Zweiundvierzig

Hela

2727

 

 

Eine Horde von schwarzen Maschinen erhob sich von Hela und flog himmelwärts. Es waren zumeist kleine Fähren: von Ultras gekaufte, gestohlene oder beschlagnahmte Orbitalflugzeuge. Die meisten flogen mit chemischen Raketen; nur wenige waren mit Fusionstriebwerken ausgestattet. Die Mehrheit beförderte nur ein oder zwei Angehörige der Kathedralengarde in gepanzerten Blasenkanzeln im Innern von abgetakelten Skelettrümpfen. Sie starteten von gewöhnlichen Landeplattformen entlang des Weges oder aus unsichtbaren Bunkern im Eis, wobei Letztere zuerst die dicke Eisschicht an der Oberfläche durchstoßen mussten. Einige lösten sich sogar aus den adventistischen Kathedralen, auch aus der Morwenna. Vermeintliche Türmchen oder rechtwinklige Auskragungen entpuppten sich mit einem Mal als Teile von lange verborgenen Raumschiffen. Gebäudeattrappen fielen ab wie totes graues Laub. Mehrgliedrige Kranarme schwenkten die Schiffe so weit nach außen, dass ihre Triebwerke keinen Schaden an Mauerwerk und Glas anrichten konnten. An den Firstlinien öffneten sich Kuppeln und Helmdächer, darunter wurden, exakt in die Hohlräume eingepasst, Raumfähren sichtbar, die nun auf hydraulischen Startplattformen ausgefahren wurden. Wenn sie sich in die Lüfte schwangen, zeichnete der Schein ihrer Triebwerke grelle Lichtkreise und tief schwarze Schatten auf die verschnörkelte Architektur, sodass es aussah, als drehten sich die Fratzengesichter und ließen erstaunt die Kinnladen fallen. Wenn die gewaltigen Massen abhoben, erzitterten die Kathedralen. Doch hinterher wirkten sie kaum verändert.

In Minutenschnelle hatte die Garde den Orbit erreicht; wenig später hatte sie ihre bereits um Hela parkenden Genossen entdeckt und das Signal zum Aufbruch gegeben. Triebwerke wurden gezündet und lieferten Schub. Die Fähren formierten sich zu mehreren Angriffswellen und strebten der Sehnsucht nach Unendlichkeit zu.

 

Noch bevor die Fähren der Kathedralengarde Hela verlassen hatten, landete ein anderes Raumschiff auf der Plattform der Morwenna und parkte neben der größeren Fähre, mit der die Ultra-Delegierten von ihrem Lichtschiff hierher geflogen waren.

Grelier blieb noch einige Minuten im Cockpit und betätigte verschiedene Schalter mit Elfenbeingriffen, um sicherzustellen, dass die wichtigsten Systeme auch in seiner Abwesenheit weiterliefen. Die Kathedrale war der Brücke jetzt beängstigend nahe, und er hatte nicht vor, nach Beginn der Überquerung noch lange an Bord zu bleiben. Er würde sich eine Ausrede einfallen lassen: Glockenturmpflichten, irgendetwas in Zusammenhang mit dem Blutzoll. Es gab Dutzende von plausiblen Vorwänden. Und falls der Dekan meinte, seinen Generalmedikus bei der Überquerung an seiner Seite haben zu müssen, dann würde sich Grelier einfach stillschweigend verdrücken. Später konnte man die Wogen ja wieder glätten. Immer vorausgesetzt, es gab ein Später. Jedenfalls wollte er in dieser Situation nicht warten müssen, bis sein Schiff alle Startvorbereitungen durchlaufen hätte.

Er setzte den Helm auf, suchte seine Habseligkeiten zusammen und ging durch die Luftschleuse. Die Aussicht von der Plattform war fantastisch, das musste er zugeben. Er sah die Kante, wo das Land einfach aufhörte, sah den Rand der riesigen Klippe unaufhaltsam näher kommen. Es ist zu spät, dachte er. Die Fahrt der Morwenna auch nur zu verlangsamen, war immer eine hochgradig verwickelte bürokratische Prozedur. Es konnte Stunden dauern, bis der Papierkram bis hinunter in den Maschinenraum und zu den Technikern gelangte, die tatsächlich die Geschwindigkeit regulierten. Da man den Leuten immer wieder eingehämmert hatte, die Kathedrale dürfe niemals langsamer werden, wurden die Anweisungen oft genug noch einmal hinterfragt. Dann ging der ganze Papierkram den Weg durch die Hierarchie wieder zurück, und die Ausführung verzögerte sich um weitere Stunden. Und jetzt sollte die Kathedrale nicht nur abgebremst, sondern vollends zum Stillstand gebracht werden. Grelier schüttelte sich: Wie lange das dauern würde, wollte er sich lieber gar nicht vorstellen.

Er bemerkte eine Bewegung und hob den Kopf. Zahllose Funken rasten über den Himmel. Dutzende – nein, hunderte – von Schiffen. Was hatte das zu bedeuten?

Er schaute zum Horizont. Dort funkelte das Lichtschiff, ein kleiner, aber deutlich länglicher, eisengrauer Splitter. Die anderen Schiffe strebten offensichtlich darauf zu.

Hier war irgendetwas im Gange.

Grelier wandte sich ab und wollte ins Innere, um sich zu erkundigen, was eigentlich vorging. Doch da bemerkte er den roten Fleck am Ende seines Krückstocks. Er hatte geglaubt, ihn gründlich gereinigt zu haben, bevor er die Siedlung in der Vigrid-Region verließ, aber er war wohl doch nicht sorgfältig genug gewesen.

Er schnalzte leise mit der Zunge und rieb mit dem Krückstock über die Eisschicht auf der Plattform. Rosarote Flecken blieben zurück.

Erst jetzt machte er sich auf den Weg zum Dekan. Er hatte interessante Neuigkeiten.

 

Als Erste entdeckte Orca Cruz die beiden Adventisten am Ende des breiten, niedrigen Korridors. Sie drückten sich zu beiden Seiten an die Wand und kamen so langsam wie Schlafwandler auf sie zu.

