Fünfzig
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl zum Turmzimmer hinauf. Die Sonne schien durch die Fenster und warf bunte Flecken auf ihre Gesichter.
Scorpio griff in die Tasche seines Raumanzugs. »Das hat mir Remontoire gegeben«, sagte er.
Rachmika nahm das Muschelstück und begutachtete es mit dem kritischen Blick eines Menschen, der lange zwischen Fossilien und Knochen gelebt hatte und wusste, dass der kleinste Kratzer Bände von Informationen enthielt – wahren und falschen.
»Ich kann damit nichts anfangen«, sagte sie.
Scorpio berichtete, was er von Remontoire erfahren hatte, und verschwieg auch nicht, was der Synthetiker an Vermutungen und Spekulationen geäußert hatte.
»Wir sind nicht allein«, sagte er. »Da draußen ist noch jemand. Jemand, für den wir nicht einmal einen Namen haben. Von dem wir nur durch die Trümmer wissen, die er zurücklässt.«
»Das hier hat er auf Ararat zurückgelassen?«
»Und im Orbit um den Planeten«, erwiderte Scorpio. »Und bestimmt auch anderswo. Wer immer es ist, er muss schon sehr lange da draußen sein. Er verhält sich unglaublich geschickt, Aura.« Er verwendete bewusst ihren richtigen Namen. »Wie hätte er sonst so lange neben den Unterdrückern bestehen können?«
»Ich verstehe nicht, was wir mit diesen Aliens zu tun haben.«
»Vielleicht gar nichts«, sagte Scorpio. »Oder sehr viel. Es hängt davon ab, was mit den Flitzern geschehen ist. Und hier, denke ich, kommst du ins Spiel.«
»Was mit den Flitzern geschehen ist, weiß doch jeder«, sagte sie tonlos.
»Nämlich?«
»Sie wurden von den Unterdrückern ausgerottet.«
Er beobachtete das Spiel der Farben auf ihrem Gesicht. Sie stand da wie eine ominöse Lichtgestalt, ein Racheengel in einer illuminierten Ketzerbibel. »Und was glaubst du?«
»Ich glaube nicht, dass die Unterdrücker etwas mit der Ausrottung der Flitzer zu tun hatten. Das war schon immer meine Meinung: jedenfalls seit ich anfing, mich damit zu beschäftigen. Für mich sah es nicht nach einer Unterdrücker-Säuberung aus. Dafür war noch zu viel übrig. Versteh mich nicht falsch. Man hatte gründlich gearbeitet, aber nicht gründlich genug.« Sie hielt inne und senkte verlegen den Kopf. »Um nichts anderes ging es in dem Buch, an dem ich arbeitete, solange ich im Ödland war. Ich wollte eine Theorie entwickeln und trug Daten zusammen, um meine Hypothese zu untermauern.«
»Niemand hätte auf dich gehört«, sagte er. »Aber wenn es dich tröstet, ich glaube, du hast Recht. Die Frage ist nur: Was hatten die Schatten mit alledem zu tun?«
»Ich weiß es nicht.«
»Als wir hierher kamen, dachten wir, es sei alles ganz einfach. Die Indizien ließen nur einen Schluss zu: Die Flitzer waren von den Unterdrückern ausgelöscht worden.«
»Das hat mir auch der Eherne Panzer erzählt«, sagte Rachmika. »Die Flitzer bauten den Mechanismus, um die Signale der Schatten empfangen zu können. Aber vor dem letzten Schritt schreckten sie zurück: Sie ließen nicht zu, dass die Schatten in unser Universum kamen, um ihnen zu helfen.«
»Aber wir haben jetzt die Chance, diesen Fehler nicht zu wiederholen«, sagte Scorpio.
»Richtig«, sagte Rachmika so zögerlich, als wittere sie eine Falle. »Du denkst doch auch, dass wir es tun sollten?«
»Ich denke, es war der größte Fehler der Flitzer, überhaupt Kontakt zu den Schatten aufzunehmen«, sagte Scorpio.
Rachmika schüttelte den Kopf. »Auch die Schatten haben die Flitzer nicht ausgerottet. Das ergäbe ebenso wenig einen Sinn. Wir wissen, dass sie mindestens so mächtig sind wie die Unterdrücker. Sie hätten hier keine Spuren hinterlassen. Und warum sollten sie immer noch um ihre Chance betteln, wenn sie den Übergang bereits vollzogen hätten?«
»Genau«, sagte Scorpio.
»Genau?«, wiederholte Rachmika.
