Ararat

2675

 

 

Khouri protestierte, als man sie von der Kapsel auf die bereitstehende Krankenstation brachte. »Ich brauche keine Untersuchung«, sagte sie. »Ich brauche nur ein Boot, ein paar Waffen, einen Inkubator und jemanden, der gut mit einem Messer umgehen kann.«

»Oh, mit Messern kenne ich mich aus«, sagte Clavain.

»Bitte nehmen Sie mich ernst. Zu Ilia hatten Sie doch auch Vertrauen?«

»Wir hatten eine Vereinbarung. Mit Vertrauen hatte das auf beiden Seiten nicht viel zu tun.«

»Aber Sie hatten Respekt vor ihrem Urteil?«

»Wohl schon.«

»Nun, sie hatte Vertrauen zu mir. Reicht Ihnen das nicht? Ich stelle keine überzogenen Forderungen, Clavain. Ich verlange nicht zu viel.«

»Wir werden uns mit Ihrem Anliegen befassen, wenn es so weit ist«, sagte er, »aber zuerst müssen wir Sie untersuchen.«

»Dafür ist keine Zeit«, sagte sie, aber man hörte, dass sie sich bereits geschlagen gab.

Auf der Krankenstation wartete Dr. Valensin mit zwei greisen Medizin-Servomaten aus dem zentralen Maschinenpark. Die Roboter, in einem schmutzigen Anstaltsgrün gehalten, hatten Schwanenhälse und standen auf zischenden Luftkissensockeln. Die schlanken Körper erinnerten an Schachfiguren, aus denen viele Spezialarme ragten. Der Arzt behielt die Maschinen ständig im Auge, während sie ihre Arbeit taten: Ohne Aufsicht hatten die altersschwachen Schaltkreise die unerfreuliche Angewohnheit, unversehens auf Autopsiemodus umzuspringen.

»Ich kann Roboter nicht ausstehen«, sagte Khouri und beobachtete die Servomaten misstrauisch.

»Darin sind wir uns immerhin einig«, antwortete Clavain, dann wandte er sich an Scorpio und senkte die Stimme. »Scorp, sobald uns Valensins Bericht vorliegt, müssen wir mit den anderen Mitgliedern des Ältestenrats über das weitere Vorgehen sprechen. Ich würde sagen, sie braucht etwas Ruhe, bevor sie irgendwelche Reisen unternimmt. Aber vorerst möchte ich die ganze Sache möglichst geheim halten.«

»Glaubst du, sie sagt die Wahrheit?«, fragte Scorpio. »Das ganze wirre Zeug über Skade und ihr Baby?«

Clavain betrachtete die Frau. Valensin half ihr gerade, auf die Untersuchungsliege zu steigen. »Ich habe das hässliche Gefühl, dass dem so sein könnte.«

 

Nach der Untersuchung fiel Khouri in einen tiefen und offenbar traumlosen Schlaf. Nur einmal am frühen Morgen erwachte sie, rief einen von Valensins Helfern und verlangte abermals die nötige Ausrüstung zur Rettung ihrer Tochter. Danach verabreichte man ihr noch einmal ein Beruhigungsmittel, und sie schlief weitere vier oder fünf Stunden. Hin und wieder schlug sie wild um sich und stieß abgerissene Sätze hervor. Offenbar wollte sie dringend etwas sagen, aber der Zusammenhang war nie ganz herzustellen. Erst am späten Vormittag war sie völlig wach und bei klarem Verstand.

Als Dr. Valensin erklärte, Khouri dürfe nun Besuch empfangen, hatte sich der jüngste Sturm ausgetobt. Über der Anlage war der Himmel von einem glasigen Blau, da und dort unterbrochen von federzarten Zirruswolken. Draußen auf dem Meer schimmerte die Sehnsucht nach Unendlichkeit in verschiedenen Grautönen, als wäre sie frisch aus einem schwarzen Felsen herausgehauen worden.

Sie setzten sich zu beiden Seiten an ihr Bett – Clavain nahm einen Stuhl, Scorpio holte sich einen zweiten, drehte ihn aber um, sodass er die Arme auf die Lehne legen konnte.

»Ich habe Valensins Bericht gelesen«, begann Scorpio. »Wir hatten alle gehofft, er würde Sie für geistesgestört erklären. Leider ist dem offenbar nicht so.« Er rieb sich den Rüssel. »Und das macht mir wirklich Kopfschmerzen.«

Khouri setzte sich im Bett auf. »Ihre Kopfschmerzen sind bedauerlich, aber können wir die Formalitäten nicht vielleicht beiseite lassen und uns um die Rettung meiner Tochter kümmern?«

»Darüber reden wir, wenn Sie wieder auf den Beinen sind«, sagte Clavain.