Cruz wandte sich an die drei SD-Leute, die ihr folgten. »Nicht mehr Gewalt als unbedingt nötig«, sagte sie leise. »Bajonette und Betäubungsstäbe. Die zwei haben keinen Flammenwerfer, und ich muss ihnen dringend ein paar Fragen stellen.«

Die Sicherheitsleute nickten. Sie wussten, wie das zu verstehen war.

Cruz ging, die scharfe Klinge ihres Bajonetts nach vorne gestreckt, auf die Adventisten zu. Die trugen keine Rüstung mehr. Cruz hatte den verstümmelten Berichten anderer Angehöriger des Sicherheitsdienstes – denselben Meldungen, die vor den Flammenwerfern gewarnt hatten – entnommen, dass sie die Druckanzüge ausgezogen hatten, aber so ganz glaubte sie das erst jetzt, als sie es mit eigenen Augen sah. Teile der Panzerung waren freilich noch vorhanden: Die Adventisten hielten spitze Scherben in den Händen und hatten sich große gewölbte Platten vor die Brust gebunden. Auch die Metallhandschuhe und die rosa gefiederten Helme trugen sie nach wie vor.

Hinter dieser Strategie stand eine Überlegung, die Cruz bewundernswert fand. War ein Enterkommando erst einmal so weit ins Innere eines Lichtschiffes vorgedrungen, dann war eine Rüstung nahezu überflüssig. Ultras würden nur ungern mit Energiewaffen gegen Piraten vorgehen, auch wenn sie wussten, dass sie sich in sicherem Abstand vom Vakuum oder von wichtigen Schiffssystemen befanden. Der Beschützerinstinkt gegenüber dem eigenen Schiff war so tief verwurzelt, dass er auch dann noch wirkte, wenn eine Eroberung drohte. Und auf einem Schiff wie der Sehnsucht nach Unendlichkeit – wo jeder Zoll des Materials mit dem Nervensystem des Captains verbunden war – war dieser Instinkt noch stärker. Alle hatten miterlebt, was passierte, wenn das Schiff verletzt wurde; alle hatten den Schmerz des Captains gespürt.

Cruz ging weiter. »Nieder mit den Waffen!«, rief sie. »Sie haben keine Chance.«

»Legen Sie doch die Waffen nieder«, gab einer der Adventisten zurück. »Wir wollen nur Ihr Schiff. Niemand wird zu Schaden kommen, und später erhalten Sie es wieder zurück.«

»Warum haben Sie nicht höflich angefragt?«, erkundigte sich Cruz.

»Hätten sie denn zugestimmt?«

Sie überlegte kurz. »Eher nicht«, gab sie dann zu.

»Damit ist wohl alles gesagt.«

Cruz und ihr Trupp rückten auf zehn Meter an die Adventisten heran. Jetzt sah sie, dass einer von ihnen gar keinen Handschuh trug, sondern eine künstliche Hand hatte. Sie erinnerte sich: Scorpio hatte diese Hand noch eigens untersuchen lassen, um festzustellen, ob sie nicht eine Antimateriebombe enthielt.

»Letzte Warnung«, rief sie.

Der zweite Adventist warf so etwas wie ein Messer nach ihr. Es kreiselte durch die Luft; Cruz drückte sich flach gegen die Wand. Die Waffe raste mit einem kurzen, scharfen Luftzug an ihrer Kehle vorbei und bohrte sich daneben in das Schiff. Eine zweite Waffe flog durch die Luft und streifte ihre Panzerung, ohne jedoch eine Schwachstelle zu finden.

»Das Spiel ist aus«, sagte Cruz und gab ihren Leuten ein Zeichen. »Ruhig stellen. Nieder mit ihnen.«

Sie hoben die Bajonette und die stumpfen Betäubungsstäbe und stellten sich vor Cruz. Der Adventist deutete mit seiner künstlichen Hand auf sie, als wollte er sie ermahnen. Sie dachte sich nichts dabei: Scorpio hatte die Hand gründlich untersucht; sie konnte keine Projektil- oder Strahlenwaffe enthalten.

Die Spitze löste sich vom Zeigefinger, fiel aber nicht zu Boden, sondern schwebte so langsam von der Hand weg wie ein Raumschiff bei einem trägen Start.

Cruz war wie vom Donner gerührt. Die Spitze wurde schneller und legte, leicht auf und ab hüpfend, erst zehn, dann zwanzig Zentimeter zurück. Anfangs flog sie geradewegs auf die Gruppe zu, dann bewegte sich die Hand, und die Spitze wich nach rechts ab, als wäre sie immer noch durch einen unsichtbaren Faden damit verbunden.

Was sie auch war.

»Monofil-Sense« rief Cruz. »Zurück mit euch. Verdammt, tretet sofort zurück!«

Ihre Leute reagierten schnell und traten den Rückzug an. Die Fingerspitze beschrieb wie von selbst einen senkrechten Kreis, während die Hand des Adventisten nur ganz kleine und scheinbar mühelose Bewegungen machte. Der Kreis wurde größer, die Fingerspitze verschwamm zu einem grauen Ring von einem Meter Durchmesser. Orca Cruz hatte einst in Chasm City mit ansehen müssen, was für Blutbäder man mit solchen Sensen anrichten konnte. Sie hatte erlebt, was passierte, wenn jemand versehentlich in eine Verteidigungslinie aus statischen Sensen geriet oder von einer mobilen Sense wie dieser hier getroffen wurde. Es war kein schöner Anblick. Aber mehr noch als die Schreie, mehr noch als die grässlich verstümmelten und zerstückelten Leichen waren ihr die Gesichter der Opfer in Erinnerung geblieben, unmittelbar nachdem sie ihren Fehler erkannt hatten. Was sich darin spiegelte, war weniger Angst oder Schock als tödliche Verlegenheit: die Erkenntnis, dass sie gleich ein schreckliches, zutiefst abstoßendes Bild abgeben würden.

»Zurück!«, wiederholte sie.