»Nicht die Unterdrücker haben die Flitzer vernichtet«, sagte er. »Und auch nicht die Schatten. Sondern wer – oder was – dieses Muschelmaterial angefertigt hat.«
Sie gab ihm die Scherbe zurück, als wäre sie irgendwie beschmutzt. »Hast du dafür irgendeinen Beweis, Scorp?«
»Nicht den geringsten. Aber wenn wir auf Hela ernsthaft zu graben anfingen, würde es mich nicht überraschen, wenn wir früher oder später auch hier solche Scherben zutage förderten. Eine einzige würde genügen. Natürlich lässt sich meine Theorie auch noch anders auf die Probe stellen.«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber was haben die Flitzer denn getan, um so restlos ausgerottet zu werden?«
»Sie haben die falsche Entscheidung getroffen«, sagte Scorpio.
»Inwiefern?«
»Sie haben mit den Schatten verhandelt. Das war der Test, Aura, darauf hatten die Muschelmacher gewartet. Das Einzige, was die Flitzer nicht tun durften, war, den Schatten die Tür zu öffnen. Man kann einen Feind nicht schlagen, indem man sich mit einem anderen, noch schlimmeren verbündet. Wir sollten uns hüten, den gleichen Fehler zu begehen.«
»Wenn das so ist, dann scheinen diese Muschelmacher nicht sehr viel besser zu sein als die Schatten – oder die Unterdrücker.«
»Ich sage ja nicht, dass wir mit ihnen ins Bett steigen sollen. Wir sollten sie nur nicht außer Acht lassen. Sie sind hier, Aura, in diesem System. Wir können sie vielleicht nicht sehen, aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht jede unserer Bewegungen beobachten.«
Eine Weile blieb es still. Der Fahrstuhl fuhr weiter. Endlich sagte Rachmika. »Du bist also gar nicht wegen des Ehernen Panzers gekommen?«
»Ich war für alles offen«, antwortete Scorpio.
»Und jetzt?«
»Jetzt hast du mir geholfen, eine Entscheidung zu treffen. Das Ding bleibt auf der Morwenna.«
»Dann hatte Dekan Quaiche also doch Recht«, sagte Rachmika. »Er hat immer behauptet, der Panzer stecke voller Dämonen.«
Der Fahrstuhl wurde langsamer. Scorpio verstaute die Muschelscherbe wieder in seinem Gürtel und zückte Clavains Messer. »Du wartest hier«, sagte er. »Wenn ich nicht in zwei Minuten zurück bin, fährst du mit dem Fahrstuhl zur Oberfläche hinunter. Und verschwindest aus der Kathedrale, so schnell du kannst.«
Sie standen zu viert auf dem Eis: Rachmika und ihre Mutter, Vasko und das Schwein. Nachdem sie die Morwenna verlassen hatten, waren sie unter dem Koloss mitgegangen, bis er den Brückenstumpf erreichte, der aus dem Klippenrand ragte. Jetzt standen sie gut einen Kilometer vor der Klippe auf jenem letzten Teilstück.
Es war sehr unwahrscheinlich, dass sich jetzt noch jemand in der Kathedrale aufhielt, aber es war Scorpio nicht gelungen, sich Gewissheit zu verschaffen. Die Haupträume hatte er abgesucht, aber es gab sicherlich Dutzende von belüfteten Verstecken, die er nie gefunden hätte. Ich habe es versucht, dachte er, und das muss genügen. In seinem angeschlagenen Zustand war selbst das mehr gewesen, als man eigentlich von ihm verlangen konnte.
Sonst hatte sich die Morwenna nicht sehr verändert. Die unteren Stockwerke waren luftleer. Das hatte er festgestellt, als er an dem Kabel emporkletterte, mit dem sich der Techniker aus dem Maschinenraum abgeseilt hatte. Aber die großen Maschinen konnten offenbar auch im Vakuum arbeiten: Die Kathedrale war ohne Stocken weitermarschiert, und auch die Stromerzeugung funktionierte noch. Oben im Turmzimmer des Glockenturms brannte weiterhin Licht. Aber weder dort noch hinter den anderen hell erleuchteten Fenstern des mobilen Bauwerks regte sich etwas.
»Wie weit noch?«, fragte Scorpio.
»Zweihundert Meter bis zur Kante«, sagte Vasko. »Schätzungsweise.«
»Fünfzehn Minuten«, sagte Rachmika. »Dann hängt die vordere Hälfte im Nichts – falls der Brückenrest so lange standhält.«
»Ich denke schon«, sagte Scorpio. »Ich glaube, auch die ganze Brücke hätte gehalten.«
»Die Überfahrt wäre sehenswert gewesen«, sagte Khouri.