»Warum nicht gleich?«

»Weil wir noch immer nicht genau wissen, was geschehen ist. Außerdem brauchen wir eine präzise taktische Analyse aller denkbaren Szenarien um Skade und Ihre Tochter. Würden Sie von einer Geiselnahme sprechen?«, fragte Clavain.

»Ja«, antwortete Khouri zögernd.

»Dann besteht für Aura keine unmittelbare Gefahr, solange Skade keine konkreten Forderungen schickt. Skade wird sich hüten, ihren einzigen Aktivposten zu gefährden. Sie mag eiskalt sein, aber sie ist nicht irrational.«

Scorpio beobachtete den alten Mann unauffällig. Clavain wirkte so wach und munter wie eh und je, obwohl er sich, soweit Scorpio wusste, seit der Rückkehr auf das Festland nicht mehr als zwei Stunden Schlaf gegönnt hatte. Scorpio hatte bereits bei anderen alten Menschenmännern erlebt, dass sie wenig Schlaf brauchten und sich wehrten, wenn Jüngere sie zum Ausruhen zwingen wollten. Sie hatten nicht unbedingt mehr Energie, aber die Grenze zwischen Schlafen und Wachen war bei ihnen nicht mehr klar gezogen. Scorpio versuchte sich vorzustellen, wie man sich fühlte, wenn Tag und Nacht nicht mehr geordnet aufeinander folgten und man stattdessen durch eine Kette von mehr oder weniger grauen Momenten glitt.

»Von welchen Zeiträumen reden wir?«, fragte Khouri. »Wollen Sie Stunden oder Tage warten, bevor Sie handeln?«

»Ich habe den Ältestenrat der Kolonie für heute Vormittag einberufen«, sagte Clavain. »Wenn es die Situation erfordert, könnte noch vor Sonnenuntergang eine Rettungsmission ausrücken.«

»Warum glauben Sie mir nicht einfach, dass wir sofort handeln müssen?«

Clavain kratzte sich den Bart. »Dazu müsste Ihre Geschichte etwas mehr Sinn ergeben.«

»Ich lüge nicht.« Sie deutete auf einen der Servomaten. »Der Doktor hat doch Entwarnung gegeben?«

Scorpio klopfte mit dem Krankenbericht in seiner Hand gegen die Stuhllehne und lächelte. »Er sagte, Sie litten nicht eindeutig unter Wahnvorstellungen, aber seine Untersuchung warf ebenso viele Fragen auf, wie sie beantwortete.«

»Sie reden von einem Baby«, sagte Clavain, bevor ihn Khouri unterbrechen konnte, »aber nach diesem Bericht haben Sie nie ein Kind geboren. Und es gibt auch keine Anzeichen für einen Kaiserschnitt.«

»Davon wäre auch nichts zu sehen. Der Eingriff wurde von Synthetikerärzten vorgenommen, und die nähen so sauber, dass keine Spuren zurückbleiben.« Sie sah erst den einen und dann den anderen an. Zorn und Angst sprachen aus ihren Zügen. »Wollen Sie sagen, Sie glauben mir nicht?«

Clavain schüttelte den Kopf. »Ich sage nur, wir können Ihre Geschichte nicht überprüfen. Laut Valensin ist der Uterus vergrößert, demnach könnten Sie bis vor kurzem schwanger gewesen sein. Die hormonellen Veränderungen in Ihrem Blut lassen ebenfalls darauf schließen. Aber Valensin sagt, dass es dafür auch andere Erklärungen geben könnte.«

»Auch die müssten meine Behauptung nicht widerlegen.«

»Aber wir brauchen etwas Handfesteres, bevor wir eine militärische Expedition ausrüsten«, sagte Clavain.