»Feuererlaubnis?«, fragte einer der SD-Leute.

Cruz schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte sie. »Erst wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen.«

Der flimmernde graue Ring rückte weiter vor und erzeugte dabei einen hohen, zitternden Ton, der fast melodisch war.

 

Scorpio verlagerte sein Gewicht, so weit es ging, und versuchte noch einmal, sich von der Wand zu lösen. Um Hilfe zu rufen, hatte er aufgegeben, und auf sein eigenes Fiepen und Japsen achtete er schon lange nicht mehr. Die adventistischen Delegierten waren nicht zurückgekommen, aber sie waren immer noch unterwegs: Hin und wieder drang der Lärm von Kämpfen durch das Labyrinth von Korridoren, Lüftungskanälen und Fahrstuhlschächten gedämpft bis zu ihm. Er hörte Stimmen und Schreie, und gelegentlich reagierte das Schiff selbst mit tiefem Stöhnen auf eine kleine innere Verletzung. Was die Delegierten – ob mit ihren Schneidewerkzeugen oder ihren Flammenwerfern – anrichteten, konnte dem Captain nicht wirklich schaden. Die Sehnsucht nach Unendlichkeit hatte immerhin einen Direktangriff durch eines ihrer eigenen Weltraumgeschütze überlebt. Doch selbst ein winziger Splitter konnte zu einem Ärgernis werden, das in keinem Verhältnis zu seiner physischen Größe stand.

Wieder schlug Scorpio um sich. Ein Feuerstoß zuckte ihm durch beide Schultern. Hatte sich jetzt nicht etwas bewegt? Er selbst oder die Wurfwaffen?

Beim nächsten Versuch wurde er ohnmächtig, und als er Sekunden, vielleicht Minuten später wieder zu sich kam, hing er immer noch an der Wand und hatte einen unangenehm metallischen Geschmack im Mund. Er war noch am Leben und fühlte sich – abgesehen von den Schmerzen – nicht viel schlechter als zu dem Zeitpunkt, als Seyfarth ihn hier festgenagelt hatte. Vermutlich hatte der Hauptmann mit seiner prahlerischen Behauptung, er hätte keine inneren Organe verletzt, doch Recht behalten. Das hieß natürlich nicht, dass Scorpios Blut nicht in Strömen fließen würde, sobald man die Waffen entfernte. Warum brauchte der Sicherheitsdienst nur so lange, um ihn zu finden?

Zwanzig Soldaten, dachte Scorpio. Genug, um Ärger zu machen, gewiss, aber doch wohl kaum ausreichend, um das ganze Schiff einzunehmen. Die Delegierten hatten immer gewusst, dass sie keine größeren Feuerwaffen auf die Sehnsucht nach Unendlichkeit würden schmuggeln können, nicht in einer Zeit so voller Misstrauen. Aber Seyfarth war ihm vorgekommen wie ein Mann, der wusste, was er tat, ein Mann, der sich wohl kaum für ein Selbstmordkommando gemeldet hätte.

Scorpio stöhnte, aber diesmal nicht vor Schmerz, sondern weil er seinen fatalen Fehler erkannte. Niemand konnte ihm vorhalten, dass er die Delegierten an Bord gelassen hatte: Hier war er überstimmt worden. Und die wahre Funktion der Rüstungen war ihm nur deshalb entgangen, weil er von diesem speziellen Trick noch nie gehört hatte. Immerhin hatte er die Anzüge gescannt – auch wenn es sinnvoller gewesen wäre, sie sich genau anzusehen, anstatt sie zu durchleuchten –, und dabei war ihm nichts Verdächtiges aufgefallen. Man hätte sie den Delegierten schon abnehmen und in einem Labor untersuchen müssen, um die mikroskopisch dünnen Sollbruchstellen zu finden. Nein: Auch in diesem Punkt hatte er sich nichts vorzuwerfen. Aber er hätte die Triebwerke nicht zünden dürfen. Warum hatten die Adventisten sie überhaupt sehen wollen? Hätten sie das Schiff nicht beim Anflug auf das System beobachten können, wenn sie daran interessiert waren?

Wenn er sie richtig einschätzte, war es ihnen in Wirklichkeit um etwas ganz anderes gegangen: Sie hatten die Triebwerke benutzt, um ein Signal an Hela zu senden. Der Schubstoß bedeutete, dass sie seine Sicherheitsschranken passiert und ihre Position erreicht hatten und nun mit der Übernahme beginnen konnten.

Das Zünden der Triebwerke war eine Aufforderung gewesen, Verstärkung zu schicken.

Bevor er diese Überlegung zu Ende geführt hatte, ging abermals ein Ächzen durch das Schiff. Doch diesmal war es ein voller, etwas falscher Ton wie von einer großen Glocke, die einen Sprung hatte.

Scorpio schloss die Augen. Das Geräusch kannte er. Es waren die automatischen Rumpfgeschütze. Die Sehnsucht nach Unendlichkeit wurde nicht nur von innen, sondern auch von außen angegriffen. Großartig, dachte er. Allmählich zeigte sich, dass dies einer jener Tage war, an denen er besser im Kälteschlaftank geblieben wäre. Noch besser wäre gewesen, das Auftauen nicht zu überleben.

Im nächsten Moment erbebte das ganze Schiff. Die Schwingungen übertrugen sich durch die scharfkantigen Spieße, die ihn an der Wand festhielten. Er schrie und verlor ein zweites Mal das Bewusstsein.

Schmerzen holten ihn wieder zurück – schlimmer, als er sie bisher gespürt hatte, hart und seltsam rhythmisch, als hätte er im Schlaf Krämpfe bekommen. Aber er bewegte sich von sich aus überhaupt nicht. Dafür blähte sich die Wand, an die er geheftet war, und zog sich wieder zusammen wie eine riesige atmende Lunge.

