass jemals eine Kathedrale den Übergang versucht hat. Wenn du etwas tiefer bohrst, wird man dir widerwillig zugestehen, dass die Numeriker einmal existierten – es gibt zum Beispiel Dokumente über die wenigen Handelsbeziehungen –, aber du wirst nirgendwo ein Wort darüber finden, dass sie jemals die Absolutionsschlucht überquert hätten.«
»Aber es ist doch die Wahrheit.«
»Versucht haben sie es. Warum, wird wohl niemand je erfahren. Vielleicht war es ein letzter Versuch, sich vor den Kirchen zu profilieren, die sie ausgeschlossen hatten. Vielleicht hatten sie eine Abkürzung ausgearbeitet, auf der sie die Hauptgruppe überholen konnten, ohne Haldora jemals aus dem Blick zu verlieren. Eigentlich spielt es keine Rolle. Sie hatten einen Grund, sie versuchten den Übergang, und sie sind gescheitert. Warum sie scheiterten, ist eine andere Frage.«
»Die Brücke ist jedenfalls nicht eingestürzt«, sagte Rachmika.
»Nein – sieht nicht danach aus. Die Kathedrale war, verglichen mit den Hauptkathedralen, eher klein. Die Absturzstelle zeigt, dass sie schon ziemlich weit gekommen waren, bevor sie abrutschten, die Brücke kann also auch nicht eingeknickt sein. Vermutlich war es einfach eine schwierige Gratwanderung. Die Kathedrale ragte auf beiden Seiten über die Fahrbahn hinaus, und irgendwo auf halbem Wege verloren sie für einen Moment die Kontrolle über die Steuerung. Und das war’s. Wer weiß?«
»Aber du hast noch einen anderen Verdacht.«
»Sie hatten sich mit ihren statistischen Untersuchungen nicht gerade beliebt gemacht. Ich sagte schon einmal, die anderen Kirchen wollen nicht wahrhaben, dass die Auslöschungen sich häufen, weißt du nicht mehr?«
»Weil sie nicht wollen, dass sich die Welt verändert?«
»So ist es. Sie sind sehr zufrieden damit, wie es jetzt ist. Man umrundet Hela, man beobachtet Haldora und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Flitzerfunden an den Rest der Menschheit. Für die Kirchenoberen gibt es keinen Grund zur Klage, vielen Dank. Sie wollen nicht, dass ihre schöne heile Welt durch Endzeitprophezeiungen in Unruhe versetzt wird.«
»Du glaubst also, jemand hätte die Kathedrale der Numeriker absichtlich zerstört.«
»Wie gesagt, du wirst es nicht beweisen können. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass es ein Unfall war. Kein Mensch behauptet, dass es ratsam ist, mit einer Kathedrale über die Absolutionsschlucht zu fahren.«
»Und trotzdem hast du deinen Glauben nicht verloren, Pietr?« Sie sah, wie seine Faust sich fester um das Geländer schloss.
»Ich halte die Auslöschungen für eine Botschaft in Krisenzeiten. Sie sind nicht nur ein stummer Ausdruck göttlicher Macht, wie die Kirchen behaupten – ein Wunder um eines Wunders willen –, sie bedeuten sehr viel mehr. Ich glaube, sie sind so etwas wie eine Countdownuhr, und die Stunde null ist viel näher, als die da oben zugeben wollen. Die Numeriker wussten es. Ob ich die Kirchen für vertrauenswürdig halte? Im Großen und Ganzen, mit einer oder zwei Ausnahmen, nein. Ich traue ihnen nicht weiter, als ich im Vakuum pissen kann. Aber meinen Glauben habe ich noch. Daran hat sich nichts geändert.«
Das klang aufrichtig, dachte Rachmika, aber solange sie sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte, war sie nicht ganz sicher.