»Wir werden wohl nie erfahren, wer die Brücke gebaut hat«, sagte Vasko. Neben ihm wurde einer der riesigen Füße von der Maschinerie des Strebepfeilers in die Luft gehoben, nach vorne bewegt und lautlos wieder auf das Eis gesetzt.
Scorpio dachte an die Holobotschaft, die sein Anzug empfangen hatte. »Eines der Rätsel des Lebens«, sagte er. »Die Flitzer waren es jedenfalls nicht. So viel ist sicher.«
»Bestimmt nicht«, sagte Rachmika. »Nicht in einer Million Jahren. Sie hätten niemals ein solches Kunstwerk zustande gebracht.«
»Noch ist es nicht zu spät«, sagte Vasko.
Scorpio wandte sich ihm zu. Aus dem Helmvisier des Menschen sah ihm sein verzerrtes Spiegelbild entgegen. »Nicht zu spät wofür, mein Sohn?«
»Um noch einmal zurückzugehen. Fünfzehn Minuten. Dreizehn oder vierzehn, um auf der sicheren Seite zu sein. Ich könnte das Turmzimmer noch erreichen.«
»Wie wollen Sie diesen Panzer die Treppe herunterzerren?«, fragte Khouri. »Er wird nicht in den Fahrstuhl passen.«
»Ich könnte das Fenster des Turmzimmers einschlagen. Zu zweit müssten wir ihn hinauskippen können.«
»Ich denke, Sie wollen ihn retten?«, sagte Scorpio.
»Ein Sturz vom Turmzimmer auf das Eis wäre längst nicht so schlimm wie von der Brücke auf den Boden der Schlucht«, sagte Rachmika. »Er würde es wahrscheinlich überstehen, wenn auch nicht ganz ohne Schäden.«
»Zwölf Minuten, wenn man nichts riskieren will«, sagte Khouri.
»Ich könnte es noch schaffen«, sagte Vasko. »Und was ist mit Ihnen, Scorp? Angenommen, es müsste sein?«
»Wahrscheinlich, aber dann brauchte ich mir für den Rest meines Lebens nichts mehr vorzunehmen.«
»Das war wohl ein Nein.«
»Wir haben eine Entscheidung getroffen, Vasko. Und wo ich herkomme, hält man an seinen Entscheidungen fest.«
Vasko legte den Kopf in den Nacken und schaute zur Turmspitze der Morwenna hinauf. Scorpio tat es ihm nach, obwohl ihm dabei schwindlig wurde. Vor den Fixsternen an Helas Himmel war die Bewegung der Kathedrale kaum wahrzunehmen. Aber nicht die Fixsterne waren das Problem, sondern die zwanzig hellen neuen Sterne, die sich in unregelmäßigen Abständen um den Planeten zogen. Sie konnten nicht ewig dort oben bleiben, dachte Scorpio.
Der Captain hatte richtig gehandelt, als er seine Schläfer abwarf, um sie vor einem ungewissen Schicksal in der Haltebucht zu bewahren, auch wenn er damit sozusagen Selbstmord begangen hatte. Aber früher oder später musste sich irgendjemand dieser achtzehntausend schlafenden Seelen annehmen.
Aber nicht ich, dachte Scorpio. Das sollte jemand anderer tun. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich es so weit schaffen würde«, flüsterte er.
»Scorp?«, fragte Khouri.
»Nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Ich frage mich nur, was, zum Teufel, ein fünfzig Jahre altes Schwein dazu treibt, sich so weit von seiner Heimat zu entfernen.«
»Du wolltest etwas bewirken«, sagte Khouri. »Und das ist dir gelungen. Aber das wussten wir ja schon immer.«
»Sie hat Recht«, sagte Rachmika. »Ich danke dir, Scorpio. Du hast viel mehr getan, als du musstest. Das werde ich dir nie vergessen.«
Und ich werde nie die Schreie meines Freundes vergessen, als ich ihn mit diesem Skalpell zerfleischte, dachte Scorpio.
Aber er hatte keine Wahl gehabt. Clavain hatte ihm keinen Vorwurf gemacht; er hatte ganz im Gegenteil alles getan, um ihm Schuldgefühle zu ersparen. Der Mann hatte einem grausamen Tod ins Auge gesehen, doch sein einziges Anliegen war gewesen, die Gefühle seines Freundes zu schonen. Warum konnte er, Scorpio, Clavains Andenken nicht dadurch ehren, dass er seinen Hass überwand? Er war eben zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Es war nicht die Schuld des Hyperschweins. Es war auch nicht Clavains Schuld. Und ganz sicherlich war es nicht Auras Schuld gewesen.