Und auf einmal war er frei. Es ging ganz unspektakulär. Er fiel mit allen vieren auf das Deck, sein Unterkiefer tauchte in den schmutzigen, stinkenden Schiffsschleim. Die beiden scharfen Spieße fielen klappernd neben ihm zu Boden. Er versuchte, auf die Knie zu kommen und stellte überrascht fest, dass sich der Schmerz höchstens verdoppelte oder verdreifachte, wenn er sich auf die Arme stützte. Es war also nichts gebrochen – zumindest nichts, was ihn beim Gebrauch seiner Arme allzu sehr eingeschränkt hätte.

Scorpio kämpfte sich zum Stehen hoch und betastete die erste und dann an die zweite Wunde. Alles war voller Blut, aber es spritzte nicht aus einer verletzten Arterie hervor. Vermutlich war es bei den Austrittswunden nicht anders. Ob innere Blutungen vorlagen, konnte er nicht sagen, aber darum konnte er sich auch noch kümmern, wenn sich irgendwelche Schwierigkeiten zeigten.

Da er noch immer nicht genau wusste, was eigentlich geschehen war, kniete er abermals nieder und hob die erste Messerscherbe – die Bumerangwaffe – auf. Die Wölbung der ursprünglichen Rüstung – das Fragment stammte aus einem der größeren Teile – war gut zu erkennen. Er warf das Ding von sich und stieß das zweite mit dem Fuß weg. Dann griff er, von Schmerzen gepeinigt, an seinen Gürtel, tastete nach dem Griff von Clavains Messer, zog es aus der Scheide und schaltete die Piezoelektrik ein. Das Surren übertrug sich auf seine Handfläche.

Vor ihm bewegte sich etwas im halbdunklen Korridor.

»Scorpio.«

Er spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der die Stimme kam. Halb rechnete er damit, dass es einer von den Adventisten war, halb hoffte er, es möge jemand vom Sicherheitsdienst sein. »Wurde aber auch Zeit«, sagte er. Das passte in beiden Fällen.

»Wir haben Ärger, Scorp. Großen Ärger.«

Eine Gestalt löste sich aus dem Halbdunkel. Scorpio zuckte zurück. Damit hatte er nicht gerechnet. »Captain«, hauchte er.

»Ich dachte, du könntest Hilfe gebrauchen, um von dieser Wand loszukommen. Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat.«

»Besser spät als nie«, sagte Scorpio.

Es war eine Manifestation Klasse drei. Nein, dachte Scorpio, das streichen wir. Diese Manifestation gehörte in eine neue, ganz eigene Kategorie. Es war mehr als nur eine lokal begrenzte Veränderung des Schiffsmaterials, mehr als die Umgestaltung einer Wand oder die zeitweilige Umfunktionierung von Servomatenteilen. Vor ihm stand eine reale und unabhängig vom Schiff existierende Gestalt, ein greifbares Artefakt: ein Raumanzug, riesig, golemhaft plump, von Servomotoren angetrieben. Und leer. Das Visier war hochgeklappt, und darunter war alles dunkel. Die Stimme drang aus dem Sprechgitter unter dem Kinn, das sonst nur zur akustischen Kommunikation in belüfteten Räumen diente.

»Wie geht es dir, Scorpio?«

Scorpio wischte sich weiter das Blut ab. »Noch bin ich nicht geschlagen. Und Sie auch nicht, wie es aussieht.«

»Es war ein Fehler, sie an Bord zu lassen.«

»Ich weiß«, sagte Scorpio und schaute auf seine Schuhe nieder. »Es tut mir Leid.«

»Nicht du bist daran schuld«, sagte der Captain. »Sondern ich.«

Scorpio schaute wieder auf. Etwas bewog ihn, sich der Dunkelheit innerhalb des Helmes zuzuwenden. Ein Gebot der Höflichkeit. »Und was jetzt? Die Verstärkung ist bereits unterwegs, nicht wahr?«

»So ist es geplant. Wir werden von Schiffen angegriffen. Die meisten konnte ich abwehren, aber eine Hand voll sind durch die Verteidigung geschlüpft und beginnen, sich durch den Rumpf zu bohren. Sie tun mir weh, Scorp.«

Scorpio gab die Frage des Captains zurück: »Wie geht es Ihnen?«

»Ach, es ist auszuhalten. Aber allmählich habe ich die Nase voll. Ich finde, sie haben sich für heute genug amüsiert. Was meinst du?«

Scorpio nickte eifrig, obwohl die Bewegung schmerzte. »Sie haben sich für ihre Spiele das falsche Schwein ausgesucht.«

Der riesige Raumanzug verneigte sich vor ihm und wandte sich zum Gehen. Die gewaltigen Stiefel erzeugten träge Wellen im Schiffsschleim. »Sie haben sich nicht nur das falsche Schwein ausgesucht, sondern auch das falsche Schiff. Wollen wir ihnen auf die Finger klopfen?«

»Ja«, sagte Scorpio und lächelte tückisch. »Klopfen wir ihnen auf die Finger.«

 

Orca Cruz und ihr Trupp hatten sich so weit zurückgezogen, wie es ging. Die beiden Adventisten hatten sie zu einem größeren Knotenpunkt aus Korridoren und Schächten gedrängt, einer Art Herzklappe in der Anatomie des Captains. Von hier aus waren alle Teile der Sehnsucht nach Unendlichkeit relativ leicht zu erreichen. Deshalb durften die Adventisten dieses Zentrum nicht erobern. Sie waren nur zwanzig, inzwischen vielleicht weniger – natürlich würde es ihnen nie gelingen, mehr als einige sehr kleine Bereiche des Schiffes vorübergehend unter Kontrolle zu bekommen –, aber dennoch hielt Cruz es für ihre Pflicht, ihnen Grenzen zu setzen. Wenn sie zu diesem Zweck John Brannigan einige unbedeutende lokale Schmerzen zufügen musste, war das eben nicht zu ändern.

»Schön«, sagte sie. »Entwaffnet sie. Kurze, kontrollierte Stöße. Hinterher soll noch etwas übrig sein, was ich verhören kann.«

Die letzten Worte gingen unter. Die Automatikwaffen ihrer Soldaten brüllten wütend auf. Leuchtspurgeschosse zogen grelle, konvergente Linien durch den Korridor. Der Adventist mit der künstlichen Hand fiel zu Boden. Sein rechtes Bein war von Schüssen durchsiebt. Ein Mechanismus spulte den Monofilfaden auf und zog die Fingerspitze wieder an die Hand zurück.