»Aber da ist noch etwas, nicht wahr? Du sagtest doch, die Kirchen könnten unmöglich alle Beweise für die Veränderungen verschwinden lassen.«
»Richtig. Aber es gibt eine Anomalie.« Pietr ließ das Geländer für einen Moment los und drückte Rachmika etwas in die Hand. Es war ein kleiner Metallzylinder mit Schraubdeckel. »Das solltest du dir ansehen«, sagte er. »Es wird dich interessieren. Der Zylinder enthält ein Stück Papier mit einigen Zeichen darauf. Sie sind nicht kommentiert, denn dadurch würden sie noch gefährlicher, sollte jemand von oben erkennen, worum es sich handelt.«
»Etwas mehr wirst du mir aber doch erzählen müssen.«
»In Skull Cliff, wo ich herkomme, wohnte ein Mann mit Namen Saul Tempier. Ich kannte ihn. Er war ein alter Einsiedler, der in einem verlassenen Flitzerschacht am Rande der Stadt hauste. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit der Reparatur von Grabungsmaschinen. Er war nicht wahnsinnig oder gewalttätig oder auch nur besonders ungesellig; er kam nur nicht gut mit den anderen Dorfbewohnern aus, und deshalb ging er ihnen lieber aus dem Weg. Er war ein Ordnungsfanatiker, und die meisten Menschen fühlten sich in seiner Gegenwart nicht wohl. Frauen, Geliebte oder Freunde interessierten ihn nicht.«
»Und das hältst du für nicht besonders ungesellig?«
»Nun ja, er war nicht direkt grob oder unfreundlich. Er hielt sich sauber und hatte – soviel ich weiß – keine wirklich unappetitlichen Gewohnheiten. Wenn man ihn besuchte, kochte er Tee mit einem großen alten Samowar. Hin und wieder spielte er auf einer uralten Neuronallaute. Und er wollte immer wissen, was man von seinem Spiel hielt.« Rachmika sah unter dem Visier sein Lächeln aufblitzen. »Tatsächlich klang es furchtbar, aber ich brachte es nie übers Herz, ihm das zu sagen.«
»Woher kanntest du ihn?«
»Ich hatte den Maschinenpark instand zu halten. Die meisten Reparaturen machten wir selbst, aber wenn wir im Rückstand waren oder irgendetwas nicht richtig zum Laufen brachten, schaffte einer von uns das Gerät in Tempiers Grotte. Ich besuchte ihn vielleicht zwei- bis dreimal im Jahr, und das nicht ungern. Ich mochte den alten Spinner, obwohl er ein so jämmerlicher Lautenspieler war. Wie auch immer, Tempier wurde alt. Bei einer unserer letzten Begegnungen – vor etwa elf oder zwölf Jahren – sagte er, er wollte mir etwas zeigen. Ich wunderte mich, dass er so viel Vertrauen zu mir hatte.«
»Wieso?«, fragte Rachmika. »Ich finde, du bist ein Mensch, zu dem man leicht Vertrauen fasst, Pietr.«
»Soll das ein Kompliment sein?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann werde ich es einfach so auffassen. Wo war ich stehen geblieben.«
»Tempier sagte, er wollte dir etwas zeigen.«
»Es war das Stück Papier, das ich dir eben gegeben habe, genauer gesagt, ist dieses Papier eine genaue Kopie des Originals. Wie sich herausstellte, hatte Tempier fast sein ganzes Leben lang über die Auslöschungen Buch geführt. Er hatte auch Hintergrundwissen zusammengetragen – die öffentlichen Aufzeichnungen der Hauptkirchen miteinander verglichen und sogar mehrfach den Weg aufgesucht, um in den Archiven zu forschen, die sonst nicht zugänglich waren. Er war, wie gesagt, sehr fleißig und fanatisch ordentlich, und als ich seine Notizen sah, da war mir sofort klar, dass dies die beste private Dokumentation der Auslöschungen war, die ich je gesehen hatte. Ich bezweifle, dass es irgendwo auf Hela eine bessere Amateursammlung gibt. Zu jeder einzelnen Auslöschung gab es eine Riesenmenge Material – Notizen über Zeugen, ihre Glaubwürdigkeit und anderes mehr. Wenn am Tag zuvor ein Vulkan ausgebrochen war, hatte er auch das vermerkt. Jede Belanglosigkeit war festgehalten, solange sie irgendwie ungewöhnlich war.«
»Er hat also etwas entdeckt. War es das Gleiche wie bei den Numerikern?«
»Nein«, sagte Pietr. »Es war mehr. Tempier wusste genau, was die Numeriker behauptet hatten. Zwischen ihren Daten und seiner Sammlung gab es keinen Widerspruch. Er hielt es für offensichtlich, dass die Auslöschungen häufiger wurden.«
»Was hat er denn nun entdeckt?«
»Er fand heraus, dass die öffentlichen und die amtlichen Aufzeichnungen nicht ganz übereinstimmen.«
Rachmika war enttäuscht. Sie hatte mehr erwartet. »Na und?«, sagte sie. »Dass die Observatoren gelegentlich eine Auslöschung melden, die niemand sonst bemerkt hat, wundert mich nicht, besonders, wenn zugleich ein anderes Ereignis…«
»Du irrst dich«, sagte Pietr scharf. Zum ersten Mal klang seine Stimme gereizt. »Es ging nicht darum, dass die Kirchen eine Auslöschung gemeldet hätten, die niemand sonst bemerkt hatte. Ganz im Gegenteil. Acht Jahre zuvor – von heute aus gerechnet vor mehr als zwanzig Jahren – gab es eine Auslöschung, die nicht in die Kirchenarchive aufgenommen wurde. Verstehst du, was ich damit sagen will? Es kam zu einer Auslöschung, sie wurde von Privatpersonen wie Tempier beobachtet, aber die Kirchen behaupten, es wäre nichts geschehen.«
»Aber das ergibt keinen Sinn. Warum sollten die Kirchen eine Auslöschung aus den Akten streichen?«
»Genau die gleiche Frage hat sich Tempier gestellt.«
Der Ausflug auf das Dach war also doch nicht ganz umsonst gewesen. »Gab es bei dieser Auslöschung irgendetwas Ungewöhnliches, was erklären könnte, warum sie nicht in die offiziellen Unterlagen aufgenommen wurde. Etwas, das den üblichen Kriterien nicht ganz entsprach?«
»Zum Beispiel?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht war sie besonders kurz?«
»Interessanterweise war es – wenn Tempiers Notizen richtig sind – eine der längsten Auslöschungen, die jemals beobachtet wurden. Sie dauerte volle ein und ein Fünftel Sekunden.«
»Dann ist es vollkommen unbegreiflich. Was hält denn dieser Tempier davon?«
»Gute Frage«, sagte Pietr. »Aber so bald werden wir darauf keine Antwort bekommen. Saul Tempier ist nämlich leider tot. Er starb vor sieben Jahren.«
»Das tut mir Leid. Mir scheint, du hattest ihn gern. Aber du sagst ja selbst, er wurde alt.«
»Das stimmt, aber das hatte mit seinem Tod nichts zu tun. Er starb an einem Elektroschock, offenbar bei der Reparatur einer seiner Maschinen.«
»Nun gut.« Hoffentlich klang das nicht allzu herzlos. »Er war eben fahrlässig geworden.«
»Nicht Saul Tempier«, sagte Pietr. »Fahrlässigkeit war für diesen Mann ein Fremdwort. Das war ihr großer Fehler.«
Rachmika runzelte die Stirn. »Wer sind ›sie‹?«
»Seine Mörder«, sagte Pietr.