»Scorp?«, fragte Rachmika.
»Ich bin froh, dass du in Sicherheit bist«, sagte er.
Khouri legte ihm den Arm um die Schultern. »Ich bin froh, dass auch du es geschafft hast, Scorp. Ich danke dir, dass du gekommen bist. Wir alle sind dir sehr dankbar.«
»Ein Schwein muss eben tun…«, sagte er.
Dann sahen sie schweigend zu, wie der Abstand zwischen der Morwenna und dem Rand der Brücke immer kleiner wurde. Mehr als hundert Jahre lang war die Kathedrale unermüdlich in Bewegung geblieben, kein einziges Mal hatte sie im endlosen Wettlauf mit Haldora den Anschluss verloren. Ein Drittel Meter pro Sekunde in jeder Sekunde eines Tages, an jedem Tag eines Jahres. Und jetzt fuhr sie mit der gleichen Unbeirrbarkeit in ihr Verderben.
Rachmika brach den Bann. »Scorp«, sagte sie. »Selbst wenn wir den Ehernen Panzer zerstören, was ist mit der Anlage im Innern von Haldora? Sie ist noch da. Über sie können die Schatten nach wie vor herübergelangen.«
»Wenn wir noch ein Weltraumgeschütz hätten…«, sagte Khouri.
»Ein frommer Wunsch«, sagte Scorpio und stampfte mit den Füßen. Ihm war kalt: Mit dem Anzug oder mit ihm selbst war etwas nicht in Ordnung. »Hör zu, wir finden eine Möglichkeit, sie zu zerstören oder zumindest unbrauchbar zu machen. Wenn nicht, werden sie uns dabei helfen.«
»Sie?«, fragte sie.
»Wir sind ihnen noch nicht begegnet. Aber sie sind da draußen, verlass dich darauf. Sie beobachten uns geduldig, und sie lassen sich nichts entgehen.«
»Und wenn wir uns geirrt hätten?«, fragte Khouri. »Wenn sie nur sehen wollen, ob wir klug genug sind, den Kontakt zu den Schatten zu suchen? Wenn das die richtige Strategie gewesen wäre?«
»Dann hätten wir uns einen neuen Feind auf die Liste gesetzt«, sagte Scorpio. »He, aber selbst wenn…«
»Ja?«
»Dann geht auch davon die Welt nicht unter. Glaub mir: Ich sammle Feinde, seit ich meinen ersten Atemzug getan habe.«
Wieder sprach lange niemand ein Wort. Die Morwenna knirschte weiter ihrem Untergang entgegen. Die beiden Feuerbahnen aus den Triebwerken der Sehnsucht nach Unendlichkeit standen immer noch am Himmel wie der erste, zaghafte Entwurf für ein neues Sternbild.
»Sie finden also«, meinte Vasko, »wir sollten einfach tun, was wir für richtig halten, auch wenn es ihnen nicht passt?«
»So ungefähr. Wir könnten natürlich auch das Richtige getan haben. Das hängt allein davon ab, was mit den Flitzern tatsächlich geschehen ist.«
»Sie haben jedenfalls jemanden sehr verärgert«, sagte Khouri.
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Scorpio lachend. »Die Spezies gefällt mir. Wir hätten uns glänzend verstanden.«
Er konnte es nicht lassen. Da stehe ich nun, dachte er: schwer verletzt, wahrscheinlich mehr als halb tot. Ich habe an einem einzigen Tag nicht nur mein Schiff, sondern auch einige von meinen besten Freunden verloren. Ich habe mich soeben durch eine Kathedrale gemordet und jeden getötet, der die Dreistigkeit besaß, sich mir in den Weg zu stellen. Ich werde gleich erleben, wie die – vielleicht – wichtigste Entdeckung in der Geschichte der Menschheit zerstört wird, das Einzige, was uns vor den Unterdrückern schützen könnte. Und ich stehe da und lache, als hätte ich lediglich eine tolle Nacht vor mir.
Typisch Schwein, schloss er. Kein Augenmaß. Manchmal, gelegentlich, war dies im ganzen Universum das Einzige, wofür er dankbar war.
Zu viel Augenmaß konnte einem schlecht bekommen.
»Scorp?«, sagte Khouri. »Stört es dich, wenn ich dir eine Frage stelle, bevor wir wieder getrennt werden?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte er. »Du kannst es ja versuchen.«
»Warum hast du damals das Shuttle der Wilden Pallas verschont? Was hat dich gehindert, es abzuschießen, als du die Unterdrückermaschinen gesehen hast? Wieso hast du diese Menschen gerettet?«
Wusste sie etwa Bescheid? Er hatte viel versäumt in den neun Jahren, die er länger als sie im Kälteschlaf verbracht hatte. Schon möglich, dass sie seinem Verdacht nachgegangen war und ihn bestätigt gefunden hatte.