Der zweite Adventist lag auf der Seite. Obwohl er noch Teile seiner Rüstung trug, blutete er aus der Brust.

Das Schiff ächzte.

»Ich habe euch gewarnt«, sagte Cruz. Ihre eigene Waffe lag kalt in ihrer Hand. Sie hatte keinen einzigen Schuss abgegeben.

Der zweite Adventist fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er eine Biene verscheuchen.

»Nicht bewegen«, sagte Cruz und trat vorsichtig näher. »Wenn du ganz still hältst, hast du noch Chancen, den heutigen Tag zu überleben.«

Er kratzte weiter in seinem Gesicht herum, vor allem im Umkreis des Auges. Endlich bohrte er die Finger in die Augenhöhle, zog etwas heraus und hielt es einen Moment lang zwischen Daumen und Zeigefinger: ein makelloses menschliches Auge, fest wie Glas, blutig wie ein grausiger roher Leckerbissen.

»Ich sagte…«, begann Orca Cruz.

Er drückte mit den Fingern zu. Das Auge zerbrach. Chromgelbe Rauchschwaden stiegen auf. Cruz spürte, wie das Nervengift in ihre Lungen drang.

Niemand brauchte ihr zu sagen, dass es tödlich war.

 

Aus der Geborgenheit seines Turmgemachs verfolgte der Dekan die Fortschritte der Übernahme. Rund um Hela stationierte Kameras lieferten ihm ständig in Echtzeit Bilder des Ultraschiffes, wo immer es sich auf seinem Orbit befand. Er hatte das verräterische Aufflackern der Antriebsflamme gesehen: Seyfarths Botschaft, dass die erste Phase der Operation erfolgreich verlaufen war. Er hatte den Massenstart der Schiffe der Kathedralengarde gesehen – ja gespürt –, und er hatte auch gesehen, wie sich die Geschwader über Hela sammelten und formierten. Kleine, leichte Schiffe, gewiss, aber dafür zahlreich. Auch ein Schwarm Krähen konnte einen Menschen zu Tode hetzen.

Über den Fortgang der Operationen im Innern des Schiffes hatte er keine Informationen. Wenn Seyfarth sich an die Pläne gehalten hatte, müssten die zwanzig Mann der Sturmspitze sofort zum Angriff übergegangen sein, nachdem das Signal an Hela erfolgt war. Seyfarth war ein tapferer Mann: Er hatte sicher gewusst, dass seine Chancen, bis zum Eintreffen der Verstärkungstruppen zu überleben, nicht gerade glänzend waren. Allerdings, und das durfte man nicht vergessen, war er ein wahrer Überlebenskünstler. Quaiche ging davon aus, dass der Hauptmann inzwischen einige seiner Leute verloren hatte, doch dass er selbst zu den Opfern gehörte, war zu bezweifeln. Er war sicher noch irgendwo auf dem Schiff und kämpfte weiter.

Der Dekan hätte viel darum gegeben, zu erfahren, was in diesem Moment im Schiff vorging. Er hatte so eifrig geplant, so viele Jahre damit verbracht, sich dieses verrückte Abenteuer auszudenken und in die Tat umzusetzen, dass er es höchst ungerecht fand, nicht mit ansehen zu dürfen, ob sich alles auch wunschgemäß entwickelte. Die Zeit des Wartens hatte er in seinen Träumen immer übersprungen: Entweder hatte er Erfolg oder nicht. Sich mit den Qualen der Ungewissheit zu beschäftigen, hatte wenig Sinn gehabt.

Doch jetzt plagten ihn Zweifel. Die Geschwader trafen auf unerwarteten Widerstand von den automatischen Rumpfgeschützen. Auf den Bildern schwebte das Schiff inmitten eines funkelnden Kranzes von Explosionen wie ein schwarzes Spukschloss in einem Feuerwerk. Die meisten Ultraschiffe verfügten über Verteidigungseinrichtungen irgendwelcher Art, deshalb war Quaiche nicht allzu überrascht gewesen, als sie auch hier eingesetzt wurden. Bei seiner Tarngeschichte hatte er sogar verlangt, dass sich das Schiff verteidigen konnte. Aber er hatte nicht mit Waffen gerechnet, die so schnell und so hart zurückschlagen konnten. Wenn nun die Streitkräfte im Innern des Schiffes auf ebenso unerwarteten Widerstand stießen? Wenn Seyfarth tot wäre? Wenn alles langsam auf eine Katastrophe zusteuerte?

Sein Krankenstuhl meldete mit einem Klingelsignal den Eingang einer Nachricht. Zitternd betätigte er den Schalter. »Quaiche«, sagte er.

»Bericht von der Kathedralengarde«, sagte eine gedämpfte, von Statik verzerrte Stimme. »Entsatzeinheiten drei und acht erfolgreich eingeschleust. Rumpf wurde durchstoßen; kein größerer Luftverlust. Verstärkungstrupps befinden sich auf der Sehnsucht nach Unendlichkeit. Versuchen zu Elementen der Sturmspitze vorzudringen.«

Quaiche seufzte. Er war von sich enttäuscht. Natürlich lief alles nach Plan, und natürlich waren unerwartete Schwierigkeiten aufgetreten. Das war bei jeder lohnenden Aufgabe so. Wieso hatte er jemals am Erfolg gezweifelt?

»Haltet mich auf dem Laufenden«, befahl er.