Lange standen sie schweigend da. Die Karawane überwand den höchsten Punkt der Brücke und machte sich an die lange flache Abfahrt zur anderen Seite der Spalte. Die Klippen rückten näher, die Falten und Risse der gemarterten Geologie traten deutlicher hervor. Zur Linken konnte Rachmika an der südwestlichen Klippenseite ein weiteres gewundenes Sims unterscheiden. Es wirkte wie mit Bleistift zaghaft an die Wand gestrichelt, eine Skizze, ein Vorläufer des eigentlichen Werks. Doch dies war das Sims, und wenn sie erst dort waren, hätten sie das Schlimmste überstanden. Die Brücke hätte gehalten und die Welt wäre in Ordnung – zumindest so weit wie zu Beginn der Überfahrt.
»Bist du in Wirklichkeit deshalb hier?«, fragte sie Pietr. »Um herauszufinden, warum der alte Mann ermordet wurde?«
»Du meinst, ich wollte ähnlich profane Nachforschungen anstellen wie du?«, gab er zurück.
»Wenn das nicht der Grund ist, was dann?«
»Ich möchte wissen, warum Saul ermordet wurde, aber mehr noch interessiert mich, warum man glaubt, Gottes Wort leugnen zu müssen.«
Sie hatte ihn bereits nach seinen Überzeugungen befragt, dennoch wollte sie die Grenzen seiner Aufrichtigkeit noch weiter ausloten. Es musste einen Riss geben: einen kleinen Spalt des Zweifels im Schild seiner Gläubigkeit. »Du hältst also die Auslöschungen für Gottes Wort?«
»Davon bin ich fest überzeugt.«
»Wenn das so ist – und wenn sich das wirkliche Muster der Auslöschungen von der offiziellen Version unterscheidet –, dann glaubst du demnach, die wahre Botschaft würde unterdrückt, das Wort Gottes würde nicht in seiner unverfälschten Form an das Volk weitergegeben.«
»Genau.« Das klang sehr zufrieden. Er war froh, eine Brücke über den gewaltigen Abgrund des Unverständnisses geschlagen zu haben. Sie hatte das Gefühl, als wäre zum ersten Mal seit einer Ewigkeit eine Last von ihm genommen. »Mein Fehler war es, zu glauben, ich könnte die Zweifel zum Schweigen bringen, indem ich meinen Verstand ausschaltete und mich in die Beobachtung Haldoras versenkte. Aber es klappte nicht. Sobald ich dich in all deiner leidenschaftlichen Unabhängigkeit da stehen sah, begriff ich, dass ich auf eigene Faust handeln musste.«
»So… so in etwa empfinde ich auch.«
»Willst du mir nicht sagen, was es mit deinen Nachforschungen auf sich hat, Rachmika?«
Sie erzählte ihm von Harbin und dass sie glaubte, eine der Kirchen hätte ihn aufgenommen und höchstwahrscheinlich zwangsweise indoktriniert. Eigentlich wolle sie daran gar nicht denken, aber die Vernunft fordere, auch diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Der Rest der Familie habe sich schon vor längerer Zeit mit Harbins Bekehrung abgefunden, sie selbst aber könne ihn nicht so einfach loslassen. »Ich musste das tun«, sagte sie. »Ich musste diese Pilgerfahrt unternehmen.«
»Ich dachte, du wärst nicht auf Pilgerfahrt.«
»Nur ein Versprecher«, sagte sie. Aber sie wusste selbst nicht so recht, ob sie daran noch glaubte.