Er erinnerte sich an eine Bemerkung von Antoinette Bax, kurz bevor sie sich trennten. Sie hatte überlegt, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Das Universum sei groß, hatte er geantwortet: groß genug, um Platz für ein paar glückliche Zufälle zu haben. Für manche Leute vielleicht, hatte Antoinette zurückgegeben, aber nicht für Leute wie sie selbst und Scorpio. Und sie hatte Recht gehabt. Sie würden sich niemals wiedersehen. Scorpio hatte nur gelächelt: Er hatte sie genau verstanden. Auch er glaubte nicht an Wunder. Aber wo zog man die Grenze? Inzwischen war er fest davon überzeugt, dass sie auch Unrecht gehabt hatte. Für jemanden wie Scorpio und Antoinette gab es keine glücklichen Zufälle. Aber für andere? Manchmal passierten solche Dinge tatsächlich.
Er wusste es. Er hatte die Namen aller Flüchtlinge in dem Shuttle gesehen, das sie im Yellowstone-System geborgen hatten: Und ein Name war ihm förmlich ins Auge gesprungen. Auch der Mann selbst war ihm aufgefallen, als er beim Entladen des Shuttles zugesehen hatte. Er erinnerte sich an seine ruhige Würde, an das Bedürfnis, jemandem seine Empfindungen mitzuteilen, ohne die Last auf ihn abzuladen. Der Flüchtling war – wie alle anderen Passagiere – seither wohl nicht wieder aus dem Kälteschlaf geholt worden.
Er musste unter den achtzehntausend Schläfern sein, die um Hela kreisten.
»Wir müssen irgendwie an diese Leute herankommen«, erklärte er Khouri.
»Ich dachte, wir sprechen über…«
»Richtig«, sagte er und beließ es dabei. Sie hatte schon so lange gewartet; mochte sie sich noch etwas länger gedulden.
Wieder war es eine Weile still. Die Kathedrale sah aus, als könnte sie weitere tausend Jahre überdauern. Doch nach Scorpios Schätzung blieben ihr allenfalls noch fünf Minuten.
»Ich könnte es immer noch schaffen«, sagte Vasko. »Wenn ich… wenn wir laufen würden, Scorp…« Er verstummte.
»Gehen wir«, sagte Scorpio.
Sie sahen erst ihn und dann die Kathedrale an. Die Frontpartie war noch gut siebzig Meter vom Ende der Brücke entfernt; in drei bis vier Minuten würde sie ins Leere fahren. Und danach? Dauerte es mindestens noch eine Minute, bis die gewaltige Masse der Morwenna das Übergewicht bekäme.
»Wohin, Scorp?«, fragte Khouri.
»Mir reicht es«, sagte er entschieden. »Es war ein langer Tag, und wir haben noch einen langen Fußmarsch vor uns. Je früher wir uns auf den Weg machen, desto besser.«
»Aber die Kathedrale…«, sagte Rachmika.
»Der Absturz wird sicher sehr eindrucksvoll. Ihr könnt mir ja davon erzählen.«
Er drehte sich um und ging über den Brückenstumpf zurück. Die Sonne kam von hinten, und er warf einen langen Schatten. Es sah sehr komisch aus, wie dieser Schatten vor ihm her watschelte und wie eine schlecht geführte Marionette von einer Seite zur anderen schwankte. Er fror jetzt noch mehr: Es war eine besondere Kälte, sie war ihm so vertraut, als trüge sie seinen Namen. Vielleicht ist es so weit, dachte er. Vielleicht war dies das Ende, vor dem man ihn immer gewarnt hatte. Er war nur ein Schwein; er durfte nicht zu viel erwarten. Er hatte in dieser Welt schon mehr Spuren hinterlassen als mancher andere.
Er ging schneller. Bald ragten neben seinem Schatten drei weitere auf. Gesprochen wurde nicht. Sie gingen nur miteinander. Jeder wusste, wie schwierig die Reise war, die sie vor sich hatten. Einige Minuten später erbebte der Boden unter ihren Füßen – als hätte eine mächtige Faust wütend auf Hela eingeschlagen –, aber keiner stockte, keiner blieb stehen. Sie gingen einfach weiter. Und als der kleinste Schatten schließlich stolperte, eilten die anderen auf ihn zu und fingen ihn auf.
Was dann geschah, wusste er nicht mehr.