 

Die beiden ungleichen Gestalten – der mächtige leere Raumanzug des Captains und daneben, fast wie ein Kind, das Schwein – schlurften auf den Schauplatz der Kämpfe zu. Ihr Weg führte durch Korridore und Gänge, die von den Menschen nie vollends zurückgewonnen worden waren. Es wimmelte von Ratten, alles war verseucht mit Schiffsschleim und anderen giftigen Substanzen, und bis auf gelegentliche matt flackernde Lichtquellen war es dunkel wie in einem Grab. Beim Angriff der Adventisten hatte Scorpio noch genau gewusst, wo er sich befand. Doch nun folgte er dem Captain widerstandslos in Bereiche des Schiffes, die ihm völlig fremd waren. Je weiter sie vordrangen, je mehr dunkle Luken und geheime Türen der Captain passierte, desto weniger war zu erkennen, dass man sich auf einem Schiff befand: Die Notstromanlagen, die provisorischen Hydrauliksysteme, die Richtungspfeile in Neonfarben wurden seltener und verschwanden schließlich ganz. Hier gab es nur noch Anatomie. Diese Regionen waren nur dem Captain bekannt: Er allein wandelte hier durch die Korridore. Das war sein Fleisch und Blut, dachte Scorpio: Was er damit anfing, entschied er allein.

Das Schwein machte sich nichts vor. Natürlich war die Gestalt an seiner Seite nicht wirklich der Captain. Der Raumanzug diente nur als Fokussierungshilfe; ansonsten war der Captain wie eh und je in jeder Faser der Architektur allgegenwärtig. Scorpio war froh, diesen Begleiter zu haben, auch wenn er lieber mit einem Gesicht gesprochen hätte als mit dem leeren Anzug. Der Anführer der Adventisten hatte ihn schwer verletzt, und der Schock musste früher oder später einsetzen. Wie stark er sein würde, ließ sich noch nicht ermessen. Vor zwanzig Jahren hätte er solche Wunden mit einem Achselzucken weggesteckt. Jetzt würde er sie nicht mehr so leicht abschütteln. Doch solange er in irgendeiner Form Gesellschaft hatte, konnte er den Augenblick der Abrechnung hinausschieben. Nur ein paar Stunden, dachte er, nur so lange, bis wir diesen Schlamassel hinter uns haben.

Nur diese paar Stunden – mehr brauchte er nicht, und mehr wollte er auch nicht.

»Wir müssen miteinander reden, Scorpio. Du und ich. Bevor es zu spät ist.«

»Captain?«

»Ich muss etwas erledigen, bevor es nicht mehr möglich ist. Wir sind hierher gekommen, weil Aura es so wollte, und weil wir hofften, ein wirksames Mittel gegen die Unterdrücker zu finden. Der Schlüssel waren Quaiche und die Flitzer, deshalb wurde Aura vor neun Jahren in die Hela-Gesellschaft eingeschleust. Sie sollte sich durch die Hintertür in die Kathedralen schleichen und Informationen sammeln, ohne dass jemand ahnte, dass sie zu uns gehörte. Das war ein guter Plan, Scorp. Damals war es der Beste, den wir hatten. Aber wir dürfen Haldora nicht vernachlässigen.«

»Das tut doch auch niemand«, antwortete Scorpio. »Aura glaubt, sie hätte über diesen alten Raumanzug bereits Kontakt zu den Schatten aufgenommen. Genügt das denn nicht fürs Erste?«

»Es hätte vielleicht genügt, wenn uns die Adventisten nicht verraten hätten. Aber wir haben keine Kontrolle über diesen Anzug. Den hat nur Quaiche, und Quaiche können wir nicht mehr vertrauen. Es ist Zeit, den Einsatz zu erhöhen, Scorp. Wir können nicht alles auf diese eine Verhandlungslinie setzen.«

»Dann schießen wir eben die Instrumentenpakete ab, wie wir es immer geplant hatten.«

»Die Pakete waren immer nur als Wegbereiter gedacht. Wahrscheinlich erfahren wir durch sie nicht mehr, als wir bereits von Aura wissen. Früher oder später müssten wir ohnehin die großen Geschütze auffahren.«

Scorpio vergaß für einen Moment seine Schmerzen. »Und was schlagen Sie vor?«

»Wir müssen herausfinden, was sich im Innern von Haldora verbirgt«, sagte der Captain. »Wir müssen hinter die Maske schauen, aber wir können nicht einfach hier sitzen und auf die nächste Auslöschung zu warten.«

»Das Weltraumgeschütz.« Scorpio hatte die Absichten seines Begleiters erraten. »Sie wollen es einsetzen, nicht wahr?

Sie wollen damit auf den Planeten schießen und sehen, was passiert.«

»Wie gesagt, es ist an der Zeit, die großen Geschütze aufzufahren.«

»Es ist das letzte, das wir haben. Vergeuden Sie es nicht, Captain.«

Der Anzug wandte ihm die leere Helmöffnung zu. »Ich werde mein Bestes tun«, klang es aus dem Gitter.

 

Endlich wurde der Anzug langsamer. Das Schwein blieb stehen und suchte hinter seinem breiten Rücken Deckung.

»Da vorne ist etwas, Scorp.«

Scorpio spähte ins Dunkel. »Ich sehe nichts.«

»Ich spüre es, aber ich brauche den Anzug, um es mir genauer anzusehen. Ich habe hier keine Kameras.«

Hinter einer leichten Biegung führten mehrere Gänge zusammen. Plötzlich waren sie wieder in einem Teil des Schiffes, den Scorpio kannte – durch diesen Korridor hatte er vor einiger Zeit die Adventisten geführt. Aus den Wandleuchten sickerte mattes sepiabraunes Licht.

»Da liegen Leichen, Scorp. Das sieht nicht gut aus.«

Der Anzug watete weiter durch die grausigen Absonderungen. Die Leichen ragten nur als schemenhafte Hügel aus dem Schleim. Der Anzug schaltete seine Helmlampe ein und ließ den Strahl über die Erhebungen gleiten. Verwilderte Pförtnerratten huschten davon.

»Das sind keine Adventisten«, bemerkte Scorpio.

Der Anzug kniete neben dem ersten Leichnam nieder. »Erkennst du sie?«

Scorpio hockte sich auf die Fersen und schnitt eine Grimasse, als ihm der Schmerz von zwei Seiten wie ein Messer durch die Brust fuhr. Er packte den Leichnam, der direkt vor dem Captain lag, und drehte ihn um, damit er das Gesicht sehen konnte. Dabei spürte er das raue Leder einer Augenklappe.