»Noch einmal: Warum vertrauen Sie mir nicht?«

»Weil wir uns allein schon auf die Geschichte von einem Baby keinen Reim machen können«, gab Clavain zurück. »Wie sind Sie überhaupt hierher gekommen, Ana? Sie hätten ein Raumschiff gebraucht, wo ist es? Sie können nicht in dieser Kapsel von Resurgam gekommen sein, dennoch haben wir nicht bemerkt, dass irgendein anderes Raumschiff unser System angeflogen hätte.«

»Und deshalb halten Sie mich für eine Lügnerin?«

»Wir sind nur misstrauisch«, sagte Scorpio. »Wir fragen uns, ob Sie wirklich sind, was Sie zu sein scheinen.«

»Die Schiffe sind da«, seufzte sie, als verderbe sie damit eine sorgfältig geplante Überraschung. »Alle. Sie konzentrieren sich auf den Raum unmittelbar um diesen Planeten. Remontoire, die Zodiakallicht, die beiden anderen Schiffe von Skades Sonderkommando – sie sind alle da oben, im Umkreis von einer AE um diesen Planeten. Sie befinden sich seit neun Wochen in Ihrem System. Sie haben mich hierher gebracht, Clavain.«

»Aber Schiffe lassen sich nicht so leicht verbergen«, wandte er ein. »Nicht ununterbrochen über so lange Zeit. Nicht, wenn man aktiv nach ihnen sucht.«

»Mittlerweile schon«, gab sie zurück. »Wir haben neue Verfahren, von denen Sie nichts ahnen. Wir haben – notgedrungen – vieles dazugelernt, seit Sie uns zum letzten Mal gesehen hatten. Manche Dinge sind unglaublich.«

Clavain warf Scorpio einen Blick zu. Das Schwein versuchte vergeblich zu erraten, was dem Alten durch den Sinn ging.

»Zum Beispiel?«, fragte Clavain.

»Neue Triebwerke«, sagte sie. »Tarnantriebe. Man sieht uns nicht. Niemand kann uns sehen. Die Abgase… lösen sich in nichts auf. Tarnschirme. Stabile Kraftfeldblasen. Kryo-arithmetische Aggregate im Kleinformat. Zuverlässige Trägheitskontrolle im großen Stil. Hypometrische Geschütze.« Sie erschauerte. »Die hypometrischen Geschütze sind mir wirklich unheimlich. Sie können einen das Fürchten lehren. Ich habe erlebt, was geschieht, wenn beim Abschuss etwas schief geht. Die sind wider die Natur.«

»Und das alles in gut zwanzig Jahren?«

»Wir hatten Hilfe.«

»Klingt so, als hätten Sie Gott ans Telefon bekommen und ihm Ihre Wunschliste diktiert.«

»Es war nicht Gott, das können Sie mir glauben. Ich muss es wissen. Ich habe die Liste diktiert.«

»Und mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit meiner Tochter«, sagte Khouri. »Sie kann uns vieles sagen, Clavain. Deshalb ist sie so wertvoll. Und deshalb wollte Skade sie haben.«

Scorpio schwirrte der Kopf: Jedes Mal, wenn sie eine Lage von Khouris Geschichte abgetragen hatten, kamen neue noch unbegreiflichere Schichten zum Vorschein.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie sich nicht wenigstens vom Orbit aus gemeldet haben«, sagte Clavain.

»Unter anderem, weil wir die Aufmerksamkeit nicht auf Ararat lenken wollten«, antwortete Khouri. »So lange es zu vermeiden war. Da oben tobt ein Krieg, verstehen Sie? Eine große Raumschlacht mit getarnten Gegnern. Jede Art von Signal ist ein Risiko. Außerdem wird die Kommunikation unentwegt blockiert und gestört.«

»Von Skades und Ihren Truppen?«

»So einfach ist die Sache nicht. Bis vor kurzem kämpfte Skade noch mit und nicht gegen uns. Selbst jetzt könnte man noch von einem unsicheren Waffenstillstand sprechen, wenn man von der persönlichen Auseinandersetzung zwischen Skade und mir absieht.«

»Gegen wen, zum Teufel, kämpfen Sie dann?«, fragte Clavain.

»Gegen die Unterdrücker«, sagte Khouri. »Die Wölfe, nennen Sie sie, wie Sie wollen.«

»Sie sind hier?«, fragte Scorpio. »In diesem System?«

»Tut mir Leid, wenn ich Ihnen damit die Parade verregne«, bemerkte Khouri.

»Tja«, sagte Clavain und sah sich um, »ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber mir haben Sie den Tag ziemlich verdorben.«

»Das war meine Absicht«, sagte Khouri.

Clavain rieb sich die Nase. »Noch etwas. Seit Sie hier sind, haben Sie mehrmals ein Wort erwähnt, das wie ›hella‹ klingt. Sie sagten sogar, wir müssten dorthin. Ich kann mit dem Namen nichts anfangen. Was hat es damit auf sich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich kann mich nicht einmal erinnern, ihn ausgesprochen zu haben.«

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