»Das ist Orca Cruz«, sagte er.

Seine Stimme klang unbeteiligt und sachlich. Sie ist tot, dachte er. Eine Frau, die dir über mehr als dreißig Jahre deines Lebens die Treue gehalten hat, ist tot. Sie hat dir geholfen, dich beschützt, für dich gekämpft und dich mit ihren Geschichten zum Lachen gebracht. Jetzt ist sie tot, weil du einen Fehler gemacht hast, weil du zu dumm warst, um die Pläne der Adventisten zu durchschauen. Und du empfindest nur, dass etwas zertreten wurde, was dir gehört.

Er hörte Kolben und Servomechanismen zischen. Der Captain legte ihm sanft seinen Riesenhandschuh auf den Rücken. »Schon gut, Scorp. Ich weiß, was du fühlst.«

»Ich fühle gar nichts.«

»Das meine ich. Es ist noch zu früh. Es kam zu plötzlich.«

Scorpio wandte sich den anderen Leichen zu. Alles Angehörige des Sicherheitsdienstes. Sie hatten keine Waffen mehr, aber man sah keine äußeren Verletzungen. Den Ausdruck auf Cruz’ Gesicht würde er allerdings so schnell nicht vergessen.

»Sie war gut«, sagte er. »Sie hielt zu mir, auch als sie sich in Chasm City ihr eigenes kleines Reich hätte aufbauen können. Diesen Tod hat sie nicht verdient. Keiner von ihnen hat das verdient.«

Mühsam richtete er sich zu voller Größe auf. Er musste sich an der Wand abstützen. Zuerst hatte er auf dem Flug nach Resurgam Lasher verloren. Dann hatte er für immer von Blood Abschied genommen. Jetzt hatte ihn Cruz verlassen: das letzte kostbare Glied, das ihn noch mit jenem schon halb vergessenen Leben in Chasm City verbunden hatte.

»Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Captain«, sagte er. »Aber ich nehme das allmählich persönlich.«

»Das tue ich schon länger«, sagte der leere Raumanzug.

 

Im Innern der Sehnsucht nach Unendlichkeit tobten die Kämpfe weiter. Doch langsam wendete sich das Glück. Die adventistischen Piraten gerieten ins Hintertreffen. Draußen hatten sich die letzten Verbände der Kathedralengarde ins Innere des Schiffes vorgearbeitet oder wurden von den automatischen Rumpfgeschützen abgeschossen. Die Schäden waren beträchtlich: Neue Risse und Krater verunstalteten die ohnehin schon zerklüftete Rumpflandschaft. Viele der winzigen Schiffe hatten den Rumpf mit Widerhaken, Epoxidpolstern, Raketengreifern und Bohrgeräten attackiert und sich darin festgekrallt wie künstliche Zecken im Fleisch einer Riesenbestie. Aber auch zerschossene Wracks steckten in den Ritzen und Falten der Sehnsucht nach Unendlichkeit fest. Wolken von Luft und Flüssigkeit entwichen ins All. Einige der Angreifer waren zerrissen worden, bevor sie dem Lichtschiff zu nahe kamen, nun folgten ihre heißen Trümmer dem Koloss auf seinem Orbit um Hela. Weitere Verstärkungstruppen waren nicht gestartet: Da schon die erste Angriffswelle überwältigend sein sollte, hatte man bis auf eine Hand voll Einheiten die gesamte Kathedralengarde dafür mobilisiert.

Die wenigen Schiffe, die immer noch Enterversuche unternahmen, mussten inzwischen gemerkt haben, dass es um ihre Chancen nicht zum Besten stand. Der Widerstand war unerwartet stark: Zum ersten Mal hatte eine Ultra-Gruppe ihre Verteidigungskraft heruntergespielt. Aber die Soldaten der Kathedralengarde waren dem Adventistenorden treu ergeben. Ihr Blut war gesättigt mit Quaiches Lehren, ein Rückzug war für sie im wahren Sinne des Wortes undenkbar. Sie brauchten den Zweck ihrer Mission nicht zu kennen, es genügte, dass sie für den Dekan von größter Bedeutung war.

Sie waren so sehr damit beschäftigt, einen sicheren Weg zum Rumpf zu finden, dass ihnen nicht auffiel, wie sich an einer Seite der Sehnsucht nach Unendlichkeit inmitten der komplexen Transformationen des Captains ein goldgelber Spalt auftat. Eine Tür ins All hatte sich geöffnet, scheinbar winzig, aber in Wirklichkeit nur deshalb, weil das Schiff selbst so ungeheuer groß war.

In der Öffnung erschien ein Objekt, das sich glatt und fließend wie eine Maschine bewegte. Es sah nicht aus wie ein Raumschiff, nicht einmal wie eins der plumpen Shuttles für Flüge von Schiff zu Schiff. Es ähnelte eher einer abstrakten Skulptur: einer surrealen Konstruktion aus bronzegrünen Platten mit geschwungenen Rändern, ohne Fenster, ohne Fugen, wie aus Seife oder Marmor geformt. Das ganze Ding steckte in einem schwarzen Gehäuse, einem geodätischen Gerüst mit Andockluken, Korrekturdüsen und Navigations- und Zieleinrichtungen.

Es war ein Weltraumgeschütz der Höllenklasse. Die Sehnsucht hatte ursprünglich vierzig von diesen Waffensystemen an Bord gehabt; nun war nur noch dieses eine übrig. Die wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse, denen es seine Entstehung verdankte, lagen im Vergleich zu dem Stand der Forschung, auf dem die neuesten Errungenschaften im Arsenal des Lichtschiffes, die Blasenminen oder die hypometrischen Geschütze, entstanden waren, höchstwahrscheinlich weit zurück. Mit letzter Sicherheit würde das niemand je erfahren. Nur eines stand fest: Die neuen Waffen waren Präzisionsinstrumente, rohe Gewalt war ihre Sache nicht, und deshalb war das Weltraumgeschütz nach wie vor nicht überflüssig geworden.

Es passierte die Öffnung. Die Korrekturdüsen am Gehäuse flammten bläulich auf. Der harte grelle Schein fiel auf die Sehnsucht nach Unendlichkeit und auf die wenigen schwarzen Schiffe der Kathedralengarde, die noch übrig waren.

Niemand bemerkte es.

Das Weltraumgeschütz drehte sich um die eigene Achse, das Gerüst richtete sich auf Haldoras gewaltiges Antlitz aus. Dann beschleunigte es und entfernte sich von der Sehnsucht nach Unendlichkeit, vom Kampfgeschehen und von Helas zerkratztem Gesicht.

 

Vasko und Khouri betraten das Turmzimmer mit den vielen Spiegeln. Vasko sah sich um. Der Raum sah mehr oder weniger so aus, wie sie ihn verlassen hatten: Der Dekan saß immer noch in der gleichen Ecke in seinem Krankenstuhl. Rachmika wartete an dem Tisch in der Mitte vor einem hübschen Teeservice. Vasko beobachtete sie aufmerksam und suchte zu erkennen, wie viel von ihren Erinnerungen sich inzwischen wieder eingestellt hatte. Selbst wenn sie nicht alles abrufen konnte, das Gesicht ihrer Mutter musste irgendeine Reaktion auslösen, dachte er. Manche Dinge durchstießen doch alle Erinnerungsschichten.

Falls Rachmika irgendwie Wirkung zeigte, so sah er es nicht. Sie neigte nur den Kopf und begrüßte die beiden wie beliebige Besucher.

»Sie sind nur zu zweit?«, fragte Dekan Quaiche.

»Wir sind die Vorhut«, sagte Vasko. »Wir wollten uns die Unterbringungsmöglichkeiten ansehen, bevor wir Dutzende von Leuten herunterschickten.«

»Ich sagte Ihnen doch, es stehen genügend Zimmer zur Verfügung«, sagte Quaiche. »Sie können so viele Delegierte mitbringen, wie Sie wollen.«

Rachmika meldete sich zu Wort. »Sie sind nicht verrückt, Dekan. Sie wissen doch, was in ein paar Stunden geschehen wird.«

»Sie machen sich doch nicht etwa Sorgen wegen der Überquerung?«, fragte Quaiche die Ultras, als wäre schon die Vorstellung absurd.

»Ich würde sagen, wir möchten sie lieber aus einiger Entfernung beobachten«, gab Vasko zurück. »Dagegen ist doch nichts einzuwenden? In unserer Vereinbarung stand nicht ausdrücklich, dass wir uns auf der Morwenna einquartieren müssten. Wenn wir auf eine größere Abordnung verzichten, ist das doch nur zu Ihrem Vorteil.«

»Ich bin dennoch enttäuscht«, sagte Quaiche. »Ich hatte gehofft, Sie würden das Erlebnis mit mir teilen. Von ferne ist das Schauspiel sicher lange nicht so eindrucksvoll.«

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Vasko mit einem Nicken. »Und deshalb werden wir Sie alleine lassen, damit Sie es in Ruhe genießen können.« Er sah Khouri an und sagte mit besonderer Betonung: »Wir möchten die heilige Handlung nicht stören.«

»Von einer Störung kann nicht die Rede sein«, versicherte ihm der Dekan. »Aber wenn dies Ihr Wunsch ist… wer bin ich, Sie daran zu hindern? Bis zur Überquerung dauert es allerdings noch zwölf Stunden. Kein Grund, nervös zu werden.«

»Sind Sie denn nervös?«, fragte Khouri.

»Keineswegs«, antwortete Quaiche. »Diese Brücke wurde nicht einfach zweckfrei in die Landschaft gestellt. Daran habe ich immer geglaubt.«

»Auf dem Grund der Spalte liegen die Trümmer einer anderen Kathedrale«, sagte Vasko. »Gibt Ihnen das nicht zu denken?«

»Ich entnehme daraus nur, dass der Dekan jener Kathedrale nicht fest genug im Glauben war«, sagte Quaiche.

Vaskos Kommunikator schlug an. Er hielt sich das Armband ans Ohr und lauschte. Dann runzelte er die Stirn, beugte sich zu Khouri und flüsterte ihr etwas zu.

»Was ist passiert?«, fragte Quaiche.

»Es gibt Ärger auf dem Schiff«, sagte Vasko. »Mir ist nicht ganz klar, in welcher Beziehung, aber es hat offenbar mit Ihren Delegierten zu tun.«

»Meine Delegierten? Warum sollten sie Ärger machen?«

»Es scheint, als wollten sie das Schiff erobern«, sagte Vasko. »Sie wissen nicht zufällig darüber Bescheid?«

»Nun ja, wenn Sie es schon erwähnen…« – Quaiche produzierte eine miserable Kopie eines Lächelns – »vielleicht hatte ich eine schwache Ahnung.«

Eine der Türen zum Turmzimmer ging auf. Sechs rot uniformierte Adventisten marschierten herein. Sie hielten Waffen in den Händen und machten den Eindruck, als könnten sie auch damit umgehen.

»Ich bedauere, dass es so weit kommen musste«, sagte Quaiche. Die Gardisten bedeuteten Vasko und Khouri, sich Rachmika gegenüber an den Tisch zu setzen. »Aber ich brauche Ihr Schiff und – seien wir ehrlich – die Chance, dass Sie es mir freiwillig überlassen würden, war nie sehr groß.«

»Aber wir hatten eine Vereinbarung«, sagte Vasko. Einer der Gardisten stieß ihn mit seiner Waffe gegen die Schulter. »Wir haben Ihnen Schutz angeboten.«

»Die Schwierigkeit ist nur, dass es mir gar nicht darum ging, beschützt zu werden«, sagte Quaiche. Der blanke Messingrand seines Lidspreizers blitzte. »Mir ging es um Ihre Triebwerke.«

Offenbarung
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